LNG: Erdgas, verflüssigt, nicht gerührt

LNG: Erdgas, verflüssigt, nicht gerührt

Was hat es mit der europäischen Energiehoffnung LNG auf sich? Und taugt es im Angesicht der russischen Invasion zum “Freedom Gas”?

Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)

  • LNG ist herabgekühltes, dadurch verflüssigtes Erdgas. Das erlaubt es, Pipelines durch SchiffeZüge oder Lkws zu ersetzen.
  • Durch LNG könnte Europa neue Exportmärkte – vor allem die USA, Katar und Australien – als Ersatz für russisches “Pipeline-Gas” nutzen.
  • Allerdings ist die dazugehörige Infrastruktur teuer: Deutschland besitzt keinen einzigen LNG-fähigen Hafen, möchte nun mehrere in kürzester Zeit bauen. Bislang nutzt es Kapazitäten in Nachbarländern.
  • Selbst wenn die LNG-Terminals hochgezogen sind, braucht es noch jemanden, der das LNG liefert. Die Produzenten operieren am Limit und sind vertraglich oft auf Asien festgelegt.
  • Bis die Produktionskapazitäten ausgeweitet sind, bleibt Europa vermutlich wenig anderes, als mit besonders viel Geldeinsatz die bestehenden Mengen zu sich zu steuern.
  • Damit könnte es immerhin ein gutes Stück der bisherigen russischen Importe kompensieren – doch eine völlige Unabhängigkeit nur durch LNG scheint kaum möglich.

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Nehmen wir einmal an, nur um des Argumentes willen, dass Europa sich schlagartig von einem seiner größten Erdgaslieferanten abgewöhnen müsste. Kohle stünde nur eingeschränkt zur Verfügung, Nuklearenergie ebenso. Erneuerbare Energien wären beliebt, doch kurzfristig kein adäquater Ersatz. Es bräuchte also weiterhin Gas. Vielleicht einfach von anderswo? Norwegen liefert bereits an der Kapazitätsgrenze. Die Niederlande würden Groningen, das größte Erdgasfeld der EU, aufgrund von Erdbebensorgen gerne schließen. Algerien wäre zwar bereit, sein Exportvolumen um ein Drittel auf 32 Milliarden Kubikmeter jährlich zu erhöhen, und damit die TransMed-Pipeline nach Italien komplett zu füllen, doch das genügt nicht. Was würde Europa in dieser Situation tun?

Bühne auf für LNG. Flüssigerdgas, auf Englisch Liquified Natural Gas und abgekürzt LNG, hat einen markanten Vorteil gegenüber “klassischem” Erdgas: Es benötigt keine Pipelines, lässt sich also per Auto, Zug oder Schiff transportieren. Das flexibilisiert den Erdgasmarkt bedeutend und eröffnet Europa völlig neue Importmärkte: Katar, die USA, Australien oder Nigeria sind zu weit weg für Pipelines, doch transportieren große Mengen an LNG.

Große Gasexporteure, aufgeteilt in Transport via Pipeline und LNG. Quelle: Statista, per BP, US EIA

-162°C

Wie funktioniert LNG? Herkömmliches Erdgas wird in Pipelines (also ganz wie gewohnt) in ein LNG-Terminal an einem Exporthafen geleitet. Dort wird es durch das Herunterkühlen auf minus 162 Grad Celsius bei atmosphärischem Druck in einen flüssigen Zustand versetzt, in welchem es nur ein Sechshundertstel des Volumens von gasförmigem Erdgas besitzt, was Lagerung und Transport vereinfacht. Ein LNG-Tanker, mit sogenannten kryogenen Tanks ausgestattet (siehe Titelbild), nimmt das LNG auf und transportiert es in gekühltem Zustand. In einem Anlandeterminal wird das Flüssigerdgas dann mit Ladungspumpen vom Tanker verlagert. Zu guter Letzt wird es direkt als Kraftstoff für Schifffahrt oder Schwerlastverkehr genutzt, mittels Tanklastwagen und Tankwagons weiter verteilt oder in Wiederverdampfungsanlagen erwärmt (regasifiziert) und dem Ferngasnetz zugeführt.

Kein ganz einfacher Case

Seit einigen Wochen ist medial überall von LNG zu hören, doch bis vor etwa sechs Jahren war die Energieform in der Öffentlichkeit eher exotisch. Ein Grund dafür ist, dass der Erdgas-Transport in Form von LNG nur in bestimmten Fällen wirtschaftlich ist, genauer ab Transportdistanzen von etwa 4.000 Kilometern (wobei auch andere Zahlen kursieren, von 2.000 bis 6.000 Kilometern, und es sich über See schneller rentiert als über Land). Davor lohnt sich stattdessen in aller Regel ein Transport via Pipelines, verdichtet in Form von Compressed Natural Gas (CNG), da die Distanz den Energiebedarf für die Verflüssigung nicht rechtfertigt. Dazu kommt, dass die gesonderten LNG-Terminals eine sehr teure Investition mit gerne vier Jahren Bauzeit und zwanzig Jahren Investitionshorizont darstellen, vor welcher Privatsektor und Regierungen gerne zurückschrecken, wenn bestehende Pipeline-Infrastruktur günstigere Alternativen bietet. Ende 2015 herrschte darum auch ein großes Überangebot an LNG. Der größte Exporteur, Katar, hatte ein Drittel seiner Förderung nicht verkaufen können.

Gut zu wissen: Die Geschichte von LNG begann im frühen 20. Jahrhundert mit ersten Forschungsfabriken. 1941 entstand die erste kommerzielle Verflüssigungseinrichtung in den USA. 1959 erfolgte der erste Ozeantransport von LNG.

LNG wird erwachsen

2016 war ein entscheidendes Jahr für den globalen LNG-Markt. Damals wurden die USA als Folge des Fracking-Booms erstmals zum Erdgasexporteur – und da die meisten Exportmärkte von Ozeanen getrennt waren, setzten sie frühzeitig auf LNG. In den Folgejahren bauten sie ihre Kapazitäten zunehmend aus, 2022 dürften sie sich erstmals an Katar und Australien vorbei auf den Spitzenplatz der Exporteure schieben. Der Aufstieg des amerikanischen LNG ging mit wachsender Nachfrage weltweit einher. Zuletzt war es die Energiekrise 2021/22, welche Preise für Energie in astronomische Höhen trieb und damit auch LNG plötzlich hochattraktiv machte und sämtliche Überkapazitäten auffraß. In den Jahren davor war es insbesondere die Nachfrage aus Asien und, in geringerem Maße, Europa, welche den LNG-Markt stützte und der US-Industrie wohl überhaupt erst zum Aufstieg verhalf. Die Europäer suchten seinerzeit nach Alternativen für russisches Erdgas, übrigens nicht zum ersten Mal, denn bereits der ukrainisch-russische Gasstreit 2005/6 hatte einen kleinen LNG-Boom ausgelöst. Top-Importeure sind allerdings Länder in Asien: Japan, Südkorea oder Taiwan, welche aufgrund ihrer exponierten geografischen Lage auf das flexible Erdgas angewiesen waren, und das energiehungrige China. Die EU selbst bezog zuletzt immerhin 26 Prozent ihrer Gasimporte in Form von LNG. 

Gut zu wissen: Die USA machen seit Jahren Druck auf die EU, mehr LNG von ihnen zu beziehen. Das Argument war, nicht unähnlich zu heute, dass mehr LNG weniger Abhängigkeit von Russland bedeute – die Regierung von Ex-Präsident Trump nannte das Flüssigerdgas drum “Freedom Gas”.

Freedom Gas_

Quelle: Statista

Keine Zeit für Bürokratie

Die EU und LNG sind keine ganz offensichtlichen Freunde. LNG-Projekte sind teure und langfristige Angelegenheiten mit schlechter Klimabilanz; die EU bewegt sich derweil auf eine mittelfristig klimaneutrale Zukunft zu. Wie passen ein 20-jähriges Erdgasprojekt und das erklärte Ziel der Nettonullemissionen bis 2050 samt ambitionierter Zwischenziele zusammen? Nicht sonderlich gut. Die Branche beklagt seit Jahren kaum politischen Willen und schlechte Rahmenbedingungen für die riskanten, hohen Investitionen. Amerikanische Firmen beklagen sich mitunter, (€) dass europäische Firmen keine Langfristverträge schließen würden, da sie keine Ahnung hätten, was zuhause in zehn Jahren noch erlaubt sei. Ein geplantes deutsches Werk in Brunsbüttel, Schleswig-Holstein, wartete vier Jahre lang nach Präsentation auf eine Investitionsentscheidung. Pläne für ein Werk in Wilhelmshaven, Niedersachsen, hatte Energiekonzern Uniper eigentlich bereits verworfen. Doch die neue politische Realität rund um Russlands Aggression in Osteuropa macht so manche Herausforderung überbrückbar.

Die EU und die Bundesregierung werten LNG als notwendigen Lückenfüller beim Projekt, sich von russischem Gas zu lösen. Also stellt der Bund kurzfristig 1,5 Milliarden EUR für den Kauf von LNG bereit und gelobt, den Bau von LNG-Terminals rasant voranzutreiben – Genehmigungsverfahren und Bau sollen synchron ablaufen, statt wie gehabt hintereinander. Die Absichtserklärung für Brunsbüttel wurde Anfang März unterzeichnet, der Bund beteiligt sich über die Förderbank KfW zu 50 Prozent (den Rest hält ein Konsortium um die niederländische Staatsfirma Gasunie). Das Projekt in Wilhelmshaven wird von Uniper auf Drängen der Bundesregierung wieder geprüft und auch im niedersächsischen Stade könnte ein Terminal durch den Hanseatic Energy Hub (HEH) entstehen. Bislang setzt Deutschland auf LNG-Hafenkapazitäten in anderen EU-Staaten, vor allem Rotterdam in den Niederlanden, einem von 26 LNG-Terminals in der EU. Es importiert also selbst gar kein LNG, sondern setzt auf andere EU-Staaten. Das funktionierte in Ordnung, solange der Bedarf nicht hoch wahr, doch nun drohen Kapazitätsengpässe. Die eigenen Häfen sollen aushelfen und auch etwas Unabhängigkeit von den Nachbarn bieten.

FSRUs zur Rettung

Selbstverständlich gibt es Kritik. Da wäre der Zeitplan: Die neuen Terminals wären vermutlich erst 2026 (Brunsbüttel) oder frühstens 2023/24 (Wilhelmshaven) fertig. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) fragt sich, ob das dann überhaupt noch eine Wirkung hätte. Die Antwort ist vermutlich ja, denn die politische Lage in Osteuropa wird sich nicht in absehbarer Zeit verändern, erneuerbare Energien lassen sich nicht schnell genug hochziehen und Kohle soll eigentlich in den nächsten Jahren verschwinden, statt zur Übergangsenergie zu geraten. Außerdem gibt es einen Joker: Sogenannte Floating Storage and Regasification Units (FSRUs) sind im Grunde schwimmende LNG-Terminals, von welchen es 48 weltweit gibt, und welche Deutschland übergangsweise chartern könnte. Die deutsche Reederei Schulte Group (€) sieht bei drei FSRUs eine Jahresgesamtleistung von 15 Milliarden Kubikmetern Gas, was annähernd 30 Prozent der jährlichen russischen Importe entspräche. Voraussetzung ist, dass der Bund seine Hände an die begehrten Spezialschiffe kriegt. 

Ein weiterer Kritikpunkt ist der Klimaeffekt, denn LNG hat allem Anschein nach keine sonderlich gute CO2- und Umweltbilanz. Das hängt mit dem zusätzlichen Energieaufwand für Verflüssigung, Transport und Regasifizierung zusammen sowie mit der Gefahr von entweichendem Methan (“Methanschlupf”). Zudem wird LNG aus den USA in aller Regel durch Fracking gewonnen, eine besonders umweltschädliche Fördermethode. Aktivisten und NGOs beklagen weiterhin, dass durch die teuren Investitionen im Grunde sichergestellt werde, dass Deutschland noch in zwanzig Jahren Erdgas nutze, also die Klimawende verzögert würde. Die Bundesregierung versucht zu beschwichtigen: Die LNG-Terminals sollen so ausgestattet werden, dass sie in Zukunft auch grünen Wasserstoff verarbeiten könnten – alles bestens, also.

Unabhängigkeit?

Wie gut eignet sich LNG nun eigentlich, um russisches Gas zu ersetzen? Das ist eine schwierige Frage, denn sie hängt von einigen Faktoren ab. Deutschland importierte im Jahr 2020 aus Russland etwa 56 Milliarden Kubikmeter. Die zwei geplanten deutschen LNG-Terminals in Brunsbüttel und Stade hätten eine Jahresgesamtkapazität von 20 Milliarden Kubikmetern. Je nachdem, wie viel Kapazität durch Wilhelmshaven hinzukäme und wie viel weiterhin über restliche europäische Terminals bezogen wird, wäre das bereits ein ordentlicher Teil der russischen Importe, wenn auch längst kein Komplettersatz. Ein Blick auf die Kapazitäten verschleiert allerdings zwei wichtige Probleme: Erstens, die Verteilung der Kapazitäten. Die 26 EU-Terminals sind theoretisch mehr als genug, 2021 liefen sie nur auf 45 Prozent Auslastung – doch während Deutschland eben kein einziges hat, befindet sich etwa ein Viertel in Spanien. Da dessen Gasnetz kaum mit dem Rest des Kontinents integriert ist, hilft das allerdings herzlich wenig. Europa kann seine LNG-Kapazitäten also nicht intelligent verteilen, stattdessen drohen lokale Engpässe. Zweitens, Europa oder Deutschland bringen auch noch so viele Hafenkapazitäten nichts, wenn nicht auch das Flüssigerdgas von irgendwo herkommt. Nicht vergessen: Bei den LNG-Terminals geht es um die Abnahme oder Regasifizierung von LNG, doch dafür muss das LNG erst einmal da sein.

Was sind also Exportquellen für idealerweise bis zu 56 Milliarden Kubikmeter? Gute Frage. Der Markt ist straff, die großen Produzenten operieren an ihren Kapazitätsgrenzen. Etwa 70 Prozent aller LNG-Verträge sind langfristig angelegt, wobei ausgerechnet die EU auf den Spotmarkt und kürzere Verträge setzt. Neue Verflüssigungskapazitäten weltweit – darunter bei den Top 3, Australien, Katar und USA – sind zwar geplant, doch werden erst in den kommenden Monaten und Jahren an den Start gehen.

Deutschlands gesamten russischen Import – geschweige denn den europäischen, in Höhe von 155 Milliarden Kubikmetern – über LNG zu decken wirkt illusorisch. Doch zumindest ein Schritt in die Richtung ist möglich, um andere Maßnahmen – wie höhere Gasreserven, mehr Kohle, mehr Atom und mehr Erneuerbare – zu flankieren. Aktiv unterstützt vom politischen Verbündeten Washington macht sich die EU deswegen hektisch auf Produzentensuche. Es gibt Indizien, dass das zumindest teilweise gelingt: Einige Firmen leiten ihre Exportrouten um; Japan scheint zugunsten von Europa auf Teile seiner Importe zu verzichten. Europas Geheimwaffe dürfte allerdings seine Zahlungsbereitschaft sein: Als im vergangenen Herbst und Winter die Energiepreise durch die Decke gingen, drehten zahlreiche LNG-Tanker kurzerhand gen Europa um. (€) Asiatische Betreiber versprachen sich hierzulande deutlich höhere Preise; amerikanische Firmen konnten dank der kürzeren Distanz mehr Fahrten in ihren Kalender quetschen. So dürfte es auch jetzt laufen, zumindest dort wo strikte Verträge nicht im Weg sind. Europa würde dann zwar seine Geldbörse ausdünnen, aber immerhin nicht frieren. Und irgendwann sind die Kapazitäten auf Nachfrage- und Angebotsseite schließlich weit genug, um Europas Gaskonsum endgültig einen maritimen Anstrich zu verpassen.

Gut zu wissen: Einen geopolitischen Kopfschmerz für einen anderen ersetzt? Katar nimmt eine sehr große Rolle im globalen LNG-Markt ein, ist Stand 2022 vermutlich der drittgrößte Exporteur. Dummerweise benötigt das Land die Straße von Hormus als Exportweg – welche Iran gelegentlich als Geisel nimmt. 2018 ging fast ein Drittel des globalen LNG durch diese Meeresenge. Mit der höheren systemischen Relevanz von LNG erhält Teheran einen größeren Hebel gegen Europa.

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