Israel und Palästina, Teil 3

Die Geschichte eines unheilvollen heiligen Landes – von 1995 bis heute.

Die Suche nach Frieden | Zusammenbruch | Konfrontation

(25 Minuten Lesezeit)

Teil 1 unseres Explainers zu Israel und Palästina
Teil 2 unseres Explainers zu Israel und Palästina

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Nach jahrzehntelangem Konflikt zeichnete sich ab 1993 ein Weg zum Frieden für Israelis und Palästinenser ab.
  • Die Oslo-Abkommen waren vage und bedingt beliebt, doch boten Potenzial. Sie führten zu den Camp-David-Verhandlungen 2000.
  • Dort sprachen beide Seiten konkret über eine Staatsgründung Palästinas und einen Frieden – doch eine Einigung kam nicht zustande.
  • Das führte unmittelbar in den Ausbruch der zweiten Intifada, einem äußerst gewaltsamen, fünfjährigen Aufstand der Palästinenser von 2000 bis 2005.
  • Die Intifada bedeutete das faktische Ende des Friedensprozesses. Israel wählte die Abkapselung: Es baute eine Mauer im Westjordanland und zog unilateral aus Gaza ab.
  • Nach einem Bürgerkrieg unter den Palästinensern übernahm die radikale Hamas 2007 die Macht in Gaza. Seitdem bekriegen sich Israel und Hamas regelmäßig.
  • Nach einem schweren Krieg 2014 schien (relative) Ruhe einzukehren; die Hamas wirkte kooperativer – doch der Terrorakt 2023 zeigte falsche Annahmen Israels.
  • Ironischerweise könnte der aktuelle Gewaltausbruch eine erneute Chance auf Frieden bieten.

Die Suche nach Frieden_

(11 Minuten Lesezeit)

Der lange Prolog

Israel und Palästina, Teil 1 (Oktober 2023)
Israel und Palästina, Teil 2 (Oktober 2023)

Als Israel 1948 die Staatsgründung vollzog und einen Verteidigungskrieg gegen sämtliche arabische Nachbarn gewann, hätte es wie das Ende des Konflikts in der Region Palästina aussehen können. Der jüdische Staat war Tatsache, die arabischen Staaten waren beeindruckend geschlagen und ein Großteil der palästinensischen Araber war aus dem Gebiet vertrieben. 

Und doch sollte es nur die Einführung in 75 Jahre weiterer Gewalt werden. Israel und seine Nachbarn führten noch mehrfach Kriege; auf einen spektakulären israelischen Sieg 1967 folgte Ernüchterung sechs Jahre später, als Ägypten und Syrien ein Überraschungsangriff gelang, welchen Israel nur mühsam zurückschlug. Erschöpft vom Kämpfen gingen Israel und Ägypten bis 1978 einen Friedensvertrag ein; 1994 folgte Jordanien.

Schwieriger bleib das Verhältnis mit den Vertriebenen. Die palästinensischen Araber gingen nicht in den Bevölkerungen der Nachbarstaaten auf, sondern entwickelten ein eigenes Nationalbewusstsein als Palästinenser. Unter dem Banner der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) begann eine Terrorwelle gegen Israel und Juden, welche die PLO als Widerstandskampf zur “Befreiung” eines (arabischen) Palästinas verstand. Sie begann allerdings auch Destabilisierungskampagnen gegen Jordanien und den Libanon, zwei Länder, aus welchen sie heraus operierte, und wurde aus beiden vertrieben; landete im Exil im fernen Tunesien.

Israel hatte im Sechstagekrieg 1967 sein Territorium auf das heutige Maß erweitert: Zum Staatsgebiet 1948 kamen das von Jordanien annektierte Westjordanland (samt Ostjerusalem), der von Ägypten besetzte Gazastreifen und die syrischen Golanhöhen hinzu. Während letztere annektiert wurden (und Ostjerusalem faktisch auch), blieben Westjordanland und Gazastreifen Besatzungsgebiet.

Hunderttausende Palästinenser in den Besatzungsgebieten lebten jahrzehntelang unter israelischem Militärrecht. Irgendwann übernahm eine zivile Verwaltung, doch die Rechte der Palästinenser blieben spärlich und die Eingriffsmöglichkeiten der israelischen Behörden teils willkürlich hoch. Die Wirtschaft beider Gebiete war desaströs; das Bevölkerungswachstum hoch. Israelische Siedlungen begannen ab den 1980ern, vermehrt in den besetzten Gebieten aufzutauchen.

Ein großer Gewaltausbruch ereignete sich 1987. Ausgelöst von einem relativ kleinen Vorfall gingen Tausende, dann Zehntausende und zuletzt Hunderttausende Palästinenser auf die Straßen. Friedliche Demonstrationen und gewalttätige Ausschreitungen gingen Hand in Hand; die israelischen Sicherheitskräfte reagierten kontrovers robust. Es handelte sich um die Erste Intifada, den “Aufstand”.

Die fünf Jahre währende Intifada erschöpfte Israel und machte es bereit, einen Frieden mit der PLO in Erwägung zu ziehen. Auch die Terrormiliz war unter ihrem inzwischen gemäßigten Anführer Yasser Arafat ebenfalls willens, Schritte auf Israel zuzugehen. Also vertieften sich die Geheimkontakte der beiden Seiten.

Ein Friedensprozess nahm seinen Weg. Schon 1988 erkannte Arafat das Existenzrecht Israels an und machte eine Zweistaatenlösung zum Ziel, anstelle der Vernichtung Israels. 1991 gab es erstmals öffentliche, persönliche Gespräche. 1993 und 1995 gipfelten diese in den zwei Oslo-Abkommen.

In den Oslo-Abkommen erkannten sich die beiden Seiten gegenseitig an und richteten die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) als vorübergehende de-facto-Regierung der Palästinenser ein. Sie vereinbarten einen teilweisen Abzug des israelischen Militärs und die Bildung eines Palästinensischen Legislativrats (PLC), welcher als de-facto Parlament die Macht von der PA übernehmen sollte. Und sie vereinbarten weitere Verhandlungen, um die Lage in der Region endgültig zu lösen. Bis dahin würde das Oslo-II-Abkommen den territorialen Status Quo regeln: Die Bevölkerungszentren im Westjordanland würden unter volle Kontrolle der PA gehen (Gebiet A), der rurale Großteil des Gebiets unter vollständige Kontrolle Israels (Gebiet C) und alles dazwischen in geteilte Kontrolle (Gebiet B). Israel behielt für die gesamte Region die Verantwortung, es gegen ausländische Gefahren zu verteidigen, behielt also die Kontrolle über die Außengrenzen.

Was geschah danach?

Ein vager Schritt vorwärts

Die Oslo-Abkommen waren der bis dato größte Durchbruch in den israelisch-palästinensischen Beziehungen, doch sie waren kaum beliebt. Auf beiden Seiten waren die nationalistischen und extrem-religiösen Elemente verärgert. Israelis schien Oslo wie die Aufgabe der teilweisen Kontrolle im Westjordanland sowie wichtiger religiöser Stätten. Doch selbst moderat-rechte Israelis waren irritiert, denn Israels Premierminister Itzhak Rabin hatte die Wahl 1992 als “Stabilitätskandidat” und mit dem Versprechen, mit der PLO nicht zu verhandeln, gewonnen. 1995 wurde er von einem israelischen Extremisten ermordet. Radikale Palästinenser waren derweil verärgert, dass der Vernichtungskampf gegen Israel aufgegeben wurde und moderate Palästinenser, dass die PLO zu wenige echte Konzessionen herausgeschlagen habe. Der palästinensisch-amerikanische Philosoph Edward Said nannte es das “Versailles der Palästinenser”.

Was die Oslo-Abkommen auf jeden Fall waren, ist vage. Es wurde darin nicht geregelt, wie ein zukünftiger palästinensischer Staat aussehen oder welche Grenzen er haben sollte und wann er entstehen würde. Ausdrücklich ausgeklammert waren auch die Fragen nach Ostjerusalem, den jüdischen Siedlungen in den Palästinensergebieten und einem Rückkehrrecht für die Palästinenser. Israels Kontrolle von Ostjerusalem und die (damals existierenden) Siedlungen waren von Oslo also völlig unberührt; ein Siedlungsausbau nicht verboten. Selbst eine Zweistaatenlösung wird in Oslo nicht direkt gefordert, auch wenn sie mit der Einrichtung von autonomen Institutionen in den Palästinensergebieten impliziert war.

Die Abkommen waren vage, doch das war bewusst gewählt. Ein vollständiges, detailliertes Abkommen, welches für beide Seiten gangbar wäre, erschien damals einfach unrealistisch. Also peilten beide Seiten eine Zwischeneinigung an, welche den Weg zu einer finalen Einigung ebnen würde. Ein erster Schritt, ein gegenseitiger Vertrauensbeweis, ein Bekenntnis zum Weiterverhandeln. Binnen fünf Jahren sollte ein weiteres Abkommen folgen und am Ende ein Friedensvertrag den israelisch-palästinensischen Konflikt beenden.

Gut zu wissen: Mit den Oslo-Abkommen begannen auch die Finanzhilfen für die Palästinenser. Zwischen 1994 und 2020 steuerte die Staatengemeinschaft rund 40 Milliarden USD bei, wovon knapp 36 Prozent ins Budget der PA flossen, der Rest an NGOs oder direkt in bestimmte Wirtschaftssektoren. Etwa die Hälfte des Geldes stammte, in dieser Reihenfolge, von der EU, den USA, Saudi-Arabien und Deutschland.

Netanjahu (rechts) und Arafat (mitte) in der Schweiz, 1997. Quelle: WEF, wikimedia
 

Die Steine im Weg

Sehr früh kam es zu Problemen. Palästinensische Terrorangriffe setzten sich fort, denn radikalere Gruppen hielten nichts von einer Annäherung an Israel. Zahlreiche Selbstmordattentate fanden statt. Andersherum geschah die größte israelische Terrorattacke gegen Palästinenser seit dem Unabhängigkeitskrieg 1948, als ein Anhänger der radikalen, in Israel verbotenen Kach-Partei 29 Menschen in Hebron ermordete. Die verschlechterte Sicherheitslage und die wachsenden Spannungen höhlten das Abkommen aus: Israel zog seine Truppen nur teilweise ab und errichtete eine Barriere zum Gazastreifen. Und die Palästinenser wählten 1994 zwar den Legislativrat, doch Arafat verweigerte den Transfer der Macht von seiner PA an den PLC, welcher darüber hinaus durch israelische Einmischung an Arbeitsfähigkeit einbüßte.

Nach der Ermordung Rabins wurde Shimon Peres Premierminister in Israel. Er rief 1996 Wahlen aus, in welchen der rechtskonservative Likud dank der angespannten Sicherheitslage einen knappen Sieg einfuhr und die Ära der Sozialdemokraten unterbrach. Premier wurde niemand anderes als Benjamin Netanjahu.

Netanjahu, ein Pragmatiker mit Tendenz nach rechts, führte den Friedensprozess zwar weiter und verlangsamte den Siedlungsbau, doch bremste auch den Abzug der Truppen aus Westjordanland und Gaza. Er nannte das eine “Reziprozitätspolitik” als Reaktion auf eine wahrgenommene “Drehtür”-Politik der PA unter Arafat. Gemeint war, dass diese palästinensischen Terror mal bekämpft, dann aber wieder unterstützt hätte. Solange das anhalte, würde Israel den Friedensprozess aussetzen. Parallel wuchsen die Spannungen: Ein Streit um einen Tunnel unterhalb der Klagemauer führte zu schweren Ausschreitungen, in deren Zuge 59 Palästinenser und 16 Israelis getötet sowie Hunderte verletzt wurden. 

Gut zu wissen: Die Tunnel unterhalb der Jerusalemer Altstadt stammen noch aus der Antike und wurden 1867 von einem britischen Offizier wiederentdeckt. Christen und Muslime hatten allerdings Angst, dass eine Erkundung der Tunnel die heiligen Stätten auf dem Tempelberg strukturell gefährden könnte, weswegen sie jahrzehntelang unerkundet blieben. Unter Israel wurden die Tunnel wieder eröffnet, auch wenn besonders heikle Stellen gesperrt blieben. Später wurden die Tunnel sogar für Tourismus geöffnet. Die Premierminister Rabin und Peres widersetzten sich Forderungen nach einer Erweiterung, um negative Folgen auf den Friedensprozess zu vermeiden. Unter Netanjahu wurde diese Erweiterung vorgenommen, was zum “Tunnel-Aufstand” führte.

Der Weg zu Camp David

Noch war der Friedensprozess aber nicht gescheitert. Israel erkannte im Sinne der Reziprozitätspolitik bestimmte Bedingungen für erfüllt an und verhandelte weiter. 1997 wurde das Hebron-Abkommen geschlossen, in welchem Israel Truppen überwiegend aus Hebron abzog und damit eine der größten Städte des Westjordanlands an die Kontrolle der PA übergab. Im Wye-River-Memorandum 1998 versprachen die Palästinenser und Israel, Terrorismus gegeneinander zu verhindern und Israel stimmte der Übergabe von insgesamt 11 bis 13 Prozent der Zone C-Gebiete zu, allerdings in drei Stufen.

In Israel war der Annäherungsprozess durchaus populär. Das Wye-River-Abkommen wurde positiv aufgenommen; 74 Prozent der Bürger unterstützten es in einer Umfrage 1998. Netanjahus Schlingerkurs in der Friedenspolitik nervte allerdings die Linken und Moderaten, welchen es nicht genug Annäherung war, und auch die (Ultra-)Rechten, welchen sie zu weit ging. Also war es einfach für die Opposition, die Regierung 1999 per Misstrauensvotum zu stürzen. In den darauffolgenden Wahlen gewann Ehud Barak deutlich. Er versprach mehr Friedensprozess mit den Palästinensern und einen Abzug aus dem Südlibanon, welchen Israel seit dem Libanonkrieg 1982 besetzt hatte (den Abzug setzte er 2000 um).

Der Friedensvorstoß gipfelte im Camp-David-Gipfel im Jahr 2000. Benannt nach den erfolgreichen ägyptisch-israelischen Verhandlungen 1978 (und im selben Ort in den USA abgehalten), trafen sich Barak und Arafat für eine endgültige Lösung des Nahostkonflikts. Die Verhandler hatten das ambitionierte Ziel, fünf jahrzehntelange Fragen zu beantworten: Was ist das Territorium der zwei Staaten? Was geschieht mit dem für beide Seiten heiligen Ostjerusalem und den umliegenden Orten? Erhalten die Palästinenser ein Rückkehrrecht? Was für Sicherheitsgarantien erhalten beide Seiten? Und was passiert mit den jüdischen Siedlungen?
 

Ehud Barak, Bill Clinton, Yasser Arafat (v.l.n.r.), beim trilateralen Treffen in Oslo 1999.
Quelle: Photographs of the White House Photograph Office, wikimedia
 

Der Friedensvorschlag

Die Positionen waren weit auseinander. Die Informationen sind hier etwas uneindeutig, da die Verhandlungen ausschließlich verbal geführt worden und somit unterschiedliche Zeitzeugenberichte vorliegen. Allem Anschein nach sahen die Positionen folgendermaßen aus: Die Palästinenser akzeptierten die Grenzen, welche aus dem Unabhängigkeitskrieg 1948/49 hervorgegangen waren, doch forderten das gesamte Westjordanland sowie Gaza. Zugleich waren sie zu Landtauschen bereit, um israelischen Prioritäten und Siedlungen etwas Flexibilität einzuräumen. Israel war grundsätzlich einverstanden, doch sah eine vollständige Rückkehr zu den Grenzen vor e1967 als Sicherheitsrisiko; zudem wichen die Definitionen des Westjordanlands der beiden Seiten um rund 5 Prozent voneinander ab.

Barak machte einen Vorschlag, wonach vorerst ein palästinensischer Staat auf 73 Prozent des Westjordanlands und im gesamten Gazastreifen entstehen würde, innerhalb von “10 bis 25 Jahren” aber auf 91 Prozent anwachsen würde. Dazu käme ein Prozentpunkt getauschtes israelisches Gebiet. Da die Palästinenser das Westjordanland größer interpretierten, hätten sie aus ihrer Sicht bis zu 86 Prozent als Staat erhalten, dazu 100 Prozent des Gazastreifens. Der neue Staat wäre nicht völlig kontinuierlich: Gaza und Westjordanland wären durch Israel getrennt, zudem berichteten einige Beobachter von einer “Kantonisierung” des Westjordanlands in vier voneinander durch Israel getrennte Abschnitte, was Barak aber zurückwies. Mindestens eine Ost-West-Straße durch das Westjordanland hätte Israel allerdings unter Kontrolle genommen.

Beim Thema Ostjerusalem wollten beide Seiten, dass die Stadt unter ihre Souveränität ginge, die Gegenseite aber begrenzte Autorität über bestimmte Bereiche erhalte: Die Palästinenser hätten im Vorschlag der Israelis das christliche und muslimische Viertel sowie den Tempelberg; die Israelis bekämen das jüdische Viertel und die Klagemauer, so die Palästinenser. Im israelischen Vorschlag würden die um Ostjerusalem herumliegenden Dörfer und Viertel zwischen beiden Seiten aufgeteilt werden, wobei die Palästinenser die “zivile Autorität” behielte (darunter auch das historisch für die Araber wichtige Viertel Sheikh Jarrah, welches bis heute immer wieder in den Schlagzeilen auftaucht). Westjerusalem war nicht kontrovers, da es gemäß dem Grenzverlauf von 1949 israelisch bliebe.

Ein Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge wollte Israel unbedingt verhindern, da es einen demografischen Schock befürchtete. Für die Palästinenser war es dagegen zentral: Sie verlangten, dass sämtliche Vertriebene sowie ihre Nachfahren nach Israel einwandern, ihre alten Häuser und ihr Eigentum beanspruchen und Kompensation erhalten dürfen. Wie viel Flexibilität hier geboten wurde, variiert je nach Berichterstatter. Die Palästinenser schlugen anscheinend vor, einen nicht weiter definierten “Mechanismus” zu finden, um Israels demografische Bedenken zu berücksichtigen. Israel bot demnach an, 100.000 Flüchtlinge – ein Siebtel der ab 1947 vertriebenen – aufzunehmen und einen 30-Milliarden-USD-Fonds einzurichten, mit welchem Flüchtlinge kompensiert und ihre Ansiedlung im Staat Palästina oder Drittländern finanziert würde.

Als Sicherheitsgarantien forderte Israel relativ weitreichende Befugnisse über die palästinensische Außenpolitik: Der neue Staat wäre demilitarisiert (von bestehenden Sicherheitskräften abgesehen) und dürfe keine Bündnisse ohne israelische Zustimmung schließen; Israel würde eine kleine Grenzgarnison an der palästinensisch-jordanischen Grenze behalten; erhielte das Recht, im “Notfall” Soldaten auf palästinensisches Gebiet zu entsenden; dürfe Radarstationen einrichten und den palästinensischen Luftraum nutzen.

Die Palästinenser lehnten den Vorschlag der Israelis ab. Yasser Arafat verließ die Verhandlungen, ohne einen Gegenvorschlag gemacht zu haben und erklärte seine Ablehnung auch nicht öffentlich. Die Camp-David-Verhandlungen waren nach zwei Wochen gescheitert.

Die Suche nach dem Schuldigen

Wie ist der Vorgang zu werten? Der israelische Vorschlag bestand aus zum Teil sehr weitreichenden Forderungen. Zugleich spiegelte er die stärkere Verhandlungsposition Israels wider, kam nichtsdestotrotz mit ernsthaften Konzessionen daher und war sicherlich auch noch verhandelbar, was Arafat aber nicht weiter erkundete. In diesem Sinne richtet sich klassischerweise ein Großteil der Kritik gegen Arafat und die Palästinenser. US-Präsident und Vermittler Bill Clinton kritisierte Arafat scharf; und ein amerikanischer Unterhändler zitierte saudi-arabische Regierungsstellen damit, dass es “nicht einfach eine Tragödie, sondern ein Verbrechen” sei, wenn Arafat den israelischen Vorschlag ablehne. Einige Beobachter (darunter der beteiligte US-Unterhändler Michael Ross oder der Psychiater und Historiker Kenneth Levin) spekulieren, dass es Arafat langfristig eben darum gegangen sei, das gesamte historische Palästina unter Kontrolle der Palästinenser zu bringen. Dafür hätte er ein weitreichendes Rückkehrrecht benötigt oder hätte, wenn es dieses nur eingeschränkt gäbe, keinen Schlussstrich unter den Nahostkonflikt ziehen können, wie ihn die Israelis gefordert hatten.

Andersherum betonen Beobachter (darunter der ebenfalls beteiligte US-Offizielle Robert Malley), dass die Palästinenser ihrerseits hohe Konzessionen gemacht hätten und die israelischen Forderungen sehr weitreichend gewesen seien; die staatliche Souveränität Palästinas hätte sich wohl als bedingt bezeichnen lassen müssen. Der damalige Außenminister Shlomo Ben-Ami erklärte in einem späteren Buch, dass er “Camp David ebenfalls abgelehnt hätte, wäre er Palästinenser” (kritisierte allerdings auch scharf das Verhandlungsverhalten Arafats). Ähnlich dürfte eine Rolle gespielt haben, dass viele der Konzessionen für Arafat schwierig den Palästinensern zu erklären gewesen wären.

Noch immer war der Friedensprozess nicht am Ende. Einige Monate später trafen sich die Unterhändler zum Taba-Gipfel in Ägypten. Die Israelis und die Palästinenser machten weitere Konzessionen; unter anderem würden die Palästinenser nun 97 Prozent des Westjordanlands erhalten (davon 3 Prozentpunkte per Tausch mit israelischen Gebieten). “Wir sind näher als jemals zuvor an einem finalen Deal”, so Israels Außenminister Ben-Ami damals. Und der palästinensische Chefverhandler Saeb Erekat erklärte später: “Ich weiß, wir waren so nah dran. Uns haben sechs Wochen gefehlt”.

Zusammenbruch_

(8 Minuten Lesezeit)

Israelische Soldaten 2002 in Nablus. Quelle: Israel Defense Forces, wikimedia

Die Zweite Intifada

Als Israels rechter Oppositionsführer Ariel Sharon am 28. September mit starker Polizeipräsenz den wichtigen al-Aqsa-Komplex auf dem Tempelberg besuchte, sorgte das für Aufruhr unter den Palästinensern. Die Polizei reagierte robust und zerstreute Proteste mit Tränengas und Gummigeschossen. Vor dem Hintergrund der Wut über die gescheiterten Camp-David-Verhandlungen brach ein regelrechter Aufstand aus: die Zweite Intifada.

Die Intifada lief fünf Jahre lang und war ein einziger Fiebertraum. Massive Proteste der Palästinenser, von welchen einige friedlich verliefen, doch viele gewalttätig wurden, stießen auf eine robuste und später brutale Reaktion der israelischen Sicherheitskräfte, welche mitunter mit scharfer Munition auf Aufständische und Protestler feuerten. Palästinenser verübten Morde an Israelis; jüdische Siedler revanchierten sich. Sogar in Israel selbst kam es zu ethnischen Konflikten zwischen Juden und Arabern, was die Integrität der Gesellschaft wacklig erschienen ließ.

Zum ersten Mal stieß Israels Militär, die IDF (Israeli Defense Forces), auch mit den Einheiten der PA zusammen, mit welchen es bis dahin eine fruchtbare Sicherheitskooperation gegeben hatte: Zwei israelische Soldaten waren offenbar versehentlich in die PA-Hauptstadt Ramallah geraten und wurden dort verhaftet. In der Bevölkerung verbreitete sich das Gerücht, dass israelische Spione im PA-Polizeibüro gehalten würden und ein wütender Mob aus über 1.000 Menschen stürmte das Gebäude und folterte und ermordete die Soldaten, was von einem italienischen Kamerateam aufgenommen wurde. Die brutale Tötung schockierte die israelische Gesellschaft und veranlasste Israel zu Luftschlägen gegen die PA im Westjordanland.

Die Intifada ähnelte oftmals eher einem vollwertigen asymmetrischen Krieg. Die IDF besetzten wieder weite Teile des Westjordanlands, setzten Arafat in dessen Residenz in Ramallah fest und lieferten sich im Flüchtlingslager bei Jenin, welches Israel bis heute als “Hotspot” für palästinensischen Terrorismus wertet, schwere urbane Schlachten mit militanten Palästinensern. Die Palästinenser versuchten, Waffen und Sprengstoff über den Seeweg hineinzuschmuggeln, was Israel in der Santorini-Affäre und der Karine-A-Affäre verhindern konnte.

Ein besonderes Merkmal waren allerdings die Terrorattacken der Palästinenser. Meistens verübt von den Gruppen Hamas und Palästinensischer Islamischer Jihad (PIJ) brach eine wahre Welle von Selbstmordattentaten und Bombenanschlägen über Israel nieder; auf Nachtclubs, Busse, Restaurants und weitere öffentliche Orte. Allein 62 Selbstmordattentate fanden zwischen 2001 und 2005 statt, mit 524 Toten; dazu kamen anderweitige Anschläge. Insgesamt starben bei der Intifada ca. 1.010 Israelis (darunter knapp 700 Zivilisten) und um die 3.200 Palästinenser, davon ungefähr 85 Prozent durch die israelischen Sicherheitskräfte getötet; die übrigen durch andere Palästinenser und, seltener, israelische Zivilisten.

Das Ende des Friedens

Die Intifada war eine Reaktion auf die schleppenden Friedensverhandlungen und besiegelte zugleich deren Ende. Mit dem Ausbruch der Gewalt trat die Regierung Barak zurück und in der nachfolgenden Wahl wurde der Hardliner Ariel Sharon – dessen al-Aqsa-Besuch die Gewalt getriggert hatte – Premierminister. 

Die Friedensgespräche wurden eingestellt. Als Arafat 2002 in der israelischen Zeitung Haaretz erklärte, den Taba-Friedensplan zu akzeptieren – 18 Monate nach dessen Aufstellung und inmitten der Intifada – wies die israelische Regierung das als nicht mehr diskutabel zurück. Auch in der israelischen Gesellschaft hatte sich das Blatt deutlich gewendet. Herrschte vorher eine mehrheitliche Zustimmung für den Friedensprozess, wurde dieser jetzt als Trojanisches Pferd empfunden. Die PA erschien nicht mehr als vertrauenswürdiger Partner; tatsächlich warfen Israelis ihr sogar vor, die Intifada von langer Hand geplant zu haben (Sharons Tempelberg-Besuch sei nur ein günstiger Vorwand gewesen). Der Eindruck entstand, dass es den Palästinensern mehr um die Tötung von Juden als um Frieden gehe und eine häufig geäußerte Meinung war, dass die vielen Abkommen mit den Palästinensern Frieden bringen sollten, doch letzten Endes nur mehr Blutvergießen brachten. Statt Frieden ging es plötzlich um Abkapselung.

Protestaktionen jüdischer Siedler im Gazastreifen, 2005. Quelle: Israeli Defense Forces, wikimedia

Der Gaza-Abzug und die Mauer

Bereits im Jahr 2000 begann Israel mit dem Bau einer Grenzmauer zum Westjordanland, deren Bau 2005 abgeschlossen wurde. Sie ist international umstritten, da sie die Bewegungsfreiheit der Palästinenser einschränkt, teilweise auf palästinensischem Gebiet errichtet wurde und die Wirtschaft des Gebiets trifft (und für dystopische Bilder sorgt). Der Internationale Gerichtshof (ICJ) wertet die Mauer als Verstoß gegen internationales Recht und selbst der israelische Supreme Court sieht sie in Teilen als illegal. Unter Israelis war und ist sie dagegen beliebt: Die Zahl der Selbstmordattentate fiel mit dem Bau der Mauer bedeutend. Das hat zwar auch andere Faktoren, korrelierte zum Teil also einfach zeitlich, doch auch der Anführer des PIJ räumte die Wirksamkeit der Mauer ein.

Premier Sharon kündigte 2004 außerdem einen unilateralen Abzug aus dem Gazastreifen an, welcher 2005 tatsächlich vollzogen wurde (auch einige Siedlungen im Westjordanland wurden abgerissen). Israel zog die Truppen ab, siedelte Siedler um (oft gegen deren Willen) und hinterließ in Gaza eine Reihe großer, hochmoderner Gewächshäuser. Die Hoffnung auf ein Wirtschaftswunder in Gaza, welche unter westlichen Beobachtern Einzug fand, realisierte sich nicht: Die jüdischen Siedler zerstörten beim Abzug rund die Hälfte der Gewächshäuser und palästinensische Plünderungen setzten sie wochenlang außer Gefecht. Als die Gewächshäuser wieder repariert waren, auch dank der Finanzierung durch amerikanisch-jüdische Philanthropen, erschwerten israelische Grenzrestriktionen den Export der produzierten Ware massiv. Die Idee eines Gaza als landwirtschaftlichem Powerhouse realisierte sich nicht.

Israels unilateraler Abzug aus Gaza war das dritte Mal nach der Sinai-Halbinsel und dem Südlibanon, dass Israel freiwillig eine Besatzung beendete und das erste Mal innerhalb der historischen Region Palästina. Unter Experten ist jedoch umstritten, inwieweit die Besatzung zu Ende ging: Israel kontrollierte weiterhin die See- und Luftzugänge zum Gazastreifen, sechs von sieben Grenzübergängen (der Rafah-Grenzübergang im Süden geht nach Ägypten), schuf eine “No-Go”-Zone rund um die Grenze und musste den Gazastreifen mit Wasser, Strom und Energie versorgen. Die UN und einige Rechtsexperten werten das noch immer als “Besatzung”, andere Experten weisen das zurück; populär findet sich teils auch der Begriff “Belagerung”. Doch bei allem faktischen Einfluss: Vor Ort war Israel tatsächlich nicht mehr vertreten. Der Gazastreifen war auf sich allein gestellt und ging nominell an die PA.

Ein Abschnitt der Westjordanland-Sperranlage, hier in Betlehem. Quelle: Ralf Roletschek, wikimedia

Die Fatah und die Hamas

Die zentrale Fraktion innerhalb der PA war die Fatah, eine Bewegung, welche einst den harten Kern der PLO gebildet hatte. Unter ihrem Anführer Yasser Arafat war sie stets moderater als Gruppen wie Schwarzer September oder PFLP gewesen. Mit der Bildung der PA übernahm sie in dieser die Kontrolle. Dementsprechend führte Arafat die PA zuerst an und wurde nach seinem Tod 2004 durch den neuen Fatah-Chef Mahmoud Abbas ersetzt.

Gut zu wissen: Um den Tod von Yasser Arafat ranken sich Theorien, wonach er vergiftet worden sein könnte, etwa durch das radioaktive Polonium. Zu diesem Schluss kam eine Schweizer Studie. Russische und französische Untersuchungen erkannten hingegen einen natürlichen Tod.

Die Fatah war allerdings nicht die einzige relevante Fraktion. Während militante Gruppen wie die marxistisch-leninistische PFLP längst in den Hintergrund gerückt waren, war der Hamas ein kometenhafter Aufstieg gelungen. Die Gruppe war 1987 inmitten der Ersten Intifada aus einem Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft entstanden. Ihr erklärtes Ziel war die Zerstörung Israels und die Schaffung eines islamischen Palästinas. Ihre Originalcharta ist ein schwurbeliges Werk voller antisemitischer Verschwörungstheorien und islamischem Jingoismus: “Sogenannte Friedensinitiativen […] stehen im Widerspruch zur Islamischen Widerstandsbewegung“, betonen die Islamisten in Artikel 13; und erklären in Artikel 7: “Der Tag des Jüngsten Gerichts wird erst eintreten, wenn die Moslems die Juden bekämpfen und sie töten. Dann werden sich die Juden hinter Felsen und Bäumen verstecken, und die Felsen und Bäume werden schreien: ‘O Moslem, da versteckt sich ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn.” In anderen Artikeln werden eine jüdische Weltverschwörung beklagt und selbst die längst als russische Fabrikation bewiesenen “Protokolle der Weisen von Zion” als Beweis angeführt.

Mit ihrer radikalen anti-israelischen Haltung, ihrer Führung der Terrorattacken in der Ersten und Zweiten Intifada und den regelmäßigen Angriffen gegen Israels Besatzung im Gazastreifen wurde die Hamas zur populärsten Fraktion unter den Palästinensern. Dazu trug auch bei, dass die Bevölkerung zunehmend frustriert auf die zutiefst korrupte Fatah und ihre Unfähigkeit, Verhandlungserfolge oder höhere Lebensstandards zu bezwecken, blickten. Also siegte die Hamas im Jahr 2006 bei den Wahlen zum PLC, dem Quasi-Parlament, haushoch: Sie erhielt 74 der 132 Sitze, gegenüber 45 für die Fatah, und schaffte damit problemlos die absolute Mehrheit – in einer Wahl, welche die EU als sauberer als in manchen ihrer Mitgliedsstaaten bezeichnete.

Gut zu wissen: 2017 moderierte die Hamas ihre Charta. Seitdem ist in Artikel 16 davon die Rede, dass die Hamas kein Problem mit Juden habe, sondern nur das “zionistische Projekt” bekämpfe. Das “Judenproblem” sei außerdem ein europäisches Problem und habe historisch nichts mit Arabern zu tun. Und obwohl sie an der Schaffung eines Palästinas “vom Fluss bis zur See” (from the river to the sea) festhalte, könne sich die Hamas ein Palästina in den Grenzen von 1967 vorstellen – deutete also eine Zweistaatenlösung an.

Der palästinensische Bürgerkrieg

Die Wahl war ein Schock, vor allem für westliche Staaten und die Fatah. Zwischen der Hamas und der Fatah wuchs ein gewaltsamer Konflikt heran, welcher 2007 durch die Bildung einer Einheitsregierung befriedet werden sollte. Die Gespräche zerfielen jedoch und ein regelrechter Bürgerkrieg brach aus. Die Hamas übernahm gewaltsam den Gazastreifen, in welchem sie ohnehin bereits ihre Machtbasis hatte, und entfernte die Fatah vollständig. Diese zerschlug dafür die Hamas im Westjordanland und blieb dort an der Macht, obwohl sie eigentlich abgewählt worden war. Seit 2006 gab es in den Palästinensergebieten keine weitere Wahl, obwohl diese per Oslo-Abkommen vorgesehen wären. Allein zwischen Anfang 2006 und Mitte 2007 starben über 600 Palästinenser in dem Konflikt, so ein interner Report.

Das ist im Grunde die Gemengelage bis heute. Eine als korrupt und überfordert geltende Fatah regiert als Autonomiebehörde im Westjordanland, wo sie Wahlen vermeidet, welche sie nicht gewinnen könnte. Angeführt wird sie von einem inzwischen 87-jährigen, lethargischen Mahmoud Abbas. Das Verhältnis mit der Hamas ist zerrüttet, wenn auch nicht mehr offen feindselig wie nach 2006. Die Hamas kontrolliert derweil den Gazastreifen zutiefst autoritär, konnte aber gegenüber der chaotischen Phase nach dem israelischen Abzug tatsächlich staatliche Strukturen etablieren, etwa Sozial-, Steuer- und Polizeisysteme.
 

Konfrontation_

(6 Minuten Lesezeit)

Zahl der aus dem Gazastreifen nach Israel abgefeuerten Raketen, 2001-2021.
Quelle: Rob Geist Pinfold, wikimedia; auf Basis von Ben Sasson-Gordis (2016) and Meir Amit Terrorism and Information Center (2017-2022)

Die Gaza-Kriege

Das Verhältnis zwischen Israel und der Hamas war stets denkbar schlecht, immerhin machte zweitere aus ihrem Ziel der Zerstörung des Nachbarn keinen Hehl. Ungeachtet des Abzugs Israels aus Gaza hielt die Hamas Raketenbeschuss aufrecht. 2006 intensivierte sie die Attacken und entführte den israelischen Soldaten Gilad Shalit, welcher erst nach fünf Jahren und im Gegenzug für 1.027 inhaftierte Palästinenser freigehandelt werden konnte. Das führte zum viermonatigen Gazakrieg 2006, der ersten größeren Bodenoperation Israels seit der Räumung des Gazastreifens. Die Hamas wurde darin dermaßen geschwächt, dass sie rund ein halbes Jahr lang auf Raketenbeschuss verzichtete.

Nach der Machtübernahme der Hamas in Gaza nahm der Beschuss gegen Israel deutlich zu. Israel verhängte gemeinsam mit Ägypten eine Blockade über den Gazastreifen, um die Hamas zu schwächen und Waffenlieferungen zu unterbinden. Die Hamas begann in ihrem neuen Herrschaftsgebiet mit dem Ausbau eines äußerst weitläufigen Tunnelsystems, laut eigenen Angaben Stand 2021 über 500 Kilometer lang und damit länger als die Londoner Metro. Dieses verläuft zum großen Teil unterhalb Gazas, wo die Tunnel ein regelrechtes Unterweltreich mit allerlei Einrichtungen von Kommandostrukturen über Baracken bis hin zu Gefängnissen zu bilden scheinen. Ein Teil der Tunnel läuft nach Israel und dient zur Infiltration – so etwa bei der Entführung von Gilad Shalit und auch im Terrorangriff 2023.

Als Israel 2008 einen solchen Tunnel attackierte, vergalt die Hamas das mit einem massiven Raketenbombardement. Israel marschierte daraufhin erneut im Gazastreifen ein und ein dreiwöchiger Krieg brach aus. Israel zerstörte viel Hamas-Infrastruktur, was die Gruppe vorübergehend schwächte, doch verwüstete bei dem Einsatz auch den Gazastreifen und tötete über 1.100 Palästinenser, darunter je nach Quelle 295 bis 926 Zivilisten. Auf israelischer Seite starben nur 13 Menschen – davon vier aufgrund von Beschuss durch die eigene Seite. Das ist ein Beispiel für das hohe Ungleichgewicht an Todes- und Verletztenzahlen, welches im Konflikt zwischen Israel und der Hamas meist vorlag. Die israelischen Offensiv- und Defensivkapazitäten sind und waren deutlich effektiver (der “Iron Dome“-Raketenschutzschild als bekanntestes Element), Gaza hat eine hohe Bevölkerungsdichte und die Hamas verwebt ihre Operationen eng mit zivilen Strukturen.

Tempelberg mit Felsendom (goldene Kuppel) und al-Aqsa-Moschee (davor). Quelle: Andrew Shiva, wikimedia

2014 und die vermeintliche Ruhephase

Der Konflikt hatte in den folgenden Jahren Hoch- und Tiefphasen. Ein besonders starker Ausbruch geschah 2014. Hamas-nahe Milizionäre hatten drei israelische Teenager entführt und ermordet, woraufhin Israel fast sämtliche aktive Hamas-Funktionäre im Westjordanland verhaftete. Die Hamas vergalt das mit einem heftigen Raketenbeschuss. Ein sieben Wochen langer Krieg brach aus, welcher wohl zum heftigsten israelisch-palästinensischen Gewaltausbruch seit Jahrzehnten geriet, womöglich seit dem Krieg 1948. Rund 2.200 Palästinenser (davon laut UN 65 Prozent Zivilisten) und 72 Israelis starben. Der Gazastreifen wurde verwüstet und um Jahre zurückgeworfen.

Nach 2014 herrschte eine gewisse Ruhe. Von 2015 bis 2017 schossen die Palästinenser nie mehr als 29 Raketen pro Jahr auf Israel ab. 2018 und 2019 intensivierten sich die Spannungen mit dem sogenannten “Großen Marsch der Rückkehr“, einer Protestbewegung, welche unabhängig begann, doch schnell von der Hamas vereinnahmt wurde. Israel tötete 223 Palästinenser, welche meist am Grenzzaun protestierten und damit die israelische “No-Go”-Zone verletzten. Weitere 9.200 wurden verletzt. Die Hamas feuerte wieder über eintausend Raketen auf Israel ab. 2021 geschah ein ähnlicher Gewaltausbruch, nachdem ein Streit um mögliche Zwangsräumungen von palästinensischen Wohnungen in eine Stürmung des al-Aqsa-Komplexes durch die israelischen Sicherheitskräfte eskaliert war.

Insgesamt schien die Lage aber deutlich ruhiger als noch in den Jahren bis 2014. Die Hamas agierte vorsichtiger und vermied ganz uncharakteristisch sogar, die Verantwortung für Terrorakte oder Raketenbeschuss zu übernehmen (auch wenn die kleineren Milizen, auf welche sie verwies, letztlich nur mit ihrer Zustimmung hätten handeln können). Sie sprach plötzlich mit den Israelis. Sie mäßigte, wie bereits erwähnt, 2017 ihre Charta und implizierte, dass eine politische Lösung für den Konflikt möglich sei.

Aus israelischer Perspektive schien die Hamas plötzlich wie ein Akteur, mit welchem man zumindest sprechen könne. Israel und Ägypten lockerten periodisch ihre Blockade des Gazastreifens; Israel ließ Geldtransfers aus dem Ausland zu und erteilte mehr israelische Arbeitsgenehmigungen an Gaza-Palästinenser, was die Lebensstandards und die Wirtschaft in der Region verbesserte, und auch der Hamas Steuergelder einbrachte.

(K)Eine stabile Instabilität

Israel hatte sich zu sehr an den Status Quo gewöhnt. Gelegentliche limitierte Gewaltausbrüche, welche für Israel mit relativ geringen Verlusten an Leben einhergingen, waren verkraftbar. Eine “stabile Instabilität”, wie es in Sicherheitskreisen hieß. Durch gelegentliche Lockerungen der Gaza-Blockade versuchte Jerusalem, die Hamas zu “managen”. Musste doch mal militärisch reagiert werden, wie etwa 2018/19 und 2021, so geschah das mit limitierten Schlägen aus der Distanz. Eine Art Koexistenz schien möglich, wie weite Teile des israelischen Politik- und Sicherheitsapparats glaubten. Weder eine Zerstörung der Hamas, noch eine Friedensinitiative wirkte notwendig.

Parallel setzten sich einige Dinge in Bewegung, welche die Region veränderten. Die Palästinenser verstanden, dass die arabische Welt im vergangenen Jahrzehnt deutlich an Interesse an ihnen verloren hatte – nicht unbedingt die Bevölkerungen, aber die Regierungen. Ein bemerkenswerter Pragmatismus gegenüber Israel stellte sich ein, welcher ab 2020 mit den “Abraham Accords” ins Licht der Öffentlichkeit gerissen wurde: Die VAE, Bahrain, Sudan und Marokko erkannten Israel an. Saudi-Arabien erwog es.

Der Iran, größter Unterstützer der Hamas, gewann an Einfluss. Im Libanon, in Syrien, im Irak und im Jemen hatte er über verbündete Proxy-Gruppen die teilweise Kontrolle über die Außenpolitik übernommen. Eine neue Hardliner-Regierung in Iran seit 2021 brachte den Willen mit, härter gegen Israel vorzugehen; eine Annäherung mit Saudi-Arabien 2023 bot mehr Kapazität dafür, da sich eine andere “Front” schloss.

Zu guter Letzt: Israel erhielt eine ultrarechte Regierung, in welcher der zurückgekehrte Netanjahu mit zwei extremistischen Parteien koalierte. Das destabilisierte einmal Israel selbst, da die Regierung eine hoch kontroverse Justizreform vorantrieb, doch sorgte auch für Wut unter den Palästinensern, denn die Regierung sprach offen über eine Annexion des Westjordanlands, beschleunigte den Siedlungsbau und schreckte nicht vor Provokationen im Umgang mit der al-Aqsa-Moschee zurück – wohl auch, weil sie wusste, dass die PA wenig entgegenstellen könnte.

Stunde Null

Für die Hamas schien der Moment allem Anschein nach perfekt, die angebliche Entspannungsphase zu beenden und die “stabile Instabilität” als Illusion zu entlarven. Am 7. Oktober 2023 verübte sie einen großen Terrorangriff samt Raketenbeschuss, welcher definitorisch wohl fast in den Bereich einer Invasion rutscht. Israel vergalt das mit dem heftigsten Bombardement aller Zeiten im Gazastreifen. Schon jetzt dürfte der Krieg 2023 jenen von neun Jahren zuvor an Intensität hinter sich gelassen haben. Es ist der wohl größte Gewaltausbruch zwischen Israelis und Palästinensern seit 1948.

Ungewöhnlich, in einem solchen Moment über Frieden zu sprechen. Israel und der Gazastreifen sind zutiefst verwundet. Die Hamas hat sich als Verhandlungspartner disqualifiziert und die PA ist unbeliebt sowie heillos überfordert. Weder Israelis noch Palästinenser wünschen sich übrigens eine Zweistaatenlösung; wollen am liebsten einen einzigen Staat, in welchem sie dominieren. In Jerusalem sitzt noch immer eine ultrarechte Regierung, so sehr aufgrund des Desasters vom 7. Oktober auch bereits an ihrem Stuhl gesägt wird. Die existierenden Friedensanläufe seit 2001 waren alle dermaßen wirkungslos, dass wir sie in diesem Explainer nicht einmal erwähnten.

Und doch birgt ein Moment wie dieser oft unerwartete Chancen. Es war nach dem Desaster des Jom-Kippur-Kriegs 1973, dass Israel und Ägypten ernsthafte Schritte zum Frieden machten. Es war die erste Intifada, welche zur gegenseitigen Anerkennung von PLO und Israel sowie den Oslo-Abkommen führten. Und es war die blutige zweite Intifada, nach welcher Israel Gaza verließ.

Ausgerechnet jene Momente, in welchen beide Seiten erschöpft und verunsichert aus den Konflikten hervorgingen, boten die meiste Dynamik hin zu Frieden. Eine Gewissheit ist das keineswegs und die nächsten Wochen oder Monate wird selbstverständlich nichts außer Gewalt herrschen. Doch womöglich passiert danach etwas völlig Neues.

Weiterlesen:

Teil 1 unseres Explainers zu Israel und Palästina
Teil 2 unseres Explainers zu Israel und Palästina

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