Israel und Palästina

Die Geschichte eines unheilvollen heiligen Landes – von der Antike bis heute.

Die Gesamtversion unserer drei Explainer. Hier findest du ein PDF des gesamten Explainers, z.B. zum Ausdrucken.

(65 Minuten Lesezeit)

Teil 1 – von der Antike bis 1948

Der einfache Teil | Der schwierigere Teil | Der ganz schwierige Teil

(20 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Das heutige Israel mitsamt Palästinensergebieten wechselte oft die Hände: Auf antike Israeliten folgten GriechenRömerAraber und Türken. 1918 übernahm Großbritannien als Kolonialmacht.
  • Eine mehrheitlich arabische Bevölkerung blickte mit Unruhe auf eine rasant zunehmende jüdische Migration ab etwa 1896, welche von Pogromen und Antisemitismus in Europa angetrieben wurde.
  • Es kam zu immer häufigeren und intensiveren Gewaltausbrüchen sowie Massakern beider Seiten, welche letztlich wohl den “Kreislauf” der Gewalt bis heute anstießen.
  • Die Briten verloren die Kontrolle über ihr Mandatsgebiet und leiteten den Abzug ein; die UN empfahl 1947 einen Teilungsplan, welchen die Araber ablehnten. Ein Bürgerkrieg brach aus.
  • Israel verkündete 1948 die Unabhängigkeit; fünf arabische Nachbarn marschierten umgehend ein. Der junge Staat siegte allerdings, konnte eine Existenz bewahren und sein Gebiet sogar ausweiten.
  • Der Palästinenserstaat entstand nicht, stattdessen besetzten Jordanien und Ägypten weite Teile.
  • Mit dem Krieg wurde ein Großteil der palästinensischen Araber aus Israel vertrieben, was bis heute im Kern der “Palästinenserfrage” steht. Auch seitens der Juden im arabischen Raum begann ein Massenexodus.

Der einfache Teil_

(5 Minuten Lesezeit)

Die Antike: Israeliten, Griechen und Römer

Die zivilisatorische Geschichte des heutigen Gebiets um Israel, das Westjordanland und den Gazastreifen, welches wir anfangs Judäa-Galiläa und später Palästina nennen könnten, begann in der eisenzeitlichen Antike. Mit dem Untergang der Stadtstaaten der Kanaaniter – auch als Phönizier bekannt – im 13. Jahrhundert vor der modernen Zeitrechnung begann die Hochphase der jüdischen Israeliten. Die erste gesicherte Erwähnung eines Volkes “Israel”, bezogen auf die Königreiche Israel (bzw. Samaria) und Juda, stammt aus dem Jahr 1.208 v. Chr. In diese Zeit fallen auch die biblischen Könige Saul, David und Salomon, deren Historizität umstritten ist. Parallel lebten in der Umgebung nichtjüdische Völker, etwa der aus Griechenland migrierte Stamm der Philister, welcher zwar den Namensursprung mit “Palästina” teilt, ansonsten aber keinen Zusammenhang zu den modernen Palästinensern besitzen dürfte.

Die Königreiche der Israeliten hielten rund fünfhundert Jahre nach dieser ersten Erwähnung. Dann begann eine rasante, wechselhafte Geschichte, welche uns mit wenig Verschnaufpause durch die Jahrhunderte trägt: Das Neo-Assyrische und später das Babylonische Reich, beide aus dem heutigen Irak, eroberten die israelitischen Königreiche; dann verleibte sich das gigantische Perserreich die Region ein (und machte eine Deportation der Israeliten durch Babylon rückgängig). Alexander der Große eroberte die Region 330 v. Chr. und nach seinem Ableben fiel sie an zwei griechische Nachfolgereiche, erst die Ptolemäer, dann an die Seleukiden. Eine jüdische Rebellion gegen die Seleukiden, unterstützt von der expandierenden Römischen Republik, führte zu einem erneuten faktisch unabhängigen Judenstaat um 140 v. Chr.

Roms Expansion war allerdings noch lange nicht am Ende angekommen. Rund 80 Jahre bekämpfte Rom das Seleukidenreich, bis es sich auch die Levante als Provinz Judäa einverleibte. Das Verhältnis zu der Lokalbevölkerung wechselte zwischen solide und angespannt, doch verschlechterte sich nachhaltig ab 50 n. Chr. und gipfelte in zwei schweren Bürgerkriegen zwischen 60 und 130 n. Chr. Rom gewann beide Kriege und zerschlug als Reaktion darauf die kulturellen und politischen Institutionen der Juden in Judäa. Es benannte die Region zu Syria Palästina um, ein alter griechischer und womöglich bereits assyrischer Name, zerstörte den jüdischen Tempel und machte aus Jerusalem das römische Aelia Capitolina – in welchem Juden nicht gestattet waren.

Die Bürgerkriege “vollendeten” eine jahrhundertelange jüdische Diaspora. Was sich genau abspielte, ist unter Forschern umstritten. Deportationen und Versklavungen ins gesamte römische Reichsgebiet sind gesichert, doch die eigenständige Emigration und Flucht aufgrund der schweren Lage in Judäa könnte zahlenmäßig eine größere Rolle gespielt haben. In jedem Fall existierte zu diesem Zeitpunkt bereits eine größere jüdische Bevölkerung außerhalb Judäa/Palästinas als innerhalb: Die zahlreichen Kriege in den vergangenen Jahrhunderten, welche oft mit der Zerstörung der Region einhergingen, hatten Juden in der gesamten europäisch-nahöstlichen antiken Welt verstreut. In Judäa/Palästina blieb nur noch eine sehr kleine Zahl an Juden. Die Geschichte einer organisierten jüdischen Präsenz in der Levante endete im 2. Jahrhundert – vorerst.

Mittelalter bis Neuzeit: Araber und Türken

Mit der Teilung Roms im 4. Jahrhundert ging Palästina an Ostrom, heute Byzantinisches Reich genannt, über. Es erlebte eine Blütezeit, griechisch-römischen Kultureinfluss und starke Christianisierung, litt aber unter den zahlreichen Kriegen zwischen Byzanz und Persien. Die rasant expandierenden Araber nutzten aus, dass sich die zwei Supermächte gegenseitig schwächten und eroberten Palästina bis zum Jahr 640. Wechselnde, miteinander rivalisierende arabische Kalifate kontrollierten die Region bis 1468, unterbrochen von den christlich-europäischen Kreuzfahrerreichen, welche sich immerhin zwei Jahrhunderte in der Region halten konnten. Daraufhin folgte das Osmanische Reich, also der Vorgängerstaat der modernen Türkei. Es kontrollierte Palästina bis 1917. Mit der osmanischen Kriegsniederlage im Ersten Weltkrieg wurde es von den Briten als “Mandatsgebiet Palästina” übernommen.

Palästina erlebte unter der muslimischen Herrschaft ein heftiges Auf und Ab. Die Araber hatten die Region in einem einhundert Jahre langen Prozess islamisiert und arabisiert. Palästina war durch seine günstige Lage, reiche Handelsbeziehungen, fruchtbaren Boden, religiöse Bedeutung und hohem Entwicklungsstand ein zentraler Ankerpunkt der frühen Araberreiche und erlebte deren goldenes Zeitalter bis etwa 1100 deutlich mit. 

Daraufhin verlor die Region allerdings zunehmend an Bedeutung. Spätere Kalifen verlagerten ihren Herrschaftssitz wahlweise nach Bagdad oder Kairo; heftige Kriege und die Invasionen der türkischen Seldschuken (um 1070), christlichen Kreuzritter (ab 1095) und Mongolen (ab 1260) verwüsteten Palästina. Naturkatastrophen und die Schwarze Pest (ca. 1350) dezimierten die Region weiter. Infrastruktur und Wirtschaft verfielen. Die Bevölkerung, welche vormals sehr wahrscheinlich über eine Million betragen hatte, brach auf womöglich rund 200.000 ein. Sie sollte sich erst in der Neuzeit erholen.

Gut zu wissen: Das Verhältnis der Araber mit den Juden rangierte von meist sehr pragmatisch bis gelegentlich sehr schlecht: Unter den frühen Kalifaten durften die Juden wie andere religiöse Minderheiten ihrer Religion nachgehen, solange sie eine hohe Sondersteuer zahlten, und durften auch wieder Jerusalem betreten. Zu Zeiten der Kreuzzüge kämpften sie mit den Muslimen gegen die Christen. Unter dem Kalifat der Fatimiden wurden dagegen alle Synagogen abgerissen.

Das aufstrebende türkische Osmanenreich expandierte ab dem Ende des 15. Jahrhunderts gegen die Araber und übernahm 1516 Palästina. Jegliche Blütezeit war bereits lange her: Die Region war wirtschaftlich abgehängt, im historischen Vergleich spärlich bevölkert und zutiefst ländlich; in den größten Städten – darunter Jerusalem und Gaza – lebten nur wenige Tausend Menschen. Sie bildete auch gar keine eigene administrative Zone mehr, sondern war in mehrere Provinzen aufgeteilt. “Palästina” (filistin) existierte eher nur noch als kulturelles Konzept, um wahlweise das nicht ganz klar abgegrenzte “Heilige Land” oder nur die Provinz Jerusalem zu bezeichnen. Selbst der Krieg verschonte die Region nicht, sei es in Form eines Einfalls der Franzosen unter Napoleon 1799 oder einer Invasion der (inzwischen von den Türken unabhängigen) Ägypter 1831.

Das wankende Osmanische Reich wurde 1918 faktisch abgewickelt. Die südliche Levante fiel als Kolonie an Großbritannien, welches das Mandatsgebiet Palästina einrichtete. Fassen wir zusammen: Die Region erlebte Israeliten, Babylonier, Assyrer, Perser, Griechen, Römer, Araber, Kreuzritter, Mongolen und Türken – und doch beginnt irgendwie erst jetzt der komplizierte Teil.

Der schwierigere Teil_

(8 Minuten Lesezeit)

Arabische Kämpfer während des Arabischen Aufstands 1936-39. Quelle: hanini, wikimedia

Der frühe Zionismus

In der Spätphase der osmanischen Periode legte mit der zärtlichen Industrialisierung der Region auch ihr Bevölkerungswachstum zu. In der gesamten Region, welche das Mandatsgebiet Palästina bilden würde, lebten 1850 rund 340.000 Menschen, was bis 1918 bereits auf über 700.000 gestiegen war. Dazu trug eine Entwicklung in Übersee bei, welche die demografische Lage in Palästina gehörig aufrütteln sollte.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich in Europa der Zionismus, welcher eine Rückkehr (Aliyah) der Juden in ihre historische “Heimstätte” empfahl. Schon in den Jahrhunderten davor waren Juden mitunter nach Palästina ausgewandert, allerdings in kaum relevanter Größenordnung. Zusammen mit einem kleinen “harten Kern” aus Juden, welche seit dem antiken Israel vor Ort verblieben waren, lebten 1850 rund 13.000 Juden im osmanischen Palästina, 4 Prozent der dortigen Gesamtbevölkerung. Mit der wachsenden antisemitischen Stimmung in Europa, vor allem den schweren Pogromen im Russischen Reich und in Polen sowie der Dreyfus-Affäre in Frankreich (ein Skandal um einen fälschlich verurteilten jüdischen Offizier), nahm der Emigrationsdruck allerdings zu. Spätestens als der österreichisch-ungarische Journalist Theodor Herzl 1896 “Der Judenstaat” herausgab, nahm der Zionismus konkrete Form an und gewann eine beeindruckende Dynamik. Die Zahl der Juden in Palästina versiebenfachte sich bis 1922 auf fast 84.000, über 11 Prozent der Bevölkerung. Diese war ihrerseits angestiegen, teilweise aufgrund von natürlichem Bevölkerungswachstum, teilweise, weil viele Araber aus umliegenden Gebieten immigrierten.

Der Zionismus unter Großbritannien

Unter Großbritannien legte die Zahl der Juden deutlich zu. Das dürfte einerseits mit einer anfangs freundlicheren Migrationspolitik und der wachsenden Popularität des Zionismus zusammengehangen haben, doch auch einfach damit, dass die britischen Volkszählungen weitaus zuverlässiger als die osmanischen waren. Und zu guter Letzt auch mit der Verhärtung des Antisemitismus in Europa im Vorfeld, Zuge und Nachspiel des Zweiten Weltkriegs samt Holocausts. Entsprechend kamen alleine von 1932 bis 1939 rund 200.000 Juden nach Palästina, inzwischen auch einige aus Staaten wie Jemen und Irak. Bis 1944 lebten bereits fast 530.000 Juden in der britischen Kolonie, 30 Prozent der Gesamtbevölkerung, welche zum Großteil sunnitische Araber, doch auch zahlreiche Beduinen, christliche Araber und Drusen ausmachten. Zwischen 1920 und 1945 stellten Juden 92 Prozent der Nettomigration nach Palästina; insgesamt 368.000 Juden kamen. Es war ein demografischer Schock.

Die rasant wachsende jüdische Bevölkerung bedeutete Konflikt mit der ihrerseits wachsenden arabischen Mehrheit. Die Juden lebten anfangs in eigenen Communitys und wurden von den Arabern als dhimmis eingestuft, also unter Schutz stehende, doch den Muslimen untergestellte Minderheit. Mit der wachsenden Migration kippte das Bild allerdings. Die Siedlungsgebiete von Juden und Arabern überschnitten sich schnell; Städte wie Haifa, Jaffa, Ramle und Akko wurden multiethnisch. Die Araber blickten mit Unruhe darauf, dass die Juden immer mehr Land aufkauften und mitunter die Einwohner vertrieben. 1910 gab es eine erste große, organisierte Protestaktion gegen jüdische Landkäufe. Zu dieser Zeit erkannten einige Araber auch bereits, dass der Zionismus die Schaffung eines jüdischen Staates anstreben würde und nicht nur ein Asyl der Juden als dhimmis in Palästina. Die Spannungen wuchsen.

Gut zu wissen: 1908 wurde mit Al-Karmil die erste ausdrücklich antizionistische Zeitung herausgegeben, von einem verheirateten arabischen Paar. Die Zeitung warnte eindringlich vor der Gefahr eines jüdischen “Kolonialismus” und wurde zum Sprachrohr des arabischen Diskurses in Palästina. 

Der (pan)arabische Nationalismus

Es kam zu kleineren Gewaltausbrüchen, meist durch Araber oder Beduinen gegen Juden. Die Juden gründeten in Palästina bereits 1907, nach der zweiten großen Einreisewelle, eine Miliz namens Bar-Giora, benannt nach einem Revolutionsführer im ersten Aufstand gegen die Römer. Ihre Gründer waren vor ihrer Aliyah Untergrundkämpfer im russischen Zarenreich gewesen. Das Motto der Gruppe stammte von einem jüdischen Autor: “In Feuer und Blut fiel Judäa, in Blut und Feuer soll Judäa wiederauferstehen”. Aus der Bar-Giora wurde kurz darauf die Hashomer, hebräisch für “Wachmann”. Die Gruppe war eher eine Nachbarschaftswache als eine echte Miliz, doch verteidigte jüdische Communitys gegen Kriminalität sowie arabische Übergriffe und führte manchmal Vergeltungsangriffe durch. Im Großen und Ganzen blieb Gewalt aber noch eine Seltenheit, es handelte sich um lokalisierte, vereinzelte Zusammenstöße.

Die Spannungen nahmen in den letzten Jahren des Osmanischen Reichs zu, da sich die Nationalbewegungen, welche den Rest der Welt seit Jahrzehnten durchzogen, auch bei Juden und Arabern verfingen – und beide Seiten einen eigenen Nationalstaat erwarteten. Die Briten versprachen erst um 1915/16 den Arabern in der sogenannten Hussein-McMahon-Korrespondenz einen unabhängigen panarabischen Staat, wenn diese sich im Ersten Weltkrieg gegen das Osmanische Reich auflehnen, und versprachen später den Juden eine “nationale Heimstätte” in Palästina in der Balfour-Deklaration 1917, womit deren Streben nach einem eigenen Staat allen Arabern in Palästina klar wurde. Die Briten entschieden sich allerdings für nichts von beidem: Sie teilten den Nahen Osten im Sykes-Picot-Abkommen mit Frankreich in Kolonialsphären auf – schon 1916 beschlossen, doch anfangs geheimgehalten -, und übernahmen die Kontrolle in Palästina und Umgebung. Unterstützt wurden sie vom Völkerbund, dem Vorgänger der UN, welcher London ein Mandat für Palästina aussprach. Die drei Abkommen scheinen miteinander völlig inkompatibel, und die Briten argumentierten im Nachhinein etwas unbeholfen mit Verweis auf die Sprache der Briefe, dass Palästina und Syrien nie in der McMahon-Korrespondenz inbegriffen gewesen seien. Für die Araber war es ein Verrat, welcher das britisch-arabische Verhältnis jahrzehntelang belastete. 

Der Anfang aller Gewalt

Das Mandatsgebiet schien nie unter einem guten Stern zu stehen. Die Briten waren keineswegs blind für den zentralen Konflikt zwischen Juden und Arabern. Also versuchten sie es mit Kompromissen: Arabisch, Hebräisch und Englisch wurden die Amtssprachen (obwohl die Araber gegen Hebräisch protestierten). Der Landesname war das in Europa gängige “Palästina” in allen drei Sprachen. Doch dort fing der Streit sogleich an: Die Juden forderten Erets Yisrael (Land Israel) als hebräische Variante; die Araber waren erzürnt und schlugen sogleich “Südysrien” vor. Die Briten boten den Juden einen Kompromiss und lehnten den Vorschlag der Araber ab.

Mit den offengelegten jüdischen Ambitionen nach einem Staat, der fortschreitenden Migration und den anziehenden Landkäufen (die Briten kippten Einschränkungen, welche die Osmanen verhängt hatten) erreichte die Stimmung einen Siedepunkt. Im März 1920 kam es zum bis dorthin blutigsten Gewaltausbruch, als arabische Kräfte eine jüdische Siedlung im nördlichen Galiläa attackierten und acht Juden töteten. Bei den Juden sorgte das für Schock; sie befürchteten Pogrome im Stile Russlands und riefen die britische Kolonialverwaltung mehrmals um Hilfe an, welche jedoch abwiegelte.

In der arabischen Bevölkerung schaukelte sich derweil die Stimmung hoch und entlud sich bei einer Demonstration in Jerusalem im April. Die Details sind unklar, doch laut dem israelischen Historiker Benny Morris (welcher von beiden Seiten des Diskurses mal kritisiert, mal gelobt wird) riefen die Teilnehmer: “Wir werden das Blut der Juden trinken”. Weitere Quellen berichten von den Rufen “Tod den Juden” und “Palästina ist unser Land, die Juden sind unsere Hunde”. Aus nicht abschließend geklärtem Grund schlug der Protest in Gewalt um. Vier Tage lang attackierten die Araber Juden und jüdische Geschäfte; fünf Juden und vier Araber starben, zudem wurden 216 Juden, 18 Araber und 7 britische Soldaten verletzt. Die Briten hielten sich nicht nur aus dem Aufstand heraus, sondern stoppten sogar jüdische Milizionäre beim Versuch, den Juden in Jerusalem zur Unterstützung zu eilen – auch wenn es einigen dennoch gelang, als Rettungskräfte verkleidet.

Die sogenannten Nabi-Musa-Unruhen waren wohl der Startschuss für die ethnische Gewalt in Nahost, welche die Region bis heute prägt. Die Juden zogen aus ihnen den Schluss, dass sie sich nicht auf die offiziellen Strukturen der Briten verlassen konnten. Aus der Hashomer wurde 1920 die weitaus organisiertere, militarisiertere und größere Haganah, die wichtigste paramilitärische Gruppe der Juden, welche später zu den Israeli Defense Forces (IDF), also der regulären Armee, umgewandelt werden sollte.

Juden fliehen aus Jerusalem während des Arabischen Aufstands 1936-39.
Quelle: wikimedia
Ein arabisches Protest-Treffen, 1929.
Quelle: United States Library of Congress, wikimedia

Eskalation

Die Situation blieb noch einige Jahre angespannt, mit gelegentlichen Zusammenstößen, doch insgesamt überschaubarDas änderte sich 1929: Offenbar akut verärgert über eine jüdische Demonstration an der Klagemauer attackierten Araber erneut in großem Maße Juden im sogenannten Buraq-Aufstand. Innerhalb von sieben Tagen starben 133 Juden und 116 Araber, letztere mehrheitlich, als die britischen Sicherheitskräfte den Aufstand niederschlugen. Ungefähr zeitgleich kam es zum Hebron-Massaker an 67 Juden, ausgelöst von falschen Gerüchten, dass die Juden Muslime “abschlachten” würden und die wichtige al-Aqsa-Moschee in Jerusalem stürmen wollten. Für israelische Historiker gelten die zwei Ereignisse mitunter als “point of no return“, ab welchem die Juden ihr Verhältnis zu den Arabern als eines von Verfolgung und Existenzkampf verstanden. In palästinensischer Geschichtsschreibung werden “Buraq-Revolution”, Hebron und ähnliche Vorfälle dagegen als antikolonialer Kampf interpretiert.

Die Briten waren überfordert. Sie fertigten Report nach Report an, in welchen sie meist die Araber für ihre Übergriffe verurteilten, doch zugleich recht treffend analysierten, woher die Wut stammte. Sie verhafteten Araber und Juden. Doch die Gewalt stoppen, konnten sie kaum. Zur Zeit des Hebron-Massakers war genau ein britischer Offizier in der Stadt mit 20.000 Einwohnern zugegen. Ab 1936 begannen sich Araber und Juden auch noch verstärkt gegen die Briten selbst zu richten, statt ausschließlich gegeneinander, etwa im Arabischen Aufstand von 1936 bis 1939. Die Situation im Mandatsgebiet sei bis 1937 “untragbar” geworden, so die von London eingesetzte Peel-Kommission, welche daraufhin eine Aufgabe und Teilung der Region vorschlug – der erste Teilungsplan, auf welchem alle künftigen basierten. Ein gemeinsamer Staat sei dabei zwecklos, so der Peel-Bericht, denn ein Zusammenleben von Juden und Arabern ausgeschlossen. Die Araber lehnten den Plan energisch ab; die Juden zeigten sich grundsätzlich offen. Die britische Regierung war interessiert, doch hatte keine Kapazität, sich mehr damit zu beschäftigen: In Europa braute sich Krieg heran.

Der Peel-Plan 1937 (Rote Linie: jüdischer Staat; Schwarze Linie: Britisch kontrollierte Zone).
Quelle: UK Gov, wikimedia

Die schnelle Lösung der Briten war stattdessen das “Weißbuch” von 1939: Die jüdische Migration nach Palästina wurde massiv eingeschränkt und würde künftig von der arabischen Mehrheit mitbestimmt werden; der Landkauf durch Juden wurde eingeschränkt; und in 10 Jahren würde ein unabhängiger Staat geschaffen werden, in welchem Juden und Araber gemeinsam leben. Diesmal waren die Juden erzürnt, schließlich wurde ausgerechnet zum Höhepunkt der Nazi-Herrschaft die Immigration blockiert. Im Zweiten Weltkrieg blieb die Lage zwar ruhig – die Juden befürchteten, dass das Afrikakorps der Nazis bis nach Palästina durchbrechen könnte -, doch direkt im Anschluss kam es zum heftigen Jüdischen Aufstand gegen die Briten, welcher bis 1948 andauerte.

Jüdischer Protest in Jerusalem gegen das Weißbuch, 1939.
Quelle: Matson Photo Service, wikimedia

Wo sind die Palästinenser? In diesem Explainer schreiben wir fast ausschließlich von “Arabern”, doch selten von “Palästinensern”. Der Grund ist, dass “Palästinenser” längste Zeit eine rein geografische Konnotation hatte: In Palästina lebten palästinensische Araber und palästinensische Juden. Wenn im frühen 20. Jahrhundert von “Palästinensern” die Rede war, meinte das also in der Regel sämtliche Bewohner der Region (bzw. des Mandatsgebiets), kein spezielles Volk oder gar Nation. Wann genau die Idee eines spezifischen palästinensischen Volkes aufkam, ist ein Politikum.

Klar ist: Der arabische Nationalismus erreichte Palästina etwa rund um den Zerfall des Osmanischen Reiches, doch bezog sich anfangs tendenziell auf einen Panarabismus – nicht zuletzt deswegen auch der Wunsch vieler palästinensischer Araber, Teil Syriens zu werden. Dennoch war diese Zeit, mit ihrer Opposition zum jüdischen Zionismus, ein möglicher Entstehungszeitpunkt für ein dediziert palästinensisches Nationalbewusstsein. Allerspätestens lässt sich dieses auf die Ära unter Jassir Arafat ab 1969 verorten. Geht es um die etwas breitere Frage einer “palästinensischen Identität” gehen einige Forscher und Beobachter, insbesondere von palästinensischer Seite, noch weiter und verorten sie schon Jahrhunderte früher oder ziehen einen Bogen zu antiken Volksgruppen.

Der ganz schwierige Teil_

(7 Minuten Lesezeit)

Ben-Gurion verkündet die Unabhängigkeit, 1948. Porträt von Theodor Herzl im Hintergrund.
Quelle: Rudi Weissenstein, wikimedia

Der Teilungsplan

Die Briten, geschwächt vom Zweiten Weltkrieg, verstanden, dass es für sie in Palästina nichts mehr zu gewinnen gäbe. Im Februar 1947 teilten sie der UN mit, dass sie ihr Mandat über Palästina aufgeben möchten. Im November beschloss die Staatengemeinschaft (damals aus 56 Staaten bestehend) die Resolution 181 (II), welche eine Teilung Palästinas empfahl. Ein jüdischer Staat, ein arabischer Staat und eine internationale Zone um Jerusalem würden kreiert.

Die Juden akzeptierten den Plan, doch die Araber lehnten ihn ab: Sie hatten seit jeher nur eine Einstaatenlösung unter sich akzeptiert, und fanden zudem, dass der Plan unfair sei. Die Juden, ein Drittel der Bevölkerung, hätten fast zwei Drittel des Landes erhalten. Davon war zwar ein großer Teil Wüste, doch eben auch einige der fruchtbarsten und entwickeltesten Gebiete (wobei diese Entwicklung laut der britischen Peel-Kommission in erster Linie auf die Juden zurückgegangen sei). Zudem dürfte hineingespielt haben, dass die palästinensischen Araber die Zeichen der Zeit auf ihrer Seite wähnten: Mehrere arabische Staaten waren zuletzt in der Umgebung unabhängig geworden, darunter Libanon, Ägypten, Syrien und Jordanien (damals noch manchmal Transjordan genannt). Sie alle hatten den Teilungsplan verurteilt und den Palästinensern Militärunterstützung angedeutet. Mit der Ablehnung der Araber begann unmittelbar ein Bürgerkrieg zwischen ihnen und den Juden.

Der UN-Teilungsplan 1947 (Orange: jüdischer Staat); Quelle: UK Gov, wikimedia

Der Bürgerkrieg

Der Bürgerkrieg hatte eine völlig andere Dimension als sämtliche andere Gewalt, welche Palästina in den letzten fünfzig Jahren erlebt hatte. Er begann mit dem Massaker durch Araber an den Insassen eines jüdischen Busses, doch schaukelte sich bis Mai 1948 auf über 2.000 Tote hoch. Israelische Historiker sprechen davon, dass die meisten Eskalationen von den Arabern ausgingen, doch dass Gewalt – auch gezielt gegen Zivilisten – von beiden Seiten verübt wurde, ist unbestritten. 

Auf jüdischer Seite sind vor allem die zwei Terrorgruppen Irgun und Lehi nennenswert. Sie waren als aggressivere Splittergruppen aus der Hagana hervorgegangen, da ihnen die größte jüdische Miliz eine zu moderate Linie fuhr, nicht zuletzt aufgrund einer eigens auferlegten Zurückhaltungspolitik (Havlagah). Irgun und Lehi verübten dagegen massenhaft Terrorangriffe, erst gegen die Briten im Jüdischen Aufstand, dann gegen die arabische Zivilbevölkerung. Sie wollten einen israelischen Staat mit Waffengewalt herstellen und befanden, dass nur Gewalt die Araber von Übergriffen abschrecken würde. Dafür attackierten sie selbst öffentliche Plätze und Zivilisten; etwa beim Anschlag auf das King David-Hotel 1946 und beim Deir-Yassin-Masaker an mindestens 107 palästinensischen Arabern 1948. Bei den Juden trafen die Gruppen auf geteiltes Echo: Ein Teil lehnte sie ausdrücklich ab, darunter die Hagana (nach zeitweiser Kooperation), wichtige Rabbis und viele prominente Juden im Ausland; ein anderer tolerierte oder zelebrierte sie gar: Getötete Araber aus Deir Yassin wurden von der Irgun in Westjerusalem paradiert und von der Bevölkerung bejubelt.

Gut zu wissen: Die Irgun ging später ebenfalls – gegen ihren eigenen Willen – in der IDF, der regulären Armee, auf. Sie war aber auch der Vorgänger der rechten Partei Herut, welche später zum heutigen Likud führte, welcher aktuell mit Benjamin Netanjahu den Premierminister Israels stellt.

Das King David-Hotel nach einem Anschlag jüdischer Terroristen 1946.
Quelle: wikimedia

Massaker wurden dabei mit Massakern vergolten: Araber attackierten wenige Tage nach Deir Yassin einen unbewaffneten Medizinkonvoi und ermordeten 79 Juden; und sie töteten im Ort Kfar Etzion weitere 127 Juden. Dieses vergolten die Juden mit dem al-Dawayima-Massaker an zumindest Dutzenden Arabern – und so weiter. Die Gewaltsamkeit beider Seiten versetzte die Zivilbevölkerung in Angst; beide Seiten nahmen an, in höchster Gefahr zu schweben, sollte sich der Gegner durchsetzen. Insbesondere die Araber fühlten sich exponiert; Zehntausende verließen noch im Bürgerkrieg ihre Heimat und flüchteten tiefer in das arabische Gebiet. Die Briten hatten dem Treiben dabei im Grunde nur noch von den Seitenlinien zugeschaut. Sie bereiteten ihren Abzug vor und finalisierten diesen bis Mai 1948. Palästina war auf sich allein gestellt.

Staatsgründung und Unabhängigkeitskrieg

Am 14. Mai riefen die Juden den Staat Israel aus, angeführt von Premierminister David Ben-Gurion. Unmittelbar darauf marschierten Truppen aus fünf arabischen Staaten in das ehemalige Mandatsgebiet Palästina ein: Ägypten, Syrien, Jordanien, Irak und Libanon. Der Bürgerkrieg zwischen palästinensischen Juden und Arabern wandelte sich zum Krieg zwischen Israel und einer panarabischen Koalition. 

Arabische Großoffensive zu Beginn des Krieges im Sommer 1948. Blaue Linie zeigt Israel.
Quelle: US Military Academy, wikimedia

Die Juden hatten bereits antizipiert, dass die Unabhängigkeitserklärung zu einem großen Krieg führen könnte. Sie hatten im Vorfeld die Hagana professionalisiert und sich um Waffenimporte bemüht. Da weder die USA noch die Sowjetunion und die UN die Importe gestatteten, musste Israel heimlich vorgehen und konnte nur über die Tschechoslowakei agieren. Unterstützt wurde es von vielen Juden und auch Nicht-Juden in der Welt, welche das britische Agieren in Palästina als anti-jüdisch wahrnahmen und das zionistische Projekt als “Underdog” und im Angesicht des Holocausts voranbringen wollten.

Gut zu wissen: Ein bemerkenswerter Unterstützer Israels war Gordon Levett, ein früherer Pilot in der britischen Royal Airforce. Er half den Juden, welche ihn anfangs für einen britischen Spion hielten, doch wenig Alternativen sahen, beim Aufbau der Logistik für Waffentransporte aus der Tschechoslowakei nach Palästina/Israel. Er baute auch die erste Fliegerstaffel des Landes auf, welche ironischerweise aus Nazi-deutschen Messerschmitt-Jets, mit Davidsternen versehen, bestand.

Mit hereingeschmuggelten Waffen und viel Immigration aus Europa erhöhte sich die Kampfkraft der Israelis mit jedem Tag. Den Arabern gelangen anfängliche Erfolge, doch relativ schnell drehte sich das Kriegsgeschick zugunsten Israels. Als 1949 ein Waffenstillstand geschlossen wurde, kontrollierte Israel ein Drittel mehr Gebiet, als ihm mit dem Teilungsabkommen 1948 zugestanden wäre; insgesamt 78 Prozent des Mandatsgebiets Palästina. Die Waffenstillstandslinie verlief entlang der “Grünen Linie”, welche Beobachter sehr an den heutigen Grenzverlauf erinnern dürfte. Die Arabergebiete wurden dabei allerdings nicht von einem Palästinenserstaat gehalten: Jordanien kontrollierte das Westjordanland samt Ostjerusalem (welches die Altstadt und die heiligen Stätten umfasst) und Ägypten kontrollierte den Gazastreifen.

Für Israel war es ein glorreicher Moment. Die Staatsgründung war gelungen; die Diaspora der Juden beendet und die historisch-religiöse Heimstätte in “Erets Yisrael” wiederhergestellt (auch wenn der Großteil der religiösen Stätten außer Reichweite blieb). Nicht nur das: Israel hatte seine Geburt gegen eine (tatsächlich nur zu Beginn) übermächtige Koalition verteidigt und sein Gebiet sogar noch ausgeweitet.

Die Lage in Israel/Palästina mit dem Waffenstillstand 1949:

  • Blau: Israelisch laut Teilungsplan und von Israel kontrolliert
  • Rot: Palästinensisch laut Teilungsplan, doch von Israel kontrolliert
  • Grün: Palästinensisch laut Teilungsplan, von Jordanien/Ägypten kontrolliert
  • Pink: Geplante neutrale Stadt Jerusalem, von Jordanien kontrolliert
  • Grau: Geplante neutrale Stadt Jerusalem, von Israel kontrolliert

Staatsgründung und Unabhängigkeitskrieg

Zwischen 14.000 und 27.000 Menschen starben im Ersten Israelisch-Arabischen Krieg, die genauen Zahlen sind gerade auf arabischer Seite unbekannt. Dazu kam die massenhafte Vertreibung von vor allem arabischen Palästinensern: Über 700.000, knapp 80 Prozent, flohen im Verlaufe des Bürgerkriegs oder Krieges in benachbarte Länder oder die von Ägypten und Jordanien besetzten Gebiete. Dazu dürfte innerhalb Israels eine “Binnenvertreibung” der verbleibenden rund 125.000 Arabern stattgefunden haben, da schätzungsweise 400 arabische Dörfer im Krieg zerstört oder entvölkert worden waren.

Für die Araber und insbesondere die palästinensischen Araber geriet diese Vertreibung zur Katastrophe, der Nakba. Es ist bis heute das wohl zentralste Element der palästinensischen Identität und, insofern ihr Nationalbewusstsein erst hinter 1948 verortet wird, der “Gründungsmythos” der Palästinenser (nur eben keineswegs mythologisch). Die israelische Interpretation weicht deutlich ab: Anstelle der Nakba werten sie die Ereignisse von 1947 bis 1949 als Unabhängigkeits- und Überlebenskampf, als “wir oder sie”. Was Palästinenser als “Flucht” oder “Vertreibung” bezeichnen, interpretieren manche Israelis mitunter als ein freiwilliges Verlassen, in der Erwartung, dass die Armeen Ägyptens, Jordaniens, Syriens und Co. innerhalb weniger Wochen die Juden vernichtet und den Weg zurück geebnet hätten (die fremden Armeen hätten sogar den Befehl zur temporären Evakuierung gegeben). Wenn palästinensische Flüchtlinge die Schlüssel ihrer alten Wohnungen im heutigen Israel präsentieren, um ihre Vertreibung zu unterstreichen, werten jene Beobachter das als Beweis: Natürlich nahmen sie die Schlüssel mit, sie dachten ja, dass sie in einigen Wochen wieder zurück seien, und zwar ohne lästige Juden nebenan. Das mag in bestimmten Fällen zugetroffen haben, doch kann kaum als bedeutsame Erklärung der Nakba herhalten und wird auch von israelischen Historikern kaum angenommen.

Auch auf jüdischer Seite begann ein Massenexodus: Rund 900.000 Juden verließen die arabischen Länder und Iran zwischen 1948 und den frühen 1970ern, teilweise aufgrund von Vertreibung, Repression und Anfeindungen, teilweise freiwillig aus dem religiösen oder wirtschaftlichen Wunsch heraus, in Israel zu leben. Es war eine fast vollständige Beendigung des jüdischen Lebens in der muslimischen Welt: 2019 betrug die Gesamtzahl der Juden in arabischen Ländern und Iran nur noch 12.700. Einige Beobachter, nicht zuletzt in Israel, kontrahieren diese Bewegung zur palästinensischen Nakba (bis hin zur Bezeichnung als “jüdische Nakba”), doch wie viel davon Flucht und wie viel davon Migration war, ist schwierig festzustellen (auch wenn die reine Größenordnung und die Tatsache, dass Migrationswellen meist zu Zeiten politischer Krisen geschahen, auf einen hohen Fluchtanteil hindeuten).

Die nächsten 75 Jahre

Damit waren die Weichen in Israel und Palästina gestellt. Ein neuer Staat für ein altes Volk, treu dem Motto seiner ersten Miliz in Blut und Feuer geboren, dessen reine Existenz ein spektakuläres historisches Comeback darstellte. Ein staatenloses Volk, welches wohl gerade erst anfing, sich als eigenes Volk zu verstehen, und dessen jahrzehntelangen Ängste sich bewahrheitet hatten. Tiefer Hass zwischen Juden und Arabern, welche Jahrhunderte nebeneinander gelebt hatten und es nun kaum noch taten. Und eine komplizierte geopolitische Gemengelage, mit drei Staaten auf einem Gebiet, welches zwei Staaten gehören sollte und welches selbst in einem Staat bereits unmöglich zu händeln gewesen war. Es kann kaum überraschen, dass der Weg dieses unheilvollen heiligen Landes ab 1948 nur noch chaotischer werden sollte.

Teil 2 – von 1948 bis 1995

Post-1948 | Die Kriege | Der Terror | Frieden?

(20 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • 1948 wurde Israel nach kurzem Krieg gegen eine arabische Koalition geboren, während die Flucht der Palästinenser begann.
  • Israel kollidierte 1967 erneut mit seinen arabischen Nachbarn und vergrößerte sein Gebiet bedeutsam – unter anderem mit der Besatzung von Gaza und Westjordanland.
  • Nach dem desaströsen Jom-Kippur-Krieg 1973 startete ein Friedensprozess, welcher 1979 mit Ägypten und 1994 mit Jordanien abgeschlossen wurde.
  • Die wichtigste Palästinenserorganisation war derweil die Terrormiliz PLO. Sie verübte nicht nur Attacken gegen Israel in aller Welt…
  • … sondern versuchte auch eine Machtbasis in Jordanien und im Libanon zu kreieren, was zu gewaltsamen Konfrontationen und Vertreibungen in beiden Ländern führte.
  • Ab 1975 setzte eine allmähliche, leichte Mäßigung in der PLO ein. Ausgerechnet die Erste Intifada 1987-1993 brachte Israel und die PLO an den Verhandlungstisch.
  • Das Ergebnis waren die Oslo-Abkommen, welche die politische Lage in Gaza und Westjordanland regelten – doch sie waren von Anfang an auf Folgeabkommen ausgelegt, welche es bis heute nicht gibt.

Post-1948_

(5 Minuten Lesezeit)

Gut zu wissen: Der erste Teil unseres großen Explainers zu Israel und Palästina deckte 3.200 Jahre ab, der zweite Teil nur 46 Jahre – und ist doch noch komplizierter. Wir werfen ein Licht auf die Phase zwischen der Staatsgründung Israels und der Vertreibung der Palästinenser 1948 bis zum ersten Durchbruch im israelisch-palästinensischen Friedensprozess 1995.

In diese Phase fallen die israelisch-arabischen Kriege und ihre Befriedung; die Entstehung eines palästinensischen Nationalbewusstseins; der gewaltsame Widerstand mit terroristischen Mitteln zur “Befreiung” Palästinas (welcher die Palästinenser mit mehreren arabischen Staaten in Konflikt brachte); und die allmähliche Entspannung zwischen den beiden Seiten.

In einem dritten Teil werden wir das vorläufige Scheitern des Friedensprozesses, die Verhärtung der Positionen und den Aufstieg der Hamas erläutern – und damit die Geschichte bis zum heutigen Tag vollenden.

Israel und Palästina, Teil 1

Der Prolog

Über 3.200 Jahre Geschichte waren vergangen, bis das, was heute Israel und die Palästinensergebiete sind, jene Form annahm, in welcher wir es heute wiedererkennen würden. Israeliten, Assyrer, Griechen, Römer, Araber, Türken und Briten hatten sich durch die Jahrtausende die Klinke gegeben, mit vielen Nebenakteuren, welche noch schneller kamen und gingen. In der Zeit des britischen Mandatsgebiets veränderten zwei Entwicklungen die Region nachhaltig: Die hohe jüdische Migration nach Palästina ab 1896, angetrieben vom wachsenden Antisemitismus in Europa, und der arabische Nationalismus, welcher ab etwa 1917 den gesamten Nahen Osten ergriff.

Araber und Juden kollidierten in Palästina immer öfter und immer gewaltsamer miteinander, vor allem ab 1920. In den 1930ern erreichte der Konflikt eine militärische Dimension und ergriff auch die Briten immer stärker. Erschöpft und resigniert vom Chaos gaben sie das Mandatsgebiet 1947 auf und die UN schlug einen Teilungsplan vor: Ein jüdischer Staat in Palästina, ein arabischer Staat in Palästina. Die Juden stimmten zu, die Araber lehnten ab.

Ein Bürgerkrieg brach aus, welcher mit der Staatsausrufung Israels am 14. Mai 1948 in einen zwischenstaatlichen Krieg überging. Fünf arabische Nachbarstaaten marschierten umgehend ein, doch Israel konnte sich verteidigen. Mit dem Waffenstillstand im Folgejahr vergrößerte es sein Territorium sogar. Der erste unabhängige jüdische Staat seit der Antike war wiedergeboren, die jüdische Diaspora beendet.

Eine andere Diaspora begann. Der Krieg 1948/49 führte zu Vertreibung von wohl über 720.000 Arabern aus dem Gebiet, welches Israel wurde. Parallel mit der Vertreibung bzw. Emigration von knapp 900.000 Juden aus muslimischen Ländern (welche jedoch nicht schlagartig, sondern über einige Jahrzehnte geschah) schuf das eine perfekte Trennlinie im Nahen Osten zwischen Muslimen und Juden, zwischen Arabern und dem neuen Staat Israel.

Wie ging es weiter?

Das frühe Israel

Mit dem Ende des Krieges von 1948 begann Israel, seinen neuen Staat zu formen. Die Knesset, das Parlament, wurde gebildet und 1949 eine erste Wahl abgehalten. Die sozialdemokratische Mapai unter Staatsgründer David Ben-Gurion (heute Labour) setzte sich durch und formte eine Koalition. Ein symbolischer Präsident wurde gewählt und Arabisch sowie Hebräisch zu den Landessprachen ernannt.

Demografisch bestand Israel zumeist aus mittel- und osteuropäischen Juden, da gerade die schweren Pogrome in Russland und später der Holocaust die Immigrationswellen seit 1896 ausgelöst hatten. Das veränderte sich recht rasant: Die jüdische Bevölkerung verdoppelte sich zwischen 1948 und 1951 mit 700.000 Migranten, davon 300.000 aus Nordafrika und dem Nahen Osten.

Der Fall der irakischen Juden ist ein Beispiel für die komplexen Vorgänge dieser Zeit. Allein 100.000 Juden migrierten von dort nach Israel, nachdem der Krieg von 1948 zu einer heftigen Zunahme an Antisemitismus und staatlichen Repressionen im Irak geführt hatte. Binnen weniger Monate setzte ein starkes Umdenken in der irakisch-jüdischen Community ein, welche in den Jahren davor wenig Interesse am Zionismus gezeigt hatte. Die Regierung verbot den Juden zwar erst die Emigration, um Israel nicht zu stärken, doch änderte später ihre Meinung: Sie wollte das Eigentum der Juden beschlagnahmen, eine unzufriedene Minderheit loswerden, ihr Verhältnis zu Großbritannien aufbessern und, wie Premier Nuri al Said selbst zugab, das ohnehin mit Flüchtlingen überforderte Israel destabilisieren (also eine Kehrtwende zur ursprünglichen Haltung). In einer “Operation Ezra und Nehemiah” benannten Luftbrücke flog Israel bis zu 130.000 Juden aus Bagdad aus. Geübt hatte es das nur ein Jahr davor bei der Evakuierung von rund 49.000 jüdischen Jemeniten in “Operation Magic Carpet“. Die Menschen kamen in riesigen Flüchtlingslagern namens Ma’abarot unter, welche bis 1963 bestanden.

Israel verfolgte eine Vision eines rasant wachsenden Staates, welcher schnell so viel jüdisches Leben auf der Welt wie möglich einfangen sollte. Der schon 1944 formulierte “Eine-Millionen-Plan” machte das offiziell und wurde entgegen jeder Kritik – etwa an den sozialen Folgen einer Massenimmigration – von Staatsführer Ben-Gurion durchgesetzt. Das “Rückkehrgesetz” verankerte endgültig, dass jeder Jude (oder Menschen mit jüdischen Großeltern) jederzeit nach Israel umziehen und die Staatsbürgerschaft erhalten dürfe.

Gut zu wissen: Das frühe Israel plagte mitunter ein für die Zeit nicht uncharakteristischer Rassismus: Der “Eine-Millionen-Plan” meinte in erster Linie nur europäische und weiße Juden, also Aschkenasim. Erst als das Ausmaß des Holocausts bekannt wurde, wurden auch die Mizrahim im Nahen Osten und Nordafrika mitgedacht – tatsächlich entstand der Begriff (“Östliche”) überhaupt erst dann. Bemerkenswert war auch eine Affäre um mutmaßlich vom Staat entführte Kinder jemenitischer Juden, welche an kinderlose Aschkenasim-Familien übergeben wurden.

Palästinensische Flüchtlinge fliehen 1948 aus Galiläa. Quelle: Fred Csasznik, wikimedia
Jüdische Flüchtlinge am Flughafen Lod in Irak, 1951. Quelle: National Photo Collection, wikimedia

Die frühen Palästinenser

Wo das Rückkehrgesetz allen Juden den Weg nach Israel ebnete, so wurde den vertriebenen oder geflohenen Arabern ausdrücklich die Rückkehr und Inbesitznahme ihres Eigentums verboten. Rund 720.000 palästinensische Araber fanden anderswo Unterschlupf, nämlich überwiegend in Jordanien, Libanon, Syrien und den nicht-israelischen Gebieten des ehemaligen Palästinas (seinerzeit von Ägypten und Jordanien besetzt). Knapp 180.000 verblieben mal mehr, mal weniger freiwillig in Israel. Die Flüchtlinge kamen in ihren Zielländern meist in Flüchtlingslagern unter, welche über die Jahre zu regelrechten Städten heranwuchsen. Ihre bürgerlichen Rechte waren – und blieben über die Jahrzehnte – vorwiegend massiv eingeschränkt, mit Ausnahme von Jordanien, wo sie anfangs problemlos Staatsbürger werden konnten.

Anders als Israel bildeten die Palästinenser nach 1948 vorerst keine klare politische Einheit. Ein Selbstverständnis als “palästinensisches Volk”, welches auf seine eigene Nationsbildung warte, begann wohl gerade erst, sich zu bilden und nahm in den 1960ern an Fahrt auf (angemerkt sei, dass einige Forscher eine dedizierte palästinensische Identität früher verorten). Das ist auch von der territorialen Lage der Zeit gespiegelt: Der Gazastreifen war seit 1948 von Ägypten besetzt, welches dort eine “Gesamtpalästinensische Regierung” bildete, die nur rein symbolische Funktion und selbst diese nur über Gaza einnahm. Das Westjordanland wurde derweil von Jordanien nicht nur besetzt, sondern auch annektiert, also ins eigene Staatsgebiet einverleibt. König Abdullah I. erklärte sich zum “König von Arabisch-Palästina”, auch mit Unterstützung palästinensischer Delegierter.

Den Palästinensern gilt diese Zeit als “Verlorene Jahre”. Ihre Heimat und oftmals ihr Eigentum waren verloren; die zumeist sehr lokalen Strukturen, welche die arabisch-palästinensische Gesellschaft in der osmanischen und britischen Ära zusammengehalten hatten, existierten nicht mehr. Die alte Elite hatte keinerlei Einfluss mehr. Physisch, kulturell und politisch waren die Palästinenser zwischen Ägypten, Jordanien, Syrien, dem Libanon und eben dem neuen Israel zerteilt. Kaum ein Wunder, dass die vorherrschende nationalistische Strömung nach wie vor der Panarabismus war, welcher einen arabischen Gesamtstaat forderte und von einflussreichen Persönlichkeiten wie Ägyptens Präsidenten Gamal Abdel Nasser vorangetrieben wurde. Es hätte durchaus das Ende der “Palästinenser” bedeuten können. Doch so, wie ein Krieg das Volk zerstreute, so war es wohl ein Krieg, welcher es wieder verband.

Die Kriege_

(5 Minuten Lesezeit)

Anwar Sadat (Ägypten), Jimmy Carter (USA) und Menahem Begin (Israel) bei der Unterzeichnung des
Camp David-Abkommens. Quelle: National Archives and Records Administration

Die Suez-Krise

Der fragliche Krieg brach 1967 aus, doch seine Vorgeschichte begann rund zehn Jahre früher. Unter dem selbstbewussten Präsidenten Nasser nahm Ägypten, gestärkt durch Waffenlieferungen der Sowjetunion, eine immer offensivere Haltung ein. Es blockierte Israels Zugang zum Roten Meer und verstaatlichte den Suezkanal, welcher offiziell Eigentum von Großbritannien und Frankreich war. Also vereinbarten die drei Staaten heimlich einen Angriff auf Ägypten: Tel-Aviv (damals die Hauptstadt Israels) würde vorpreschen, dann würden London und Paris nach einer nicht ernst gemeinten, für Ägypten unakzeptablen Waffenstillstandsforderung den Suezkanal besetzen.

Der Plan lief genauso ab, doch wurde durch einen Aufruhr bei der UN durchkreuzt. Beide Supermächte der Zeit, die USA und die Sowjetunion, verurteilten die Angreifer und forcierten einen Waffenstillstand. UN-Friedenstruppen nahmen auf dem Sinai Stellung. Israel, Frankreich und Großbritannien mussten sich zurückziehen; Ägypten gab die Blockade Israels auf und stoppte palästinensische Angriffe aus dem Gazastreifen heraus. Die “Suezkrise” hatte zwei große Lehren: Ägypten fühlte sich gestärkt, da es den Krieg politisch für sich entschieden hatte, und Israel fühlte sich gestärkt, da es vor der Waffenruhe völlig allein, ohne britisch-französische Hilfe, die gesamte Sinai-Halbinsel überrannt hatte.

Gut zu wissen: Drei weitere Besonderheiten der Suezkrise: Sie war die erste große Probe für die UN und ihre erste Friedensmission; sie war eines der sehr wenigen Male, dass die USA und die Sowjetunion geopolitisch übereinstimmten; und sie bildete faktisch das Ende der britischen Großmachtambitionen, war gewissermaßen das letzte Aufbäumen des Empire.

Der Sechstagekrieg

Im Jahr 1967 erreichten die Spannungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn einen erneuten Höhepunkt. Ägypten, Syrien und Jordanien formten Verteidigungsbündnisse untereinander (welche unter dem Vorwand einer israelischen Aggression als Angriffspakt dienen könnten); Ägypten stationierte Truppen in höchster Alarmstufe auf dem Sinai und verwies die UN-Friedenstruppen des Landes. Im Mai 1967 kündigte Nasser an, dass er Israels Meereszugang erneut blockieren werde – obwohl Israel, welches 90 Prozent seines Öls über das Rote Meer importierte, das nur Tage vorher ausdrücklich als Kriegsgrund beschrieben hatte. Ein “Wahnsinn”, so US-Präsident Lyndon B. Johnson später privat über Nassers Entscheidung.

Am 5. Juni 1967 führte Israel einen überraschenden Erstschlag durch. Es zerstörte handstreichartig die ägyptischen Luftstreitkräfte (und zwar so effektiv, dass sich bis heute Gerüchte halten, dass es vom Ausland unterstützt worden sein müsse) und besetzte bis zum 10. Juni erneut den gesamten Sinai sowie den Gazastreifen. Ostjerusalem und das Westjordanland eroberte Israel innerhalb von nur einem Tag von Jordanien. Genauso lang dauerte es, Syrien von den Golanhöhen zu vertreiben. Während Israel die strategisch wertvollen Höhen und wohl auch Ostjerusalem annektierte (also zum eigenen Staatsgebiet erklärte), begann es im Westjordanland und in Gaza eine Militärbesatzung, welche bis heute anhält. 

Der Sechstagekrieg geriet zum Desaster für die Araber und zu Israels militärischer Sternstunde. Die Ägypter analysierten die Gründe für den israelischen Sieg recht treffend: Bessere Waffen, Kommandostrukturen und Organisation; Luftüberlegenheit – und der Wille zum Kämpfen. In den Worten des damaligen Armeechefs und späteren Premiers Itzhak Rabin: “Hätten [die Soldaten] nicht gesiegt, wäre die Alternative die vollständige Auslöschung gewesen”. 

Gut zu wissen: Obwohl Israel den Erstschlag durchführte, gilt der Sechstagekrieg heute als Paradebeispiel für einen vorbeugenden oder präventiven Krieg. Eine verbreitete Meinung unter (Militär-)Historikern lautet: Kein einzelner Schritt der Araber sei an und für sich eine Kriegserklärung gewesen, doch zusammengenommen hätten sie eine Kriegsabsicht angedeutet. Noch wichtiger: Die Manöver hätten den Druck auf Israel, welches mangels viel Territorium (im Fachsprech “strategischer Tiefe“) dem Gegner wenig “Vorsprung” bieten darf, intolerabel erhöht. Im arabischen Raum wird das zurückgewiesen und der Krieg als ungerechtfertigter Angriffskrieg gewertet.

Israelische Vorstöße an der Sinai-Front im Sechstagekrieg 1967.
Quelle: Department of History, U.S. Military Academy

Blütezeit und Jom-Kippur-Krieg 

Israels Sieg versetzte das Land in Ekstase. “Siegesmünzen” kamen in Umlauf, ein Babyboom begann und die israelische Wirtschaft florierte dank Sinai-Ölquellen und viel Tourismus, Immigration und Auslandsinvestitionen (der Krieg hatte Israel weltweit in die Schlagzeilen befördert). Zum ersten Mal seit 1948 hatten Juden wieder Zugang zu den heiligen Stätten in Jerusalem (auch wenn die heiligste, der Tempelberg, den Muslimen zur Verwaltung übergeben wurde) und zum ersten Mal seit 600 Jahren zur Höhle der Patriarchen in Hebron.

Anders in den arabischen Staaten, wo der Schock tief saß. In der “Khartum-Resolution” legten sie sich darauf fest, keine Verhandlungen mit Israel aufzunehmen, womit auch ein israelischer Friedensvorschlag im Sande verlief. Er sah die Aufgabe der Sinai- und Golan-Besatzung im Gegenzug für Friedensverträge (und eine diplomatische Anerkennung vor) und folgte damit der UN-Formel “Land für Frieden“, welche später wieder relevant werden würde.

1973 wurden die Selbstbilder in der Region erschüttertÄgypten, inzwischen unter Präsident Anwar Sadat, und Syrien führten einen gut geplanten Überraschungsangriff gegen Israel durch, ausgerechnet am höchsten Feiertag Jom Kippur. Der Sicherheitsapparat des Landes hatte diesen völlig übersehen, obwohl ihm zahlreiche Warnungen zugespielt worden waren – laut Historikern, weil er die Gegner nach dem Erfolg 1967 und einem relativ harmlosen Grenzkonflikt 1969/70 unterschätzt hatte. Ägypten und Syrien stoßen in israelisch gehaltenes Gebiet vor. Kurzzeitig gab es Sorgen, dass sogar die Existenz des Staates gefährdet sein könnte. Das realisierte sich nicht und Israel eroberte binnen zwei Wochen sämtliches Territorium zurück, doch der Konflikt hatte dem Land aufgezeigt, dass es sich nicht ewig auf seine militärische Überlegenheit verlassen könne und nicht überheblich werden dürfe. Ägypten erlaubte der Krieg derweil, die nationale Schande von 1967 zu überwinden. Für Israel wurde ein Friedensprozess interessant, für Ägypten wurde er möglich.

Gut zu wissen: Die israelisch-arabischen Kriege passten sich in den Konflikt der Supermächte ein. Die USA unterstützten Israel, die Sowjetunion hingegen die arabischen Staaten. Diese Gemengelage hatte sich früh nach der Staatsgründung Israels abgezeichnet: Ben-Gurion schloss in seiner ersten Regierung die Stalinisten aus und antisemitische Aktivitäten im Sowjetraum verärgerten die Israelis. Andersherum verfolgten mehrere arabische Staaten einige Jahre lang eine Art pragmatischen wirtschaftlichen Sozialismus.

Ein bis dahin einzigartiger Friedensprozess nahm seinen Lauf. Ägypten unter dem recht unideologischen Sadat drückte 1977 plötzlich den Wunsch nach ernsthaften Verhandlungen aus, was Israel annahm. Sadat besuchte gar Jerusalem und sprach vor der Knesset – ein Tabubruch. Die USA, anfangs skeptisch, übernahmen die Mediation des Friedensprozesses, welcher im Camp-David-Abkommen 1978 seinen erfolgreichen Abschluss fand. Die beiden Kriegsparteien schlossen offiziell Frieden. Im Gegenzug gab Israel die Sinai-Halbinsel an Ägypten zurück, welche es zuvor 11 Jahre lang kontrolliert hatte, frei nach “Land für Frieden”. Der Gazastreifen verblieb israelisch: Ägypten hatte keinerlei Wunsch, die Region zurückzuerhalten. Jegliche Frage nach palästinensischer Souveränität wurde in dem Abkommen ausgeklammert. Ägypten kümmerte sich um Ägypten, der Nassersche Panarabismus war vorbei.

Im Rest der arabischen Welt sorgte Ägyptens unilateraler Frieden für Schock. Die Arabische Liga schloss das Land aus und Sadat wurde 1981 von militanten Islamisten ermordet. Dennoch bot es die Basis für ein späteres israelisch-jordanisches Friedensabkommen 1994, mit welchem die beiden Staaten auch lange Fragen nach ihrer gemeinsamen Grenze und der Verwaltung von Wasserzugängen lösten. Heute pflegt Israel sowohl mit Ägypten als auch Jordanien konstruktive, manchmal gar freundliche Beziehungen, welche sich von der Wirtschafts- bis hin zur Sicherheitskooperation erstrecken. Ungelöst blieb der Konflikt mit Syrien und Libanon, wo bis heute offiziell Kriegszustand herrscht.

Der Terror_

(6 Minuten Lesezeit)

Ägyptens Nasser (Mitte) vermittelt einen Waffenstillstand zwischen Arafat (links) und König Hussein (rechts)
– einen Tag später starb er an einem Herzinfarkt. Quelle: wikimedia

Die Palästinenser finden zu sich

Mit dem Sechstagekrieg 1967 erlebten die Palästinenser einen zweiten Wendepunkt nach der Vertreibung 1948. Hunderttausende von ihnen gerieten im Westjordanland und im Gazastreifen unter Kontrolle Israels; und es wurde ihnen endgültig klar, dass sie sich nicht auf die anderen arabischen Staaten verlassen konnten, um Israel zu vernichten und eine eigene Staatlichkeit herzustellen. Der Panarabismus zerstreute sich – sein Anführer, Gamal Abdel Nasser, hatte nach 1967 als Präsident Ägyptens abtreten müssen – und machte Platz für ein dediziert palästinensisches Nationalbewusstsein. Ein Beispiel dafür war auch eine Anpassung der “Palästinensischen Nationalcharta” 1968: War vorher davon die Rede, dass auch “palästinensische Juden” Palästinenser seien, so wurde das später angepasst, um (praktisch) nur Araber zu meinen. 

Gut zu wissen: So sehr das Verschwinden des Panarabismus zum palästinensischen Nationalbewusstsein beitrug, so sehr dürfte seine Existenz ebenfalls eine notwendige Bedingung gewesen sein: Viele der nach 1948 aufgewachsenen Palästinenser sahen sich eben nicht als Syrer, Libanesen oder Jordanier, sondern als “Araber”. Als sich die Vision einer “arabischen Nation” aber verlor, rückte die Identität als Palästinenser in den Vordergrund. 

Die zentrale Organisation der Palästinenser wurde ab 1964 die PLO, die Palästinensische Befreiungsorganisation. Sie war eine aus mehreren arabischen Ländern heraus operierende Dachorganisation, unter welcher sich Gruppen wie die Fatah und die marxistisch-leninistische Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) versammelten. Sie alle waren militant und sich einig darin, dass nur Gewalt zur “Befreiung” der Palästinenser und Zerstörung Israels führen könne. Unter dem charismatischen Anführer Yassir Arafat gewann die PLO mit ihren Kämpfern, den fedayeen, rasch an Profil und Beliebtheit unter den Palästinensern.

Über die Jahre führte die PLO eine Vielzahl an Terroraktionen durch. Im Münchner Olympia-Attentat 1972 ermordete und entführte sie israelische Olympia-Teilnehmer; sie entführte über die Jahre zahlreiche Passagierflugzeuge (mit der von Israel erfolgreich gelösten Entebbe-Entführung als wohl bekanntestem Einzelfall); attackierte 1973 den Flughafen Athen; und nahm Geiselnahmen oder Anschlagsversuche auf israelisches Botschaftspersonal vor. Dazu kam eine hohe Zahl an Terrorattacken und Massakern in Israel selbst, etwa das Ma’alot-Massaker 1974, bei welchem 31 Zivilisten starben, oder der Küstenstraßen-Anschlag 1978 auf einen Ausflugsbus, bei welchem 37 Menschen starben und welcher zur Störung der ägyptisch-israelischen Friedensverhandlungen dienen sollte (vor dem Hintergrund des Hamas-Terrorangriffs 2023 mit mindestens 1.300 Toten verblassen die Todeszahlen, doch es handelte sich damals um die schwersten Anschläge in der Geschichte Israels, welche im Land für viel Aufsehen sorgten).

Ausgebrannter israelischer Bus nach dem Küstenstraßen-Anschlag 1978. Quelle: IDF Spokesperson’s Unit

Gut zu wissen: Sprache hat Bedeutung, und im Nahostkonflikt gleich umso mehr. Die Bezeichnung der Aktivitäten der PLO als Terrorakte mag Beobachtern aufstoßen, welche sie im Kontext eines “Widerstands” oder eines “Befreiungskampfs” erkannt haben möchten. Selbst die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) beschreibt die PLO in einem “jungen Politik-Lexikon” fast schon harmlos als “[Kämpfer] für die Errichtung eines eigenen Staates für die Palästinenser”. Nun sind Worte allerdings auch nicht völlig willkürlich und bedeutungsleer. Die whathappened-Redaktion verstünde nicht, wo der Begriff “Terrorismus” bei aller Unschärfe jemals anwendbar wäre, wenn nicht bei den Aktivitäten der PLO. 

Die PLO destabilisiert Jordanien

Die operative Basis der PLO war in erster Linie Jordanien, regiert von König Hussein. Das Verhältnis war zwiegespalten: Einerseits nahmen die Jordanier die Palästinenser bereitwillig auf und boten ihnen (als lange Zeit einziger arabischer Staat) einen Zugang zur Staatsbürgerschaft sowie weitreichende politische Repräsentation: Die Hälfte der Parlamentssitze ging an die Neuankömmlinge. Andererseits blickten sie mit Unbehagen auf die Palästinenser, welche schlagartig zwei Drittel der Bevölkerung ausmachten, die Politik maßgeblich beeinflussten, 100.000 Kämpfer im Land hatten und mit Attacken auf Israel einen aktiven Konflikt mit dem Nachbarstaat herauf provozierten (es half auch nicht, dass 1951 ein palästinensischer Nationalist König Abdullah I., Husseins Großvater, ermordet hatte). Erfolgreiche Operationen der PLO machten diese immer populärer und stärkten ihren Einfluss innerhalb Jordaniens. Sie agierte zunehmend wie ein Staat im Staat, ignorierte die jordanischen Gesetze sowie Anweisungen der Regierung, verweigerte jede Überwachung durch das Militär und arbeitete relativ offen darauf hin, die Kontrolle im Staat zu übernehmen.

Das brachte Jordanien in eine Bredouille. König Hussein hatte Angst vor der öffentlichen Reaktion, sollte er gegen die im Ausland beliebten und inländisch tief verankerten Palästinenser vorgehen, doch wollte zugleich die Autorität seiner Regierung wiederherstellen, welche nicht einmal mehr die Hauptstadt Amman noch im Griff hatte. Anfangs wählte er eine vorsichtige Eindämmungspolitik gegen die PLO. Diese reagierte mit Eskalation. Es kam zu immer häufigeren und größeren Gefechten, bevor Hussein und Arafat nach Vermittlung Nassers einen Waffenstillstand verkündeten – an welchen sich Teile der PLO allerdings nicht hielten. Anschlagsversuche auf Hussein, Gefechte mit dem Militär und fünf Flugzeugentführungen waren die Folge. 

Hussein hatte genug und die Lage eskalierte 1970 in den Schwarzen September. Die jordanische Armee ging großflächig gegen die PLO vor. Sie benötigte zehn Monate, um ihr Land wieder unter Kontrolle zu bringen. Yassir Arafat floh nach Kairo, die PLO verlagerte sich in den Libanon und die neue palästinensische Terrormiliz “Schwarzer September” begann, gezielt gegen jordanische Ziele vorzugehen, ermordete beispielsweise Jordaniens Premierminister. Später nahm sie auch Terroranschläge gegen jüdische und israelische Ziele in aller Welt vor.

Die PLO destabilisiert den Libanon

Die operative Basis der PLO wurde der südliche Libanon. Das verschärfte eine ohnehin angespannte Lage in dem Land, welches die Palästinenser 1948 eigentlich recht warm empfangen hatte (auch wenn es sie nie mit gleichwertigen Bürgerrechten ausstatten würde): Die PLO begann, in den großen Flüchtlingslagern im Land ihre Machtbasis auszuweiten und zunehmend Einfluss auf die Politik des Libanons zu nehmen. Mit regelmäßigen Angriffen in den israelischen Norden provozierte sie zudem Vergeltungsangriffe Israels. Besonders heikel war, dass die PLO eine ohnehin fragile Machtbalance zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionen im Libanon ins Wanken brachte.

Die Destabilisierung durch die PLO führte den Libanon direkt in einen schweren Bürgerkrieg, welcher von 1975 bis 1990 andauerte. Er begann mit Zusammenstößen zwischen christlichen und palästinensischen Milizen, doch weitete sich schnell auf das gesamte Land aus. Als die PLO mitten im Bürgerkrieg 1982 einen Anschlag auf Israels Botschafter in London verübte und sich dann aus dem Libanon heraus Feuergefechte mit dem Nachbarland lieferte, startete Israel eine Invasion. Es besetzte den Süden Libanons und belagerte Beirut, doch zog sich nach einigen Monaten zurück (den Süden Libanons gab es erst 2000 vollständig auf). Der Libanon geriet 29 Jahre lang unter Besatzung Syriens, welches sich ebenfalls in den Bürgerkrieg eingeschaltet hatte.

Gut zu wissen: Die israelische Invasion des Libanons dürfte zum Erstarken der schiitischen, proiranischen Elemente im Land geführt haben. Das meint in erster Linie die Hisbollah, welche den Libanon heute faktisch kontrolliert.

Gut zu wissen: Ein weiterer Konflikt der PLO mit einem arabischen Staat geschah 1991 im Ersten Golfkrieg: Arafat sprach Iraks Saddam Hussein seine Unterstützung bei der Invasion Kuwaits aus, woraufhin Kuwait nach dem Kriegsende gewaltsam 200.000 Palästinenser aus dem Land vertrieb. Arafat erklärte später: “Was Kuwait den Palästinensern angetan hat, ist schlimmer, als was Israel den Palästinensern in den besetzten Gebieten angetan hat”.

Mäßigung

Die PLO floh bereits mit der israelischen Invasion 1982 nach Tunis, Tunesien. Dort setzte ein Wandel in ihrem Denken ein: Plötzlich sprach sie über Frieden.

Yassir Arafat war seit längerem ein verhältnismäßig moderater Akteur der PLO, welcher Terrorattacken zwar häufig und gezielt einsetzte, aber etwas vorsichtiger agierte als aggressivere Fraktionen wie die PFLP und Schwarzer September. Bereits 1974, also nach der Vertreibung aus Jordanien, hatte er in der PLO ein Zehn-Punkte-Programm durchgesetzt, welches als temporäre Akzeptanz der Existenz Israels gelesen werden konnte und andere Wege zur “Befreiung” Palästinas als Gewalt nicht ausschloss. Das führte zur Abspaltung radikalerer Elemente der PLO in die (relativ kurzlebige) “Revisionistische Front”. Die Mäßigung der PLO in ihrem weit entfernten tunesischen Exil bereitete einen Weg zu den Osloer Abkommen. Doch ein Puzzlestück fehlte dafür noch, denn aus israelischer Sicht war die PLO weiterhin eine Terrororganisation, welche – temporäre Akzeptanz hin oder her – noch immer die Zerstörung des jüdischen Staates im Sinn habe.

Der Weg zum Frieden_

(4 Minuten Lesezeit)

Madrid-Konferenz, US-Präsident George H. W. Bush in Mitte. Quelle: David Valdez

Die erste Intifada

Während Israel mit seinen Nachbarn Krieg führte und Frieden schloss und die PLO Terror verbreitete und arabische Staaten destabilisierte (oder nach Lesart ihrer Unterstützer den Befreiungskampf führte), war im Westjordanland und im Gazastreifen im Grunde alles auf das Jahr 1967 eingefroren. Die Israelis hatten seit ihrer Besatzung das Militärrecht verhängt und das öffentliche Leben der Palästinenser weitestgehend eingeschränkt. 1982 stimmte Jerusalem im Zuge des ägyptisch-israelischen Friedensvertrags zu, das in eine militärisch-zivile Hybridverwaltung umzuwandeln, womit immerhin Beamte und nicht mehr Generäle viele Teile des gesellschaftlichen Lebens der Palästinenser bestimmten. Dennoch: Eine solche jahrzehntelange Besatzung ohne Annexion, Absorption oder anderweitige Lösung war ungewöhnlich.

Der Frust unter den Palästinensern stieg über die Jahre. Israel konnte aufgrund des Militärrechts recht willkürlich und mit wenig rechtsstaatlicher Kontrolle gegen die Bevölkerung vorgehen, etwa Terrorverdächtige verhaften und Ausgangssperren verhängen. Die wirtschaftliche Lage der Gebiete war schwach, da in sie nur wenig Kapital floss; und obwohl sehr viele Palästinenser in Israel arbeiteten, war die Arbeitslosigkeit hoch und die “unterqualifizierte” Arbeitsquote noch höher. Ein hohes Bevölkerungswachstum vergrößerte den Druck auf die Wirtschaft der Palästinensergebiete. Für besonders viel Eindruck sorgte, dass Israel ab 1985 Palästinenser aus den besetzten Gebieten heraus deportierte, auch wenn die Zahl mit knapp 50 Betroffenen recht niedrig blieb. Das schuf das Gerücht, dass eine Entvölkerung bevorstehen könnte. Es wurde dadurch unterstrichen, dass die Siedlungspolitik Israels in dieser Zeit an Fahrt aufnahm: Von 1984 bis 1988 verdoppelte sich die Zahl der jüdischen Siedler im Westjordanland und Gazastreifen nahezu von 35.000 auf 64.000.

1987 brach sich die Wut ihren Bann. Ein Lkw-Vorfall, bei welchem vier Palästinenser starben, führte zu Massendemonstrationen und Ausschreitungen, welche in die Erste Intifada (“Aufstand”) gipfelten. Friedliche und gewaltsame Aktionen der Palästinenser trafen auf ein robustes, oftmals gewaltsames Vorgehen der israelischen Sicherheitskräfte (sie feuerten beispielsweise bis 1988 mit scharfer Munition auf Protestler). Organisiert war die Intifada lokal und äußerst dezentral, auch wenn Gruppen wie die PLO und islamistische Organisationen in sie einwirkten und versuchten, eine zentrale Rolle einzunehmen. Darunter war auch die Hamas, welche um diese Zeit herum geboren wurde, und der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ), welcher schon 1981 aus der ägyptischen Muslimbruderschaft entstanden war.

Die Intifada dauerte etwa fünf Jahre lang an. Bis zu 200 Israelis wurden getötet und nahezu 2.000 Palästinenser, wobei knapp 800 als mutmaßliche “Kollaborateure” in Lynchjustiz von der “eigenen” Seite ermordet worden waren. Israel erlebte zum ersten Mal Selbstmordattentate und Bombenanschläge; zudem war die Aufstandsbekämpfung äußerst teuer und das Vorgehen der Sicherheitskräfte brachte Israel viel Kritik aus dem Ausland ein. Also öffnete Jerusalem sich ungefähr zeitgleich mit einer inzwischen gemäßigteren PLO ernsthaften Friedensgesprächen.

Gut zu wissen: Das harte Vorgehen Israels in der Intifada führte zur Gründung von B’Tselem, einer israelischen Menschenrechte-NGO, welche durch scharfe Kritik am Staat bekannt geworden ist und inländisch selbst Objekt von Diskussionen geworden ist. Sie ist eine von drei nennenswerten Organisationen (neben Amnesty International und Human Rights Watch), welche Israel vorwerfen, “Apartheid” zu betreiben – ein heikler und hoch kontroverser Vorwurf.

Barrikaden während der Ersten Intifada. Quelle: Abarrategi, wikimedia

Das Oslo-Abkommen und das geteilte Westjordanland

Israel unter Premier Yitzhak Rabin und die PLO unter Yassir Arafat nahmen geheime Gespräche auf. 1988 erkannte Arafat das Existenzrecht Israels an und erklärte eine Zweistaatenlösung zum Ziel, eine scharfe Abkehr der früheren maximalistischen PLO-Linie. Bei der Madrid-Konferenz 1991 trafen beide Seiten direkt aufeinander, vermittelt durch die USA und die Sowjetunion sowie begleitet von einer Reihe arabischer Delegationen. Zum ersten Mal seit wohl über 45 Jahren sprachen die ehemaligen “palästinensischen Juden” und eine politische Vertretung der “palästinensischen Araber” damit wieder öffentlich von Angesicht zu Angesicht miteinander und hatten keine andere Wahl, als einander anzuerkennen.

1993 erreichten die Verhandlungen mit dem Oslo-Abkommen einen Durchbruch – es war das erste Abkommen zwischen Israelis und Palästinensern überhaupt. Dem folgte 1995 das Oslo-II-Abkommen. Gemeinsam schufen die Abkommen einen Weg für Frieden in der Region: Die PLO erkannte Israel an, würde nicht mehr dessen Zerstörung verfolgen und schwor dem Terrorismus ab. Israel erkannte die PLO als rechtmäßige Vertretung der Palästinenser an und würde seine Truppen aus Teilen von Gazastreifen und Westjordanland abziehen. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) wurde als palästinensische de-facto-Regierung eingeführt; die PLO ging in ihr auf.

Das Westjordanland wurde in drei Gebiete aufgeteilt: A, B und C. In den A-Gebieten, welche die größten Städte umfassen, übt die PA zivile und Sicherheitskontrolle aus. In den eher ländlichen, doch besiedelten B-Gebieten besitzt die PA die zivile Kontrolle, doch Israel die Sicherheitskontrolle. Die (damals) kaum besiedelten C-Gebiete gingen komplett unter israelische Kontrolle.

A, B und C-Gebiete im Westjordanland. Die Mauer und ein Großteil der Siedlungen sind nach den
Ereignissen dieses Explainers hinzugekommen. Quelle: Wickey-nl, wikimedia

Das war kaum eine finale Lösung. Ziel war es, binnen fünf Jahre weitere Verhandlungen aufzunehmen und die palästinensische Frage endgültig zu lösen. Doch so kam es nicht. Stattdessen sollte die Phase der Hardliner, der Hamas und der gegenseitigen Beschuldigungen beginnen. Und das bringt uns in die heutige Zeit – in den Teil 3 unseres Explainers.

Teil 3 – von 1955 bis heute

Die Suche nach Frieden | Zusammenbruch | Konfrontation

(25 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Nach jahrzehntelangem Konflikt zeichnete sich ab 1993 ein Weg zum Frieden für Israelis und Palästinenser ab.
  • Die Oslo-Abkommen waren vage und bedingt beliebt, doch boten Potenzial. Sie führten zu den Camp-David-Verhandlungen 2000.
  • Dort sprachen beide Seiten konkret über eine Staatsgründung Palästinas und einen Frieden – doch eine Einigung kam nicht zustande.
  • Das führte unmittelbar in den Ausbruch der zweiten Intifada, einem äußerst gewaltsamen, fünfjährigen Aufstand der Palästinenser von 2000 bis 2005.
  • Die Intifada bedeutete das faktische Ende des Friedensprozesses. Israel wählte die Abkapselung: Es baute eine Mauer im Westjordanland und zog unilateral aus Gaza ab.
  • Nach einem Bürgerkrieg unter den Palästinensern übernahm die radikale Hamas 2007 die Macht in Gaza. Seitdem bekriegen sich Israel und Hamas regelmäßig.
  • Nach einem schweren Krieg 2014 schien (relative) Ruhe einzukehren; die Hamas wirkte kooperativer – doch der Terrorakt 2023 zeigte falsche Annahmen Israels.
  • Ironischerweise könnte der aktuelle Gewaltausbruch eine erneute Chance auf Frieden bieten.

Die Suche nach Frieden_

(11 Minuten Lesezeit)

Der lange Prolog

Israel und Palästina, Teil 1 (Oktober 2023)
Israel und Palästina, Teil 2 (Oktober 2023)

Als Israel 1948 die Staatsgründung vollzog und einen Verteidigungskrieg gegen sämtliche arabische Nachbarn gewann, hätte es wie das Ende des Konflikts in der Region Palästina aussehen können. Der jüdische Staat war Tatsache, die arabischen Staaten waren beeindruckend geschlagen und ein Großteil der palästinensischen Araber war aus dem Gebiet vertrieben. 

Und doch sollte es nur die Einführung in 75 Jahre weiterer Gewalt werden. Israel und seine Nachbarn führten noch mehrfach Kriege; auf einen spektakulären israelischen Sieg 1967 folgte Ernüchterung sechs Jahre später, als Ägypten und Syrien ein Überraschungsangriff gelang, welchen Israel nur mühsam zurückschlug. Erschöpft vom Kämpfen gingen Israel und Ägypten bis 1978 einen Friedensvertrag ein; 1994 folgte Jordanien.

Schwieriger bleib das Verhältnis mit den Vertriebenen. Die palästinensischen Araber gingen nicht in den Bevölkerungen der Nachbarstaaten auf, sondern entwickelten ein eigenes Nationalbewusstsein als Palästinenser. Unter dem Banner der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) begann eine Terrorwelle gegen Israel und Juden, welche die PLO als Widerstandskampf zur “Befreiung” eines (arabischen) Palästinas verstand. Sie begann allerdings auch Destabilisierungskampagnen gegen Jordanien und den Libanon, zwei Länder, aus welchen sie heraus operierte, und wurde aus beiden vertrieben; landete im Exil im fernen Tunesien.

Israel hatte im Sechstagekrieg 1967 sein Territorium auf das heutige Maß erweitert: Zum Staatsgebiet 1948 kamen das von Jordanien annektierte Westjordanland (samt Ostjerusalem), der von Ägypten besetzte Gazastreifen und die syrischen Golanhöhen hinzu. Während letztere annektiert wurden (und Ostjerusalem faktisch auch), blieben Westjordanland und Gazastreifen Besatzungsgebiet.

Hunderttausende Palästinenser in den Besatzungsgebieten lebten jahrzehntelang unter israelischem Militärrecht. Irgendwann übernahm eine zivile Verwaltung, doch die Rechte der Palästinenser blieben spärlich und die Eingriffsmöglichkeiten der israelischen Behörden teils willkürlich hoch. Die Wirtschaft beider Gebiete war desaströs; das Bevölkerungswachstum hoch. Israelische Siedlungen begannen ab den 1980ern, vermehrt in den besetzten Gebieten aufzutauchen.

Ein großer Gewaltausbruch ereignete sich 1987. Ausgelöst von einem relativ kleinen Vorfall gingen Tausende, dann Zehntausende und zuletzt Hunderttausende Palästinenser auf die Straßen. Friedliche Demonstrationen und gewalttätige Ausschreitungen gingen Hand in Hand; die israelischen Sicherheitskräfte reagierten kontrovers robust. Es handelte sich um die Erste Intifada, den “Aufstand”.

Die fünf Jahre währende Intifada erschöpfte Israel und machte es bereit, einen Frieden mit der PLO in Erwägung zu ziehen. Auch die Terrormiliz war unter ihrem inzwischen gemäßigten Anführer Yasser Arafat ebenfalls willens, Schritte auf Israel zuzugehen. Also vertieften sich die Geheimkontakte der beiden Seiten.

Ein Friedensprozess nahm seinen Weg. Schon 1988 erkannte Arafat das Existenzrecht Israels an und machte eine Zweistaatenlösung zum Ziel, anstelle der Vernichtung Israels. 1991 gab es erstmals öffentliche, persönliche Gespräche. 1993 und 1995 gipfelten diese in den zwei Oslo-Abkommen.

In den Oslo-Abkommen erkannten sich die beiden Seiten gegenseitig an und richteten die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) als vorübergehende de-facto-Regierung der Palästinenser ein. Sie vereinbarten einen teilweisen Abzug des israelischen Militärs und die Bildung eines Palästinensischen Legislativrats (PLC), welcher als de-facto Parlament die Macht von der PA übernehmen sollte. Und sie vereinbarten weitere Verhandlungen, um die Lage in der Region endgültig zu lösen. Bis dahin würde das Oslo-II-Abkommen den territorialen Status Quo regeln: Die Bevölkerungszentren im Westjordanland würden unter volle Kontrolle der PA gehen (Gebiet A), der rurale Großteil des Gebiets unter vollständige Kontrolle Israels (Gebiet C) und alles dazwischen in geteilte Kontrolle (Gebiet B). Israel behielt für die gesamte Region die Verantwortung, es gegen ausländische Gefahren zu verteidigen, behielt also die Kontrolle über die Außengrenzen.

Was geschah danach?

Ein vager Schritt vorwärts

Die Oslo-Abkommen waren der bis dato größte Durchbruch in den israelisch-palästinensischen Beziehungen, doch sie waren kaum beliebt. Auf beiden Seiten waren die nationalistischen und extrem-religiösen Elemente verärgert. Israelis schien Oslo wie die Aufgabe der teilweisen Kontrolle im Westjordanland sowie wichtiger religiöser Stätten. Doch selbst moderat-rechte Israelis waren irritiert, denn Israels Premierminister Itzhak Rabin hatte die Wahl 1992 als “Stabilitätskandidat” und mit dem Versprechen, mit der PLO nicht zu verhandeln, gewonnen. 1995 wurde er von einem israelischen Extremisten ermordet. Radikale Palästinenser waren derweil verärgert, dass der Vernichtungskampf gegen Israel aufgegeben wurde und moderate Palästinenser, dass die PLO zu wenige echte Konzessionen herausgeschlagen habe. Der palästinensisch-amerikanische Philosoph Edward Said nannte es das “Versailles der Palästinenser”.

Was die Oslo-Abkommen auf jeden Fall waren, ist vage. Es wurde darin nicht geregelt, wie ein zukünftiger palästinensischer Staat aussehen oder welche Grenzen er haben sollte und wann er entstehen würde. Ausdrücklich ausgeklammert waren auch die Fragen nach Ostjerusalem, den jüdischen Siedlungen in den Palästinensergebieten und einem Rückkehrrecht für die Palästinenser. Israels Kontrolle von Ostjerusalem und die (damals existierenden) Siedlungen waren von Oslo also völlig unberührt; ein Siedlungsausbau nicht verboten. Selbst eine Zweistaatenlösung wird in Oslo nicht direkt gefordert, auch wenn sie mit der Einrichtung von autonomen Institutionen in den Palästinensergebieten impliziert war.

Die Abkommen waren vage, doch das war bewusst gewählt. Ein vollständiges, detailliertes Abkommen, welches für beide Seiten gangbar wäre, erschien damals einfach unrealistisch. Also peilten beide Seiten eine Zwischeneinigung an, welche den Weg zu einer finalen Einigung ebnen würde. Ein erster Schritt, ein gegenseitiger Vertrauensbeweis, ein Bekenntnis zum Weiterverhandeln. Binnen fünf Jahren sollte ein weiteres Abkommen folgen und am Ende ein Friedensvertrag den israelisch-palästinensischen Konflikt beenden.

Gut zu wissen: Mit den Oslo-Abkommen begannen auch die Finanzhilfen für die Palästinenser. Zwischen 1994 und 2020 steuerte die Staatengemeinschaft rund 40 Milliarden USD bei, wovon knapp 36 Prozent ins Budget der PA flossen, der Rest an NGOs oder direkt in bestimmte Wirtschaftssektoren. Etwa die Hälfte des Geldes stammte, in dieser Reihenfolge, von der EU, den USA, Saudi-Arabien und Deutschland.

Netanjahu (rechts) und Arafat (mitte) in der Schweiz, 1997. Quelle: WEF, wikimedia
 

Die Steine im Weg

Sehr früh kam es zu Problemen. Palästinensische Terrorangriffe setzten sich fort, denn radikalere Gruppen hielten nichts von einer Annäherung an Israel. Zahlreiche Selbstmordattentate fanden statt. Andersherum geschah die größte israelische Terrorattacke gegen Palästinenser seit dem Unabhängigkeitskrieg 1948, als ein Anhänger der radikalen, in Israel verbotenen Kach-Partei 29 Menschen in Hebron ermordete. Die verschlechterte Sicherheitslage und die wachsenden Spannungen höhlten das Abkommen aus: Israel zog seine Truppen nur teilweise ab und errichtete eine Barriere zum Gazastreifen. Und die Palästinenser wählten 1994 zwar den Legislativrat, doch Arafat verweigerte den Transfer der Macht von seiner PA an den PLC, welcher darüber hinaus durch israelische Einmischung an Arbeitsfähigkeit einbüßte.

Nach der Ermordung Rabins wurde Shimon Peres Premierminister in Israel. Er rief 1996 Wahlen aus, in welchen der rechtskonservative Likud dank der angespannten Sicherheitslage einen knappen Sieg einfuhr und die Ära der Sozialdemokraten unterbrach. Premier wurde niemand anderes als Benjamin Netanjahu.

Netanjahu, ein Pragmatiker mit Tendenz nach rechts, führte den Friedensprozess zwar weiter und verlangsamte den Siedlungsbau, doch bremste auch den Abzug der Truppen aus Westjordanland und Gaza. Er nannte das eine “Reziprozitätspolitik” als Reaktion auf eine wahrgenommene “Drehtür”-Politik der PA unter Arafat. Gemeint war, dass diese palästinensischen Terror mal bekämpft, dann aber wieder unterstützt hätte. Solange das anhalte, würde Israel den Friedensprozess aussetzen. Parallel wuchsen die Spannungen: Ein Streit um einen Tunnel unterhalb der Klagemauer führte zu schweren Ausschreitungen, in deren Zuge 59 Palästinenser und 16 Israelis getötet sowie Hunderte verletzt wurden. 

Gut zu wissen: Die Tunnel unterhalb der Jerusalemer Altstadt stammen noch aus der Antike und wurden 1867 von einem britischen Offizier wiederentdeckt. Christen und Muslime hatten allerdings Angst, dass eine Erkundung der Tunnel die heiligen Stätten auf dem Tempelberg strukturell gefährden könnte, weswegen sie jahrzehntelang unerkundet blieben. Unter Israel wurden die Tunnel wieder eröffnet, auch wenn besonders heikle Stellen gesperrt blieben. Später wurden die Tunnel sogar für Tourismus geöffnet. Die Premierminister Rabin und Peres widersetzten sich Forderungen nach einer Erweiterung, um negative Folgen auf den Friedensprozess zu vermeiden. Unter Netanjahu wurde diese Erweiterung vorgenommen, was zum “Tunnel-Aufstand” führte.

Der Weg zu Camp David

Noch war der Friedensprozess aber nicht gescheitert. Israel erkannte im Sinne der Reziprozitätspolitik bestimmte Bedingungen für erfüllt an und verhandelte weiter. 1997 wurde das Hebron-Abkommen geschlossen, in welchem Israel Truppen überwiegend aus Hebron abzog und damit eine der größten Städte des Westjordanlands an die Kontrolle der PA übergab. Im Wye-River-Memorandum 1998 versprachen die Palästinenser und Israel, Terrorismus gegeneinander zu verhindern und Israel stimmte der Übergabe von insgesamt 11 bis 13 Prozent der Zone C-Gebiete zu, allerdings in drei Stufen.

In Israel war der Annäherungsprozess durchaus populär. Das Wye-River-Abkommen wurde positiv aufgenommen; 74 Prozent der Bürger unterstützten es in einer Umfrage 1998. Netanjahus Schlingerkurs in der Friedenspolitik nervte allerdings die Linken und Moderaten, welchen es nicht genug Annäherung war, und auch die (Ultra-)Rechten, welchen sie zu weit ging. Also war es einfach für die Opposition, die Regierung 1999 per Misstrauensvotum zu stürzen. In den darauffolgenden Wahlen gewann Ehud Barak deutlich. Er versprach mehr Friedensprozess mit den Palästinensern und einen Abzug aus dem Südlibanon, welchen Israel seit dem Libanonkrieg 1982 besetzt hatte (den Abzug setzte er 2000 um).

Der Friedensvorstoß gipfelte im Camp-David-Gipfel im Jahr 2000. Benannt nach den erfolgreichen ägyptisch-israelischen Verhandlungen 1978 (und im selben Ort in den USA abgehalten), trafen sich Barak und Arafat für eine endgültige Lösung des Nahostkonflikts. Die Verhandler hatten das ambitionierte Ziel, fünf jahrzehntelange Fragen zu beantworten: Was ist das Territorium der zwei Staaten? Was geschieht mit dem für beide Seiten heiligen Ostjerusalem und den umliegenden Orten? Erhalten die Palästinenser ein Rückkehrrecht? Was für Sicherheitsgarantien erhalten beide Seiten? Und was passiert mit den jüdischen Siedlungen?
 

Ehud Barak, Bill Clinton, Yasser Arafat (v.l.n.r.), beim trilateralen Treffen in Oslo 1999.
Quelle: Photographs of the White House Photograph Office, wikimedia
 

Der Friedensvorschlag

Die Positionen waren weit auseinander. Die Informationen sind hier etwas uneindeutig, da die Verhandlungen ausschließlich verbal geführt wurden und somit unterschiedliche Zeitzeugenberichte vorliegen. Allem Anschein nach sahen die Positionen folgendermaßen aus: Die Palästinenser akzeptierten die Grenzen, welche aus dem Unabhängigkeitskrieg 1948/49 hervorgegangen waren, doch forderten das gesamte Westjordanland sowie Gaza. Zugleich waren sie zu Landtauschen bereit, um israelischen Prioritäten und Siedlungen etwas Flexibilität einzuräumen. Israel war grundsätzlich einverstanden, doch sah eine vollständige Rückkehr zu den Grenzen vor 1967 als Sicherheitsrisiko; zudem wichen die Definitionen des Westjordanlands der beiden Seiten um rund 5 Prozent voneinander ab.

Barak machte einen Vorschlag, wonach vorerst ein palästinensischer Staat auf 73 Prozent des Westjordanlands und im gesamten Gazastreifen entstehen würde, innerhalb von “10 bis 25 Jahren” aber auf 91 Prozent anwachsen würde. Dazu käme ein Prozentpunkt getauschtes israelisches Gebiet. Da die Palästinenser das Westjordanland größer interpretierten, hätten sie aus ihrer Sicht bis zu 86 Prozent als Staat erhalten, dazu 100 Prozent des Gazastreifens. Der neue Staat wäre nicht völlig kontinuierlich: Gaza und Westjordanland wären durch Israel getrennt, zudem berichteten einige Beobachter von einer “Kantonisierung” des Westjordanlands in vier voneinander durch Israel getrennte Abschnitte, was Barak aber zurückwies. Mindestens eine Ost-West-Straße durch das Westjordanland hätte Israel allerdings unter Kontrolle genommen.

Beim Thema Ostjerusalem wollten beide Seiten, dass die Stadt unter ihre Souveränität ginge, die Gegenseite aber begrenzte Autorität über bestimmte Bereiche erhalte: Die Palästinenser hätten im Vorschlag der Israelis das christliche und muslimische Viertel sowie den Tempelberg; die Israelis bekämen das jüdische Viertel und die Klagemauer, so die Palästinenser. Im israelischen Vorschlag würden die um Ostjerusalem herumliegenden Dörfer und Viertel zwischen beiden Seiten aufgeteilt werden, wobei die Palästinenser die “zivile Autorität” behielte (darunter auch das historisch für die Araber wichtige Viertel Sheikh Jarrah, welches bis heute immer wieder in den Schlagzeilen auftaucht). Westjerusalem war nicht kontrovers, da es gemäß dem Grenzverlauf von 1949 israelisch bliebe.

Ein Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge wollte Israel unbedingt verhindern, da es einen demografischen Schock befürchtete. Für die Palästinenser war es dagegen zentral: Sie verlangten, dass sämtliche Vertriebene sowie ihre Nachfahren nach Israel einwandern, ihre alten Häuser und ihr Eigentum beanspruchen und Kompensation erhalten dürfen. Wie viel Flexibilität hier geboten wurde, variiert je nach Berichterstatter. Die Palästinenser schlugen anscheinend vor, einen nicht weiter definierten “Mechanismus” zu finden, um Israels demografische Bedenken zu berücksichtigen. Israel bot demnach an, 100.000 Flüchtlinge – ein Siebtel der ab 1947 vertriebenen – aufzunehmen und einen 30-Milliarden-USD-Fonds einzurichten, mit welchem Flüchtlinge kompensiert und ihre Ansiedlung im Staat Palästina oder Drittländern finanziert würde.

Als Sicherheitsgarantien forderte Israel relativ weitreichende Befugnisse über die palästinensische Außenpolitik: Der neue Staat wäre demilitarisiert (von bestehenden Sicherheitskräften abgesehen) und dürfe keine Bündnisse ohne israelische Zustimmung schließen; Israel würde eine kleine Grenzgarnison an der palästinensisch-jordanischen Grenze behalten; erhielte das Recht, im “Notfall” Soldaten auf palästinensisches Gebiet zu entsenden; dürfe Radarstationen einrichten und den palästinensischen Luftraum nutzen.

Die Palästinenser lehnten den Vorschlag der Israelis ab. Yasser Arafat verließ die Verhandlungen, ohne einen Gegenvorschlag gemacht zu haben und erklärte seine Ablehnung auch nicht öffentlich. Die Camp-David-Verhandlungen waren nach zwei Wochen gescheitert.

Die Suche nach dem Schuldigen

Wie ist der Vorgang zu werten? Der israelische Vorschlag bestand aus zum Teil sehr weitreichenden Forderungen. Zugleich spiegelte er die stärkere Verhandlungsposition Israels wider, kam nichtsdestotrotz mit ernsthaften Konzessionen daher und war sicherlich auch noch verhandelbar, was Arafat aber nicht weiter erkundete. In diesem Sinne richtet sich klassischerweise ein Großteil der Kritik gegen Arafat und die Palästinenser. US-Präsident und Vermittler Bill Clinton kritisierte Arafat scharf; und ein amerikanischer Unterhändler zitierte saudi-arabische Regierungsstellen damit, dass es “nicht einfach eine Tragödie, sondern ein Verbrechen” sei, wenn Arafat den israelischen Vorschlag ablehne. Einige Beobachter (darunter der beteiligte US-Unterhändler Michael Ross oder der Psychiater und Historiker Kenneth Levin) spekulieren, dass es Arafat langfristig eben darum gegangen sei, das gesamte historische Palästina unter Kontrolle der Palästinenser zu bringen. Dafür hätte er ein weitreichendes Rückkehrrecht benötigt oder hätte, wenn es dieses nur eingeschränkt gäbe, keinen Schlussstrich unter den Nahostkonflikt ziehen können, wie ihn die Israelis gefordert hatten.

Andersherum betonen Beobachter (darunter der ebenfalls beteiligte US-Offizielle Robert Malley), dass die Palästinenser ihrerseits hohe Konzessionen gemacht hätten und die israelischen Forderungen sehr weitreichend gewesen seien; die staatliche Souveränität Palästinas hätte sich wohl als bedingt bezeichnen lassen müssen. Der damalige Außenminister Shlomo Ben-Ami erklärte in einem späteren Buch, dass er “Camp David ebenfalls abgelehnt hätte, wäre er Palästinenser” (kritisierte allerdings auch scharf das Verhandlungsverhalten Arafats). Ähnlich dürfte eine Rolle gespielt haben, dass viele der Konzessionen für Arafat schwierig den Palästinensern zu erklären gewesen wären.

Noch immer war der Friedensprozess nicht am Ende. Einige Monate später trafen sich die Unterhändler zum Taba-Gipfel in Ägypten. Die Israelis und die Palästinenser machten weitere Konzessionen; unter anderem würden die Palästinenser nun 97 Prozent des Westjordanlands erhalten (davon 3 Prozentpunkte per Tausch mit israelischen Gebieten). “Wir sind näher als jemals zuvor an einem finalen Deal”, so Israels Außenminister Ben-Ami damals. Und der palästinensische Chefverhandler Saeb Erekat erklärte später: “Ich weiß, wir waren so nah dran. Uns haben sechs Wochen gefehlt”.

Zusammenbruch_

(8 Minuten Lesezeit)

Israelische Soldaten 2002 in Nablus. Quelle: Israel Defense Forces, wikimedia

Die Zweite Intifada

Als Israels rechter Oppositionsführer Ariel Sharon am 28. September mit starker Polizeipräsenz den wichtigen al-Aqsa-Komplex auf dem Tempelberg besuchte, sorgte das für Aufruhr unter den Palästinensern. Die Polizei reagierte robust und zerstreute Proteste mit Tränengas und Gummigeschossen. Vor dem Hintergrund der Wut über die gescheiterten Camp-David-Verhandlungen brach ein regelrechter Aufstand aus: die Zweite Intifada.

Die Intifada lief fünf Jahre lang und war ein einziger Fiebertraum. Massive Proteste der Palästinenser, von welchen einige friedlich verliefen, doch viele gewalttätig wurden, stießen auf eine robuste und später brutale Reaktion der israelischen Sicherheitskräfte, welche mitunter mit scharfer Munition auf Aufständische und Protestler feuerten. Palästinenser verübten Morde an Israelis; jüdische Siedler revanchierten sich. Sogar in Israel selbst kam es zu ethnischen Konflikten zwischen Juden und Arabern, was die Integrität der Gesellschaft wacklig erschienen ließ.

Zum ersten Mal stieß Israels Militär, die IDF (Israeli Defense Forces), auch mit den Einheiten der PA zusammen, mit welchen es bis dahin eine fruchtbare Sicherheitskooperation gegeben hatte: Zwei israelische Soldaten waren offenbar versehentlich in die PA-Hauptstadt Ramallah geraten und wurden dort verhaftet. In der Bevölkerung verbreitete sich das Gerücht, dass israelische Spione im PA-Polizeibüro gehalten würden und ein wütender Mob aus über 1.000 Menschen stürmte das Gebäude und folterte und ermordete die Soldaten, was von einem italienischen Kamerateam aufgenommen wurde. Die brutale Tötung schockierte die israelische Gesellschaft und veranlasste Israel zu Luftschlägen gegen die PA im Westjordanland.

Die Intifada ähnelte oftmals eher einem vollwertigen asymmetrischen Krieg. Die IDF besetzte wieder weite Teile des Westjordanlands, setzte Arafat in dessen Residenz in Ramallah fest und lieferte sich im Flüchtlingslager bei Jenin, welches Israel bis heute als “Hotspot” für palästinensischen Terrorismus wertet, schwere urbane Schlachten mit militanten Palästinensern. Die Palästinenser versuchten, Waffen und Sprengstoff über den Seeweg hineinzuschmuggeln, was Israel in der Santorini-Affäre und der Karine-A-Affäre verhindern konnte.

Ein besonderes Merkmal waren allerdings die Terrorattacken der Palästinenser. Meistens verübt von den Gruppen Hamas und Palästinensischer Islamischer Jihad (PIJ) brach eine wahre Welle von Selbstmordattentaten und Bombenanschlägen über Israel nieder; auf Nachtclubs, Busse, Restaurants und weitere öffentliche Orte. Allein 62 Selbstmordattentate fanden zwischen 2001 und 2005 statt, mit 524 Toten; dazu kamen anderweitige Anschläge. Insgesamt starben bei der Intifada ca. 1.010 Israelis (darunter knapp 700 Zivilisten) und um die 3.200 Palästinenser, davon ungefähr 85 Prozent durch die israelischen Sicherheitskräfte getötet; die übrigen durch andere Palästinenser und, seltener, israelische Zivilisten.

Das Ende des Friedens

Die Intifada war eine Reaktion auf die schleppenden Friedensverhandlungen und besiegelte zugleich deren Ende. Mit dem Ausbruch der Gewalt trat die Regierung Barak zurück und in der nachfolgenden Wahl wurde der Hardliner Ariel Sharon – dessen al-Aqsa-Besuch die Gewalt getriggert hatte – Premierminister. 

Die Friedensgespräche wurden eingestellt. Als Arafat 2002 in der israelischen Zeitung Haaretz erklärte, den Taba-Friedensplan zu akzeptieren – 18 Monate nach dessen Aufstellung und inmitten der Intifada – wies die israelische Regierung das als nicht mehr diskutabel zurück. Auch in der israelischen Gesellschaft hatte sich das Blatt deutlich gewendet. Herrschte vorher eine mehrheitliche Zustimmung für den Friedensprozess, wurde dieser jetzt als Trojanisches Pferd empfunden. Die PA erschien nicht mehr als vertrauenswürdiger Partner; tatsächlich warfen Israelis ihr sogar vor, die Intifada von langer Hand geplant zu haben (Sharons Tempelberg-Besuch sei nur ein günstiger Vorwand gewesen). Der Eindruck entstand, dass es den Palästinensern mehr um die Tötung von Juden als um Frieden gehe und eine häufig geäußerte Meinung war, dass die vielen Abkommen mit den Palästinensern Frieden bringen sollten, doch letzten Endes nur mehr Blutvergießen gebracht hatten. Statt Frieden ging es plötzlich um Abkapselung.

Protestaktionen jüdischer Siedler im Gazastreifen, 2005. Quelle: Israeli Defense Forces, wikimedia

Der Gaza-Abzug und die Mauer

Bereits im Jahr 2000 begann Israel mit dem Bau einer Grenzmauer zum Westjordanland, deren Bau 2005 abgeschlossen wurde. Sie ist international umstritten, da sie die Bewegungsfreiheit der Palästinenser einschränkt, teilweise auf palästinensischem Gebiet errichtet wurde und die Wirtschaft des Gebiets trifft (und für dystopische Bilder sorgt). Der Internationale Gerichtshof (ICJ) wertet die Mauer als Verstoß gegen internationales Recht und selbst der israelische Supreme Court sieht sie in Teilen als illegal. Unter Israelis war und ist sie dagegen beliebt: Die Zahl der Selbstmordattentate fiel mit dem Bau der Mauer bedeutend. Das hat zwar auch andere Faktoren, korrelierte zum Teil also einfach zeitlich, doch auch der Anführer des PIJ räumte die Wirksamkeit der Mauer bei der Terroreindämmung ein.

Premier Sharon kündigte 2004 außerdem einen unilateralen Abzug aus dem Gazastreifen an, welcher 2005 tatsächlich vollzogen wurde (auch einige Siedlungen im Westjordanland wurden abgerissen). Israel zog die Truppen ab, siedelte Siedler um (oft gegen deren Willen) und hinterließ in Gaza eine Reihe großer, hochmoderner Gewächshäuser. Die Hoffnung auf ein Wirtschaftswunder in Gaza, welche unter westlichen Beobachtern Einzug fand, realisierte sich nicht: Die jüdischen Siedler zerstörten beim Abzug rund die Hälfte der Gewächshäuser und palästinensische Plünderungen setzten sie wochenlang außer Gefecht. Als die Gewächshäuser wieder repariert waren, auch dank der Finanzierung durch amerikanisch-jüdische Philanthropen, erschwerten israelische Grenzrestriktionen den Export der produzierten Ware massiv. Die Idee eines Gaza als landwirtschaftlichem Powerhouse realisierte sich nicht.

Israels unilateraler Abzug aus Gaza war das dritte Mal nach der Sinai-Halbinsel und dem Südlibanon, dass Israel freiwillig eine Besatzung beendete und das erste Mal innerhalb der historischen Region Palästina. Unter Experten ist jedoch umstritten, inwieweit die Besatzung zu Ende ging: Israel kontrollierte weiterhin die See- und Luftzugänge zum Gazastreifen, sechs von sieben Grenzübergängen (der Rafah-Grenzübergang im Süden geht nach Ägypten), schuf eine “No-Go”-Zone rund um die Grenze und musste den Gazastreifen mit Wasser, Strom und Energie versorgen. Die UN und einige Rechtsexperten werten das noch immer als “Besatzung”, andere Experten weisen das zurück; populär findet sich teils auch der Begriff “Belagerung”. Doch bei allem faktischen Einfluss: Vor Ort war Israel tatsächlich nicht mehr vertreten. Der Gazastreifen war auf sich allein gestellt und ging nominell an die PA.

Ein Abschnitt der Westjordanland-Sperranlage, hier in Betlehem. Quelle: Ralf Roletschek, wikimedia

Die Fatah und die Hamas

Die zentrale Fraktion innerhalb der PA war die Fatah, eine Bewegung, welche einst den harten Kern der PLO gebildet hatte. Unter ihrem Anführer Yasser Arafat war sie stets moderater als Gruppen wie Schwarzer September oder PFLP gewesen. Mit der Bildung der PA übernahm sie in dieser die Kontrolle. Dementsprechend führte Arafat die PA zuerst an und wurde nach seinem Tod 2004 durch den neuen Fatah-Chef Mahmoud Abbas ersetzt.

Gut zu wissen: Um den Tod von Yasser Arafat ranken sich Theorien, wonach er vergiftet worden sein könnte, etwa durch das radioaktive Polonium. Zu diesem Schluss kam eine Schweizer Studie. Russische und französische Untersuchungen erkannten hingegen einen natürlichen Tod.

Die Fatah war allerdings nicht die einzige relevante Fraktion. Während militante Gruppen wie die marxistisch-leninistische PFLP längst in den Hintergrund gerückt waren, war der Hamas ein kometenhafter Aufstieg gelungen. Die Gruppe war 1987 inmitten der Ersten Intifada aus einem Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft entstanden. Ihr erklärtes Ziel war die Zerstörung Israels und die Schaffung eines islamischen Palästinas. Ihre Originalcharta ist ein schwurbeliges Werk voller antisemitischer Verschwörungstheorien und islamischem Jingoismus: “Sogenannte Friedensinitiativen […] stehen im Widerspruch zur Islamischen Widerstandsbewegung“, betonen die Islamisten in Artikel 13; und erklären in Artikel 7: “Der Tag des Jüngsten Gerichts wird erst eintreten, wenn die Moslems die Juden bekämpfen und sie töten. Dann werden sich die Juden hinter Felsen und Bäumen verstecken, und die Felsen und Bäume werden schreien: ‘O Moslem, da versteckt sich ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn.” In anderen Artikeln werden eine jüdische Weltverschwörung beklagt und selbst die längst als russische Fabrikation bewiesenen “Protokolle der Weisen von Zion” als Beweis angeführt.

Mit ihrer radikalen anti-israelischen Haltung, ihrer Führung der Terrorattacken in der Ersten und Zweiten Intifada und den regelmäßigen Angriffen gegen Israels Besatzung im Gazastreifen wurde die Hamas zur populärsten Fraktion unter den Palästinensern. Dazu trug auch bei, dass die Bevölkerung zunehmend frustriert auf die zutiefst korrupte Fatah und ihre Unfähigkeit, Verhandlungserfolge oder höhere Lebensstandards zu bezwecken, blickten. Also siegte die Hamas im Jahr 2006 bei den Wahlen zum PLC, dem Quasi-Parlament, haushoch: Sie erhielt 74 der 132 Sitze, gegenüber 45 für die Fatah, und schaffte damit problemlos die absolute Mehrheit – in einer Wahl, welche die EU als sauberer als in manchen ihrer Mitgliedsstaaten bezeichnete.

Gut zu wissen: 2017 moderierte die Hamas ihre Charta. Seitdem ist in Artikel 16 davon die Rede, dass die Hamas kein Problem mit Juden habe, sondern nur das “zionistische Projekt” bekämpfe. Das “Judenproblem” sei außerdem ein europäisches Problem und habe historisch nichts mit Arabern zu tun. Und obwohl sie an der Schaffung eines Palästinas “vom Fluss bis zur See” (from the river to the sea) festhalte, könne sich die Hamas ein Palästina in den Grenzen von 1967 vorstellen – deutete also eine Zweistaatenlösung an. Der von vielen Beobachtern gehegte Verdacht, dass diese Mäßigung lediglich kosmetischer Natur gewesen sei, wurde spätestens 2023 eindrucksvoll erwiesen.

Der palästinensische Bürgerkrieg

Die Wahl war ein Schock, vor allem für westliche Staaten und die Fatah. Zwischen der Hamas und der Fatah wuchs ein gewaltsamer Konflikt heran, welcher 2007 durch die Bildung einer Einheitsregierung befriedet werden sollte. Die Gespräche zerfielen jedoch und ein regelrechter Bürgerkrieg brach aus. Die Hamas übernahm gewaltsam den Gazastreifen, in welchem sie ohnehin bereits ihre Machtbasis hatte, und entfernte die Fatah vollständig. Diese zerschlug dafür die Hamas im Westjordanland und blieb dort an der Macht, obwohl sie eigentlich abgewählt worden war. Seit 2006 gab es in den Palästinensergebieten keine weitere Wahl, obwohl diese per Oslo-Abkommen vorgesehen wären. Allein zwischen Anfang 2006 und Mitte 2007 starben über 600 Palästinenser in dem Konflikt, so ein interner Report.

Das ist im Grunde die Gemengelage bis heute. Eine als korrupt und überfordert geltende Fatah regiert als Autonomiebehörde im Westjordanland, wo sie Wahlen vermeidet, welche sie nicht gewinnen könnte. Angeführt wird sie von einem inzwischen 87-jährigen, lethargischen Mahmoud Abbas. Das Verhältnis mit der Hamas ist zerrüttet, wenn auch nicht mehr offen feindselig wie nach 2006. Die Hamas kontrolliert derweil den Gazastreifen zutiefst autoritär, konnte aber gegenüber der chaotischen Phase nach dem israelischen Abzug tatsächlich staatliche Strukturen etablieren, etwa Sozial-, Steuer- und Polizeisysteme.
 

Konfrontation_

(6 Minuten Lesezeit)

Zahl der aus dem Gazastreifen nach Israel abgefeuerten Raketen, 2001-2021.
Quelle: Rob Geist Pinfold, wikimedia; auf Basis von Ben Sasson-Gordis (2016) and Meir Amit Terrorism and Information Center (2017-2022)

Die Gaza-Kriege

Das Verhältnis zwischen Israel und der Hamas war stets denkbar schlecht, immerhin machte zweitere aus ihrem Ziel der Zerstörung des Nachbarn keinen Hehl. Ungeachtet des Abzugs Israels aus Gaza hielt die Hamas Raketenbeschuss aufrecht. 2006 intensivierte sie die Attacken und entführte den israelischen Soldaten Gilad Shalit, welcher erst nach fünf Jahren und im Gegenzug für 1.027 inhaftierte Palästinenser freigehandelt werden konnte. Das führte zum viermonatigen Gazakrieg 2006, der ersten größeren Bodenoperation Israels seit der Räumung des Gazastreifens. Die Hamas wurde darin dermaßen geschwächt, dass sie rund ein halbes Jahr lang auf Raketenbeschuss verzichtete.

Nach der Machtübernahme der Hamas in Gaza nahm der Beschuss gegen Israel deutlich zu. Israel verhängte gemeinsam mit Ägypten eine Blockade über den Gazastreifen, um die Hamas zu schwächen und Waffenlieferungen zu unterbinden. Die Hamas begann in ihrem neuen Herrschaftsgebiet mit dem Ausbau eines äußerst weitläufigen Tunnelsystems, laut eigenen Angaben Stand 2021 über 500 Kilometer lang und damit länger als die Londoner Metro. Dieses verläuft zum großen Teil unterhalb Gazas, wo die Tunnel ein regelrechtes Unterweltreich mit allerlei Einrichtungen von Kommandostrukturen über Baracken bis hin zu Gefängnissen zu bilden scheinen. Ein Teil der Tunnel läuft nach Israel und dient zur Infiltration – so etwa bei der Entführung von Gilad Shalit und auch im Terrorangriff 2023.

Als Israel 2008 einen solchen Tunnel attackierte, vergalt die Hamas das mit einem massiven Raketenbombardement. Israel marschierte daraufhin erneut im Gazastreifen ein und ein dreiwöchiger Krieg brach aus. Israel zerstörte viel Hamas-Infrastruktur, was die Gruppe vorübergehend schwächte, doch verwüstete bei dem Einsatz auch den Gazastreifen und tötete über 1.100 Palästinenser, darunter je nach Quelle 295 bis 926 Zivilisten. Auf israelischer Seite starben nur 13 Menschen – davon vier aufgrund von Beschuss durch die eigene Seite. Das ist ein Beispiel für das hohe Ungleichgewicht an Todes- und Verletztenzahlen, welches im Konflikt zwischen Israel und der Hamas meist vorlag. Die israelischen Offensiv- und Defensivkapazitäten sind und waren deutlich effektiver (der “Iron Dome“-Raketenschutzschild als bekanntestes Element), Gaza hat eine hohe Bevölkerungsdichte und die Hamas verwebt ihre Operationen eng mit zivilen Strukturen.

Tempelberg mit Felsendom (goldene Kuppel) und al-Aqsa-Moschee (davor). Quelle: Andrew Shiva, wikimedia

2014 und die vermeintliche Ruhephase

Der Konflikt hatte in den folgenden Jahren Hoch- und Tiefphasen. Ein besonders starker Ausbruch geschah 2014. Hamas-nahe Milizionäre hatten drei israelische Teenager entführt und ermordet, woraufhin Israel fast sämtliche aktive Hamas-Funktionäre im Westjordanland verhaftete. Die Hamas vergalt das mit einem heftigen Raketenbeschuss. Ein sieben Wochen langer Krieg brach aus, welcher wohl zum heftigsten israelisch-palästinensischen Gewaltausbruch seit Jahrzehnten geriet, womöglich seit dem Krieg 1948. Rund 2.200 Palästinenser (davon laut UN 65 Prozent Zivilisten) und 72 Israelis starben. Der Gazastreifen wurde verwüstet und um Jahre zurückgeworfen.

Nach 2014 herrschte eine gewisse Ruhe. Von 2015 bis 2017 schossen die Palästinenser nie mehr als 29 Raketen pro Jahr auf Israel ab. 2018 und 2019 intensivierten sich die Spannungen mit dem sogenannten “Großen Marsch der Rückkehr“, einer Protestbewegung, welche unabhängig begann, doch schnell von der Hamas vereinnahmt wurde. Israel tötete 223 Palästinenser, welche meist am Grenzzaun protestierten und damit die israelische “No-Go”-Zone verletzten. Weitere 9.200 wurden verletzt. Die Hamas feuerte wieder über eintausend Raketen auf Israel ab. 2021 geschah ein ähnlicher Gewaltausbruch, nachdem ein Streit um mögliche Zwangsräumungen von palästinensischen Wohnungen in eine Stürmung des al-Aqsa-Komplexes durch die israelischen Sicherheitskräfte eskaliert war.

Insgesamt schien die Lage aber deutlich ruhiger als noch in den Jahren bis 2014. Die Hamas agierte vorsichtiger und vermied ganz uncharakteristisch sogar, die Verantwortung für Terrorakte oder Raketenbeschuss zu übernehmen (auch wenn die kleineren Milizen, auf welche sie verwies, letztlich nur mit ihrer Zustimmung hätten handeln können). Sie sprach plötzlich mit den Israelis. Sie mäßigte, wie bereits erwähnt, 2017 ihre Charta und implizierte, dass eine politische Lösung für den Konflikt möglich sei.

Aus israelischer Perspektive schien die Hamas plötzlich wie ein Akteur, mit welchem man zumindest sprechen könne. Israel und Ägypten lockerten periodisch ihre Blockade des Gazastreifens; Israel ließ Geldtransfers aus dem Ausland zu und erteilte mehr israelische Arbeitsgenehmigungen an Gaza-Palästinenser, was die Lebensstandards und die Wirtschaft in der Region verbesserte, und auch der Hamas Steuergelder einbrachte.

(K)Eine stabile Instabilität

Israel hatte sich zu sehr an den Status Quo gewöhnt. Gelegentliche limitierte Gewaltausbrüche, welche für Israel mit relativ geringen Verlusten an Leben einhergingen, waren verkraftbar. Eine “stabile Instabilität”, wie es in Sicherheitskreisen hieß. Durch gelegentliche Lockerungen der Gaza-Blockade versuchte Jerusalem, die Hamas zu “managen”. Musste doch mal militärisch reagiert werden, wie etwa 2018/19 und 2021, so geschah das mit limitierten Schlägen aus der Distanz. Eine Art Koexistenz schien möglich, wie weite Teile des israelischen Politik- und Sicherheitsapparats glaubten. Weder eine Zerstörung der Hamas, noch eine Friedensinitiative wirkte notwendig.

Parallel setzten sich einige Dinge in Bewegung, welche die Region veränderten. Die Palästinenser verstanden, dass die arabische Welt im vergangenen Jahrzehnt deutlich an Interesse an ihnen verloren hatte – nicht unbedingt die Bevölkerungen, aber die Regierungen. Ein bemerkenswerter Pragmatismus gegenüber Israel stellte sich ein, welcher ab 2020 mit den “Abraham Accords” ins Licht der Öffentlichkeit gerissen wurde: Die VAE, Bahrain, Sudan und Marokko erkannten Israel an. Saudi-Arabien erwog es.

Der Iran, größter Unterstützer der Hamas, gewann an Einfluss. Im Libanon, in Syrien, im Irak und im Jemen hatte er über verbündete Proxy-Gruppen die teilweise Kontrolle über die Außenpolitik übernommen. Eine neue Hardliner-Regierung in Iran seit 2021 brachte den Willen mit, härter gegen Israel vorzugehen; eine Annäherung mit Saudi-Arabien 2023 bot mehr Kapazität dafür, da sich eine andere “Front” schloss.

Zu guter Letzt: Israel erhielt eine ultrarechte Regierung, in welcher der zurückgekehrte Netanjahu mit zwei extremistischen Parteien koalierte. Das destabilisierte einmal Israel selbst, da die Regierung eine hoch kontroverse Justizreform vorantrieb, doch sorgte auch für Wut unter den Palästinensern, denn die Regierung sprach offen über eine Annexion des Westjordanlands, beschleunigte den Siedlungsbau und schreckte nicht vor Provokationen im Umgang mit der al-Aqsa-Moschee zurück – wohl auch, weil sie wusste, dass die PA wenig entgegenstellen könnte.

Stunde Null

Für die Hamas schien der Moment allem Anschein nach perfekt, die angebliche Entspannungsphase zu beenden und die “stabile Instabilität” als Illusion zu entlarven. Am 7. Oktober 2023 verübte sie einen großen Terrorangriff samt Raketenbeschuss, welcher definitorisch wohl fast in den Bereich einer Invasion rutscht. Israel vergalt das mit dem heftigsten Bombardement aller Zeiten im Gazastreifen. Schon jetzt dürfte der Krieg 2023 jenen von neun Jahren zuvor an Intensität hinter sich gelassen haben. Es ist der wohl größte Gewaltausbruch zwischen Israelis und Palästinensern seit 1948.

Ungewöhnlich, in einem solchen Moment über Frieden zu sprechen. Israel und der Gazastreifen sind zutiefst verwundet. Die Hamas hat sich als Verhandlungspartner disqualifiziert und die PA ist unbeliebt sowie heillos überfordert. Weder Israelis noch Palästinenser wünschen sich übrigens eine Zweistaatenlösung; wollen am liebsten einen einzigen Staat, in welchem sie dominieren. In Jerusalem sitzt noch immer eine ultrarechte Regierung, so sehr aufgrund des Desasters vom 7. Oktober auch bereits an ihrem Stuhl gesägt wird. Die existierenden Friedensanläufe seit 2001 waren alle dermaßen wirkungslos, dass wir sie in diesem Explainer nicht einmal erwähnten.

Und doch birgt ein Moment wie dieser oft unerwartete Chancen. Es war nach dem Desaster des Jom-Kippur-Kriegs 1973, dass Israel und Ägypten ernsthafte Schritte zum Frieden machten. Es war die erste Intifada, welche zur gegenseitigen Anerkennung von PLO und Israel sowie den Oslo-Abkommen führten. Und es war die blutige zweite Intifada, nach welcher Israel Gaza verließ.

Ausgerechnet jene Momente, in welchen beide Seiten erschöpft und verunsichert aus den Konflikten hervorgingen, boten die meiste Dynamik hin zu Frieden. Eine Gewissheit ist das keineswegs und die nächsten Wochen oder Monate wird selbstverständlich nichts außer Gewalt herrschen. Doch womöglich passiert danach etwas völlig Neues.

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