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16.06.2024
Making Mexiko | Drogenkrieg | Amlo und Sheinbaum
(15 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Bei den Wahlen in Mexiko dominierte die linke Morena-Partei: Claudia Sheinbaum wurde zur Präsidentin gewählt und die Partei eroberte Kongress und Bundesstaaten.
- Es ist ein überwältigend positives Referendum für die ablaufende 6-jährige Amtszeit von Präsident Andrés Manuel López Obrador (Amlo).
- Tatsächlich konnte der charismatische Politiker mit einer hochaktiven Sozialpolitik die Lebensstandards vieler Mexikaner erhöhen und die Armutsquote bedeutend senken...
- ... doch er scheiterte im Kampf gegen die Bandengewalt, brachte Mexiko in eine fiskalisch komplizierte Lage, polarisierte den Diskurs und versuchte, ungeliebte Institutionen zu schwächen.
- Mit Sheinbaum steht Mexiko also an einer Weggabel: Mit ihrem beeindruckenden Mandat könnte sie die Verfassung des Landes ändern und weitreichende Reformen umsetzen.
- Einige Beobachter befürchten allerdings die Wiederkehr einer semi-demokratischen Ein-Parteien-Herrschaft, wie Mexiko sie bereits zwischen 1929 und 2000 erlebte.
Making Mexiko: Die Geschichte des Landes_
(6 Minuten Lesezeit)
Die präkolumbische Ära
Mexikos zivilisatorische Geschichte begann vor rund 10.000 Jahren. Die Maya, welche den meisten Menschen bekannt sein dürften, traten erst 8.000 Jahre später auf den Plan; die Azteken noch einmal ein Jahrtausend später. Mehrere Kulturen mit überregionaler Bedeutung gaben sich vorher die Klinke, darunter die Olmeken (am besten bekannt für ihre kolossalen Steinköpfe), die Zapoteken (welche eines der ersten Schreibsysteme des Kontinents entwickelten) und Teotihuacan, welches zu einer der größten Städte der Welt aufstieg und als dessen Nachfahren sich die Azteken später wähnen sollten.
Etwa um 250 n. Chr., als sich in Europa das dominante römische Kaiserreich in internen Streitigkeiten verlor und China gerade zum ersten Mal vereint wurde, begann die Blütezeit der Maya-Kultur im Dschungel der Yucatan-Halbinsel. Interner Streit, Umweltdegradation und Konflikt mit Teotihuacan, beim heutigen Mexiko-Stadt, sorgten bis zum 9. Jahrhundert für den Niedergang der Maya, auch wenn sie noch weitere 700 Jahre mit gelegentlichen Aufs und Abs existieren sollten.
Die Azteken, welche sich selbst Mexika nannten, kamen im 13. Jahrhundert aus dem Norden in die Region des heutigen Mexiko-Stadt. Der Begriff "Aztecah" bedeutet dabei "Volk aus Aztlan", bezogen auf den mythologischen Ursprungsort der Mexika, und wurde später vom deutschen Forscher Alexander von Humboldt als Beschreibung für mehrere mesoamerikanische Völker popularisiert. Die Azteken dominierten von ihrer Hauptstadt Tenochtitlan aus die umliegenden Stadtstaaten, sowohl durch Handel als auch militärische Feldzüge.
Die Kolonialära
Das Aztekenreich befand sich auf seinem Höhepunkt, als 1519 eine kleine Gruppe spanischer Konquistadoren anlandete. Hernán Cortés, ein Kommandant, welcher sich mit dem Gouverneur des kolonialen Neuspaniens überworfen hatte, führte gegen ausdrückliche Befehle eine Expedition auf das bis dahin fast unerschlossene amerikanische Festland durch. Mit nur 500 Männern und wenig Bewaffnung gelang Cortés ein hochriskanter Feldzug gegen die Azteken, indem er die Unzufriedenheit unter deren Vasallen ausnutzte (und auch eine bemerkenswerte taktische Rücksichtslosigkeit an den Tag legte). Das Reich wurde destabilisiert und, nachdem die Spanier Verstärkung angelandet hatten, bis 1521 zerschlagen. Cortés beanspruchte Mexiko für die spanische Krone und wurde sein erster Gouverneur.
Mexiko geriet zum Zentrum des Kolonialgouvernements Neuspanien und sollte es zumindest bis zur Eroberung Perus auch unangefochten bleiben. Die Spanier etablierten ein extraktives System rund um die sogenannte Encomienda, welche für die dezimierte indigene Bevölkerung de-facto Versklavung bedeutete. Gleichzeitig fand eine starke Bevölkerungsvermischung zwischen Indigenen, Spaniern und versklavten Afrikanern statt, wobei die "rassische" Herkunft den gesellschaftlichen Status definierte. Europäer und Creolen (Criollos), also in Mexiko geborene Spanier, standen an der Spitze der Hierarchie, in welcher nur erstere Zugriff auf die einflussreichsten Posten in Regierung und Wirtschaft besaßen. Europäisch-indigene Mestizos, welche heute die Mehrheit der Mexikaner ausmachen, folgten dahinter; ganz am Ende standen Indigene. Eine wichtige kulturelle Institution wurde die katholische Kirche, welche die neue Kolonie rasant missionierte und Naturreligionen verbieten ließ.
Die spanische Vorherrschaft war in der 300-jährigen Kolonialgeschichte Mexikos nie ernsthaft gefährdet. Es gab gelegentliche lokalisierte Aufstände und die nördlichen und südlichen Ausläufer des heutigen Mexikos konnten die Spanier erst einige Jahrzehnte nach dem Fall des Aztekenreichs erobern, doch die größte Gefahr blieben Invasionen durch andere europäische Kolonialreiche. Und das allmähliche Heranwachsen der Unabhängigkeitsbewegung ab dem 18. Jahrhundert.
Ein unabhängiges Mexiko
Treiber für die Unabhängigkeit gab es reichlich: In Mexiko hatte sich über die Jahrhunderte eine eigene, von Spanien separate Kultur herausgebildet und Creolen, Mestizos und Indigene blickten seit jeher unzufrieden auf die Machtzentralisierung durch eine kleine Gruppe an Europäern. Zudem hatte Spanien längst seinen wirtschaftlichen, militärischen und politischen Zenit überschritten. Zum Auslöser geriet das Chaos durch die Napoleonischen Kriege: Der französische Kaiser eroberte Spanien 1808 und in Mexiko militarisierten sich zeitgleich die Pro-Unabhängigkeit-Kräfte. Ein Krieg brach aus zwischen Separatisten und Royalisten, welcher bis 1821 von ersteren gewonnen wurde.
Das unabhängige Mexiko machte im Grunde da weiter, wo das koloniale Neuspanien aufgehört hatte. Die Rassenhierarchie wurde zwar formell aufgelöst, doch blieb in der Praxis bestehen. Die Monarchie wurde nicht abgeschafft, stattdessen wurde der General Agustin de Iturbide, ein Creole, der erste Kaiser und regierte autoritär. Schon zwei Jahre später, 1823, wurde er in einem Militärputsch abgesetzt und eine Republik eingerichtet. Sie blieb instabil: Lokale Warlords, claudillos, regierten ihre Standorte wie kleine Fürstentümer. Die mexikanische Präsidentschaft wechselte bis zum Ende des Jahrhunderts mindestens 75 Mal, oft gewaltsam. Die Wirtschaftslage war schlecht, nicht zuletzt, da die politische Instabilität seit der Unabhängigkeit den wichtigen Bergbau im Norden des Landes unterbrochen hatte, der neue Staat tief verschuldet war und der Handel unter hoher Korruption und Rechtsunsicherheit litt.
Gut zu wissen: 1835/36 verlor Mexiko in einem Krieg das separatistische Texas, welches sich zehn Jahre später den USA anschloss. Zur selben Zeit eskalierte ein Grenzkonflikt zwischen Mexiko und den USA in einen Krieg, nach welchem Mexiko zum Verkauf seiner nördlichen Provinzen – weite Teile der heutigen westlichen USA – gezwungen wurde.
Der zentrale Konflikt in Mexiko war jener zwischen Liberalen und Konservativen, welche unterschiedliche Visionen für das Land verfolgten. Die Konservativen unterstützten 1862 eine Invasion durch Frankreich, welches den Österreicher Ferdinand Maximilian als Kaiser einsetzte. Als auffällig liberaler Monarch erlangte er weder die Unterstützung der Liberalen noch der Konservativen und wurde bereits nach fünf Jahren gestürzt und hingerichtet. Die unpopuläre Zusammenarbeit der Konservativen mit ausländischen Invasoren stärkte die Liberalen, welche fortwährend regierten. Unter General Porfirio Díaz modernisierte sich Mexiko kräftig, doch wurde auch autoritär regiert. Als er 1910 entgegen früherer Versprechen an der Präsidentschaftswahl teilnahm und einen favorisierten Gegenkandidaten verhaften ließ, brach ein zehnjähriger Bürgerkrieg aus.
Mexikos Revolution brachte die Verfassung von 1917 hervor, welche mit gewissen Anpassungen bis heute gilt. Sie schrieb als erste Verfassung überhaupt generelle soziale Rechte fest und diente vermutlich der Weimarer Republik ein Jahr später als Inspiration. Zugleich führte die Revolution zu einer erneuten Phase an Chaos und raschen Regierungswechseln, bis 1929 die Partei Partido Revolucionario Institucional (PRI) an die Macht kam.
Die Ein-Parteien-Herrschaft der PRI
Die Partei, bis 1946 unter anderen Namen, etablierte eine jahrzehntelange Ein-Parteien-Herrschaft, nicht ganz unähnlich zum heutigen Singapur. Die PRI sollte von 1929 bis 2000 ungebrochen an der Macht bleiben, bis 1988 keinen einzigen Senatsposten verlieren und bis 1989 kein Gouverneursamt. Mit politischem Geschick befriedete sie das postrevolutionäre, chaotische Mexiko und unterstellte sie sich die Armee sowie die Warlords. Wo es notwendig war, ging sie robust gegen Interessens- und Sozialverbände vor, insbesondere Arbeiterorganisationen und die Kirche. Wahlen manipulierte sie regelmäßig. Der berühmte peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa nannte Mexiko später eine "perfekte Diktatur", da sie "versteckt" sei – nämlich im Deckmantel einer Demokratie.
Die politische Stabilität brachte ein rasantes Wirtschaftswachstum und eine Verbesserung der traditionell schwierigen Beziehungen zu den USA, was dem Export von Agrargütern und Rohstoffen zugutekam. Ideologisch war die PRI flexibel, doch setzte lange Zeit auf einen eher "links" etikettierbaren Wirtschaftsdirigismus, versuchte also viele Aspekte direkt zu steuern. Ab den 1980ern schwenkte sie wirtschaftspolitisch spürbar nach rechts, setzte Marktliberalisierungen um und privatisierte vormals verstaatlichte Industrien.
Ein großer Teil des mexikanischen Wirtschaftswunders bis 1970 hing mit Rohstoffen und hohen Exporten zusammen, was es anfällig für globale Krisen machte. Mehrere Wirtschaftskrisen ab 1976 schwächten die PRI und sorgten für das Aufleben einer politischen Opposition, vor allem in Form der konservativen Partido Acción Nacional (PAN). Die PRI manipulierte die Wahlen immer offener, was die Unzufriedenheit in der Bevölkerung noch verstärkte. Bis 1988 begann sie, Niederlagen in Wahlen auf Kongress- und Gouverneursebene einzuräumen. Eine Niederlage in der Präsidentenwahl akzeptierte sie erst im Jahr 2000 unter Ernesto Zedillo. Als dieser seinem Rivalen von der konservativen PAN, Vicente Fox Quesada, noch am Wahlabend zum Sieg gratulierte, war es die erste unmittelbare friedliche Machtübergabe in der Geschichte Mexikos.
Gut zu wissen: Bereits vor den 70ern gab es Opposition gegen die PRI aufgrund der mangelnden politischen Freiheiten, der hohen Ungleichheit und der schweren Korruption im Land. 1968 ermordete die Armee bis zu 500 protestierende Studenten in Mexiko-Stadt im Tlatelolco-Massaker.
Der Drogenkrieg_
(4 Minuten Lesezeit)

Das Goldene Dreieck
Die PAN sollte auch eine weitere Wahl gewinnen und so insgesamt bis 2012 an der Macht bleiben. In diese Zeit fällt die Eskalation des Drogenkriegs, für welchen Mexiko heute womöglich am besten bekannt ist. Der Drogenanbau in Mexiko geht mindestens bis in die 1960er zurück und ist intuitiv, da das Land mit den USA einen wohlhabenden Markt in direkter Nachbarschaft besitzt, ein Transitland für Schmuggel aus Südamerika darstellt und fruchtbare Anbaufläche für Cannabis und Co. bietet, vor allem im nordwestlichen "Goldenen Dreieck". Anfangs waren es vor allem Opium und Cannabis, welche aus Mexiko in die USA gelangten, doch ab den 1970ern wurde das Land Umschlagplatz für Kokain aus Kolumbien. Nach dem Untergang der Medellín- und Cali-Kartelle in Kolumbien gewannen die Mexikaner noch mehr Einfluss. Heute ist Mexiko auch Produktions- oder zumindest Distributionsquelle für Heroin, MDMA und Fentanyl in den USA.
Die mexikanischen Behörden hatten von Anfang ein zweigeteiltes Verhältnis zu den Banden. Zum einen trugen sie ausgerechnet in armen Regionen wie Sinaloa zum Wachstum bei und konnten korrupte Beamte einfach für sich gewinnen, zum anderen blickten Sicherheitsbehörden und Politiker nervös auf ihren teilweisen Kontrollverlust und wurden von Washington unter Druck gesetzt. Bereits in den 1960ern und 70ern fanden große Sicherheitsoperationen (oft unter Beteiligung der USA) statt, welche für die Banden allerdings harmlos blieben und vorrangig Repressionen für die Zivilbevölkerung brachten, welche damit in die Arme der Mafias getrieben wurde.
Eine (lukrative) Koexistenz
Die PRI arrangierte sich in ihren 71 Jahren an der Macht mit den Banden und akzeptierte eine Art Koexistenz, welche sich gut in die hohe Korruption unter Behörden und Politikern einpasste. Für die Banden, welche kommerziell motiviert sind und das Drogengeschäft nicht etwa als Geldquelle für politische Ambitionen hebeln, ist eine Kooperation mit den Behörden deutlich attraktiver als teurer, riskanter Konflikt. Große Gewaltausbrüche waren eine Seltenheit und geschahen meist zwischen Banden, welche um Territorium und Infrastruktur kämpften. Ein herausstechendes Ereignis war die Gefangennahme von Miguel Ángel Félix Gallardo 1989, also gegen Ende der PRI-Ära.
Gallardo war der Gründer des Guadalajara-Kartells, Mexikos erstem großem Drogenkartell, welches als "Ursuppe" der Kartelle gelten darf. Nach seiner Verhaftung – ein seltener polizeilicher Erfolg, welcher auf die brutale Tötung eines US-Agenten folgte – brach ein heftiger Machtkampf unter den Überbleibseln des Guadalajara-Kartells aus. Dieser bedeutete für Mexiko eine mehrjährige Gewaltwelle und schuf die heutige zersplitterte (und sehr dynamische) Kartelllandschaft. Hauptgruppen sind derzeit das Sinaloa-Kartell im Nordwesten sowie das Jalisco New Generation Cartel (CJNG) im Zentrum Mexikos, welche sich regelmäßig Territorialkonflikte liefern. Insgesamt existieren schätzungsweise 150 bis über 200 Drogenkartelle mit 175.000 Mitgliedern in Mexiko. Kollektiv wären die Banden damit der fünftgrößte Arbeitgeber des Landes, wobei die Schätzung der Mitgliederzahlen vorsichtig betrachtet werden sollte.

Der Staat zieht in den Krieg
Während die PRI eine Koexistenz mit den Kartellen akzeptierte, nahm die konservative PAN es sich zur Aufgabe, gegen sie vorzugehen. Der neu gewählte Präsident Felipe Calderón entsandte 2006 rund 6.500 Soldaten in seine Heimatprovinz Michoacán, um die Banden dort zu zerstören – eine Eskalation. Bis 2008 wuchs die Zahl landesweit auf 45.000 Soldaten an, zusätzlich zu der Bundespolizei. Die Folge war eine enorme Explosion der Gewalt, da die Kartelle Vergeltung verübten und in die Territorien geschwächter Rivalen einrückten. Bis 2022 starben laut variierenden Schätzungen 150.000 bis 360.000 Menschen im Drogenkrieg und weitere Zehntausende werden vermisst. Die höhere Zahl käme auf fast 22.000 Tote pro Jahr heraus, was selbst in vielen Bürgerkriegen oder zwischenstaatlichen Kriegen nicht erreicht wird. Der Drogenkrieg war keine Metapher.
Gut zu wissen: Die Spanne der Schätzungen ist breit, da es schwierig ist, die Tode präzise zu attribuieren. Zahlen für die Zeit vor dem Drogenkrieg, also vor 2006, gibt es leider kaum; robuste Schätzungen konnte die whathappened-Redaktion nicht finden, doch die Werte dürften deutlich niedriger liegen.
Im Jahr 2012 kam die PRI nach zwölf Jahren Abstinenz wieder an die Macht, unter Präsident Enrique Peña Nieto. Ganz weg war die PRI auch unter der PAN-Regierung nicht, da sie auf lokaler und Provinzebene vielerorts stark verankert geblieben war. Nieto ging mit anderen großen Parteien, darunter der PAN, ein Abkommen namens "Pakt für Mexiko" ein. Dieser war zwar nicht ganz eine Koalition, doch beruhigte die Konflikte der Parteienpolitik und erlaubte mehrere große Reformen, darunter im Bildungssektor.
Nietos Regierungszeit bleibt den meisten Mexikanern dennoch negativ in Erinnerung: Der Fall der Ölpreise traf die Wirtschaft schwer, der Drogenkrieg lief unentwegt weiter und erfuhr mit der Flucht des Sinaloa-Drogenbarons Joaquin "El Chapo" Guzmán aus der Haft einen peinlichen Tiefpunkt. Nieto war außerdem in Korruptionsskandale verwickelt, etwa den pan-lateinamerikanischen Odebrecht-Skandal rund um Bestechungen der gleichnamigen Baufirma. Selbst Drogenbaron Guzmán gab an, Nieto bestochen zu haben. Am schwierigsten wiegt jedoch die Iguala Massenentführung 2014. Dabei wurden 43 Studenten in Iguala, Guerrero, entführt, womöglich von der Lokalpolizei oder der Armee, vermutlich mit Beteiligung eines lokalen Kartells. Die Überreste von nur drei Studenten wurden bis heute gefunden, der Rest bleibt verschollen – wie übrigens auch die 110.000 Mexikaner, welche Ende 2023 offiziell vermisst gemeldet waren.
"Amlo" und die Ära Sheinbaum_
(5 Minuten Lesezeit)

Der Aufstieg von Amlo
Es war kein Wunder, dass 2018 eine neue Partei an die Macht kam. Das linke Movimiento Regeneración Nacional ("nationale Erneuerungsbewegung"), besser bekannt mit dem Portmanteau "Morena", trat in die Bresche. Morena war erst 2011 als NGO und 2014 als Partei gegründet worden, doch schaffte 2018 auf Anhieb den Wahlsieg. An ihrer Spitze stand Andrés Manuel López Obrador, oft "Amlo" abgekürzt, welcher zuvor bereits dreimal erfolglos als Präsidentschaftskandidat angetreten war.
Amlos Regierungszeit ist kompliziert zu bewerten. Zum einen gelang es ihm, Millionen von Mexikanern aus der Armut zu hieven, etwa, indem er den Mindestlohn auf umgerechnet 440 USD im Monat nahezu verdreifachte, Sozialprogramme ausbaute und große Infrastrukturprojekte startete. Die Reallöhne sind zwischen 2019 und 2023 um 35 Prozent gestiegen, auch, da Amlo die Gewerkschaften stärkte. Zugleich sank die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordtief von 2,5 Prozent, niedriger gar als in fast allen Industriestaaten. Die Armutsquote fiel allein bis 2022 auf 36 Prozent, von 42 Prozent bei seinem Amtsantritt, und dürfte seitdem weiter gesunken sein.
Doch Amlo trug auch maßgeblich zur Polarisierung des politischen Diskurses bei: Sein Wettern gegen Korruption und Verschwörungen einer "Elite", welche im Endeffekt seine politischen Gegner meint, verfangen sich. Die Nachhaltigkeit seiner Sozialreformen und der Armutsbekämpfung wird von Kritikern in Frage gestellt. Er strich das Gesundheitssystem kräftig zusammen. Und er versuchte kontroverse Reformen an Institutionen der mexikanischen Demokratie: Die Richter am Obersten Gericht und die Direktoren der Wahlbehörde sollen künftig direkt von der Bevölkerung gewählt werden – ein weltweit sehr ungewöhnliches Modell. Amlo und Unterstützer werten den Vorstoß als Demokratisierung von Institutionen, die bisher Bastionen der "korrupten Elite" seien; Gegner sehen einen Frontalangriff auf die Demokratie, welcher tatsächlich unweigerlich eine Stärkung der Exekutive bedeuten würde. Für Skepsis sorgte auch, dass Amlo der Armee weitreichende Befugnisse übertrug, darunter beim Betrieb von Häfen und Flughäfen sowie dem Bau eines großen Zugprojekts auf der Halbinsel Yucatan. Kritiker beklagen eine Militarisierung der Wirtschaft.
Auch die Kartellgewalt bekam Amlo nicht gesenkt. Sein Versprechen, den Drogenkrieg zu beenden, hielt er nicht: Die neue Strategie "Umarmungen statt Patronen" (abrazos, no balazos) sollte bei sozialen Kriminalitätsursachen ansetzen und den Dialog mit den Kartellen suchen, doch letzten Endes erhöhte Amlo die Zahl der mobilisierten Soldaten noch. Die Zahl der Morde sank tatsächlich leicht, doch blieb nahe am Rekordhoch, und Entführungen und Vermisstenzahlen haben seit 2018 deutlich zugelegt. Die Gewalt wirkt außerdem risikobereiter als früher: Beim jüngsten Wahlkampf wurden 36 Kandidaten ermordet, so viele wie noch nie zuvor. Lokal bilden sich Bürgerwehren, welche gegen die Kartelle vorgehen, doch im Gegenzug brutale Vergeltungstaten einladen. Teile Mexikos wirken unsicherer als in den letzten Jahren des aktiven Drogenkriegs, trotz aller Umarmungen.
Gut zu wissen: Die Außenpolitik war für Amlo (welcher kein Englisch spricht) nie ein Fokus, doch er fuhr eine für manch europäischen Beobachter irritierende Linie: Er pflegte ein bemerkenswertes gutes Verhältnis zu Ex-US-Präsident Donald Trump. Amlo nannte die Verfahren gegen Trump politisch motiviert; Trump nannte Amlo anerkennend "Juan Trump", da er sich selbst in ihm erkenne. Der mexikanische Präsident kritisiert außerdem lautstark die westliche Unterstützung für die Ukraine und unterstützt Venezuelas autoritäre Maduro-Regierung.
Die Ära Sheinbaum
Aus Sicht der Mexikaner ist Amlos Regierungszeit insgesamt sehr erfolgreich gewesen, vor allem aufgrund der verbesserten Lebensstandards. Seine Zustimmungsraten liegen beständig oberhalb 60 Prozent. Erneut als Präsident antreten durfte er aufgrund der verfassungsrechtlichen Beschränkung auf eine 6-jährige Amtszeit nicht. Doch stattdessen brachte er 2024 seine handverlesene Loyalistin und Morena-Gründungsmitglied Claudia Sheinbaum in Stellung.

Sheinbaum hatte sich als klare Kontinuitätskandidatin präsentiert, welche die Linie von Amlo fortführen würde. Damit geriet die Wahl in erster Linie zum Referendum über den Präsidenten – und zu seinem großen Erfolg. Sheinbaum siegte mit über 30 Prozentpunkten Vorsprung vor Xóchitl Gálvez, der Kandidatin eines Oppositionsbündnisses, welches von vielen Mexikanern als mal reformfaules, mal korruptes Establishment verstanden wird. Sheinbaum könnte damit das stärkste Resultat in Mexikos demokratischer Geschichte eingeholt haben. Dabei ist die gelernte Energieforscherin keineswegs ungetestet, schließlich war sie vormals Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, wo sie die Zahl der Morde erfolgreich gesenkt bekam. Und doch ist nicht ganz klar, was Mexiko unter ihr erwartet.
Zum einen sieht es so aus, als könnte Sheinbaum einfach zum öffentlichen Gesicht eines Schattenpräsidenten Amlo geraten, welcher also im Hintergrund die tatsächliche Exekutivmacht ausübt. Immerhin hatte sie sich in ihrem Wahlkampf fast vollständig an den beliebten Präsidenten gebunden. Zum anderen wehrt sie sich gegen ebendiesen Vorwurf: "Die Idee, [...] dass ich keine Persönlichkeit hätte, [...] dass Präsident Andrés Manuel López Obrador mir sagt, was ich tun soll [...], mich jeden Tag anruft" sei falsch, so Sheinbaum in einem Interview. Auch ihr ruhiger, fast technokratischer Stil hebt sie stark von Amlo ab, welcher in der lauten populistischen Kommunikation aufblüht.
Gut zu wissen: Die Wahl von Claudia Sheinbaum war gleich in doppelter Hinsicht historisch: Sie ist die erste Frau und die erste Jüdin an der Spitze Mexikos. Beides ist nicht trivial, schließlich ist die Gewalt gegen Frauen in Mexiko hoch und ein traditionelles Rollenverständnis verbreitet; Mexikaner berichten anekdotisch von kräftigem Machismo. Und es ist immerhin eines der größten katholischen Länder der Welt.
Herausforderungen, dank Amlo
Egal, welchen Pfad sie einschlägt, Sheinbaums Arbeit wird nicht einfach. Sie muss eine Antwort auf die Gewaltkriminalität in Mexiko finden und hat keinerlei Garantie, dass Amlos gemäßigter Kurs mit mehr Zeit funktionieren wird. Sie verspricht, die erweiterte Rolle des Militärs zu überprüfen. Vielleicht noch kniffliger wird die Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche Morena immerhin zur ersten Partei seit Jahrzehnten gemacht hat, welche viele Mexikaner tatsächlich mögen.
Sheinbaum hat eine Reihe von Investitionen in die Sozialinfrastruktur versprochen, zum Beispiel in öffentliche Schulen, und möchte an Amlos kräftigen Sozialausgaben festhalten. Doch die fiskalische Lage Mexikos ist äußerst unsicher. Das Haushaltsdefizit dürfte 2024 bei 6,2 Prozent liegen, höher als in allen großen lateinamerikanischen Ländern außer Brasilien und so hoch wie seit den 1980ern nicht mehr. Mexiko könnte dieses mit Schulden finanzieren, doch die Zinsen werden auf absehbare Zeit hoch bleiben und somit einen immer größeren Teil der Staatskasse für Rückzahlungen binden. Ein weiteres Risiko für die neue Regierung ist, dass auch der staatliche Ölkonzern Pemex mit einer hohen Schuldenlast ringt. Neue Steuern wären eine elegantere Lösung, doch sie bedeuten Umverteilungskonflikte oder ein Abwürgen des Wirtschaftswachstums. Sheinbaum wird eine Entscheidung treffen müssen. Diese auf die nächste Regierung abzuwälzen, ist keine Option mehr, denn so ist bereits ihr Vorgänger verfahren.

PRI, #2?
Dazu kommt, dass Morena ein unerwartet starkes Mandat errungen hat. Die Linken behielten nicht nur wie erwartet das Präsidentenamt, sondern kontrollieren jetzt auch 24 von 32 Bundesstaaten sowie praktisch eine Zweidrittelmehrheit im Parlament (Morena fehlen nur wenige Stimmen, welche sich in Mexiko durch individuelle Verhandlungen in der Regel finden lassen). Das ermöglicht der Partei große, kontroverse Reformen, wie jene der Wahlbehörde und des Obersten Gerichts. Die Partei kann Mexiko nach ihrer Vision umgestalten und ihre eigene Position institutionell verankern. Kritiker und so einige unabhängige Beobachter fühlen sich aufgrund der Dominanz und der freien Hand der Morena an die Ein-Parteien-Herrschaft der PRI erinnert, auch wenn der Vergleich zumindest in Bezug auf die autoritären Qualitäten der PRI noch verfrüht ist.
Es gibt auch andere Szenarien, wie die entfernte Nachbarschaft beweist. In Brasilien folgte 2011 auf einen äußerst beliebten Präsidenten Lula dessen ausgewählte Nachfolgerin Dilma Rousseff. Sie brachte nie sein Charisma auf und konnte auch seine Wirtschaftserfolge nicht am Leben erhalten, da sie eine verteilungsfreudige, doch finanzschwache Wirtschaft geerbt hatte. Der Lebensstandard in Brasilien stürzte ab, Rousseff wurde 2016 aus dem Amt getrieben und Lula landete wegen Korruptionsskandalen im Gefängnis.
Alles ist also möglich in Mexiko. Sheinbaum könnte scheitern – nicht mal unbedingt selbstverschuldet – und die gesamte Morena mit sich reißen. Sie könnte mit ihrer Partei ein demokratisch legitimiertes Ein-Parteien-System mit äußerst starker Exekutive und wenig Machtteilung umsetzen, quasi PRI Nummer 2. Oder Sheinbaum gelingt es tatsächlich, durch Mexikos wirtschaftliche und sicherheitspolitische Herausforderungen zu navigieren, ohne die Demokratie allzu sehr zu schwächen – womit sie womöglich ihre eigene Partei gegen sich aufbringen würde. Fast 130 Millionen Menschen blicken mehrheitlich mit hoher Erwartungshaltung, doch auch mit reichlich Sorge auf die Zukunft.
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