Russland und die Sanktionen

Russland und die Sanktionen

Knockout-Punch oder Rohrkrepierer? Die westlichen Sanktionen gegen Russland wurden anfangs überschätzt, jetzt unterschätzt. Wir entwirren die Narrative.

Die Sanktionen wirken nicht | Die Sanktionen wirken | Ein Fazit
(17 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)

  • Die westlichen Sanktionen gegen Russland wirken nicht, so ein Narrativ der vergangenen Monate.
  • Tatsächlich sehen viele Makro-Daten vorteilhaft für Moskau aus: Der Rubel ist stark, der Leitzins normalisiert, die BIP-Prognosen hellen sich auf. Energieexporte bringen viel Geld.
  • Im Hintergrund ist die Lage allerdings eine bedeutend andere. Russland kämpft mit einem massiven Einbruch seiner Importe und einem Exodus westlicher Firmen, was zu schwerwiegenden Komponentenmängeln führt. Die Autoindustrie und andere Branchen sind praktisch gelähmt; die Probleme dürften durch Wertschöpfungsketten hindurch wirken und sich verstärken.
  • Dazu kommt eine langfristige “Nachfragezerstörung” im Energiesektor, in welchem sich Russland in eine Position der Schwäche manövriert hat; sowie heftige Sanktionen gegen die Zentralbank, welche die Krisenreaktion erschweren.
  • Ein russischer “Pivot to Asia” bei Energie, Importen oder Technologie dürfte weitaus schwieriger werden, als es viele Beobachter annehmen.
  • In der Kurzfrist haben die Sanktionen in Anbetracht der russischen Resilienz und hoher Energiepreise zwar ihre Ziele verfehlt; in der Mittel- und Langfrist drohen Russland schwere Schäden.

Die Sanktionen wirken nicht_

(5 Minuten Lesezeit)

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine wird auch für seine wirtschaftliche Komponente einen Platz in der Geschichte einnehmen. Noch nie wurde ein Land mit dermaßen vielen, dermaßen heftigen Sanktionen überzogen – die Folge des westlichen Wirtschaftskriegs gegen Russland, welcher das Land bestrafen, schwächen und, vielleicht, zum schnelleren Kriegsabbruch bewegen soll. Wir erklären, worum es sich bei den Sanktionen handelt, warum sie manch Beobachter enttäuscht haben könnten und warum in ihnen mehr steckt, als es in den vergangenen Monaten vordergründig den Anschein gemacht hat.

Die Sanktionen

Was für Sanktionen hat der Westen eigentlich verhängt? Die Liste ist lang. Das amerikanische Peterson Institute for International Economics zählt 175 Sanktionspakete seit Kriegsausbruch, dazu rund ein Dutzend im Vorfeld des Krieges. Der Analysedienst Castellum zählt 11.812 Einzelmaßnahmen bis Mitte August. Sie lassen sich grob in fünf verschiedene Bereiche aufteilen:

  • Finanzsanktionen, also gerichtet gegen das russische Finanzsystem und die Zentralbank
  • Exportsanktionen, welche die Ausfuhr nach Russland einschränken
  • Importsanktionen, welche russische Staatsumsätze senken sollen
  • Reiseverbote
  • Finanzsanktionen gegen Individuen, insbesondere Oligarchen

Gut zu wissen: An den Sanktionen ist ausschließlich der Westen im “erweiterten” Sinne beteiligt: Die EU, die USA, die Schweiz, Kanada, Großbritannien, Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea, Taiwan und Singapur (wobei letzteres doch selten als “Westen” bezeichnet wird). Aus der Reihe der Entwicklungs- und Schwellenländer nimmt niemand an den westlichen Sanktionen teil.

Noch nie wurde ein Staat dermaßen stark sanktioniert wie Russland. Quelle: Castellum.ai

Die unbezwingbare Festung Russland

Wie gut wirken die Sanktionen gegen Russland? Nach anfänglicher Euphorie schien sich das Narrativ im Westen und auch außerhalb davon mehrheitlich gewandelt zu haben: Der westliche Wirtschaftsblitzkrieg sei gescheitert, Russland stecke die Sanktionen gekonnt weg. Die “Festung Russland” habe erneut funktioniert: Eine Wirtschaftsstrategie, welche darauf basiert, Russland unbezwingbar für Sanktionen zu machen. Möglichst wenig Abhängigkeit vom Ausland, dafür viele Hebel gegen selbiges. Rohstoffexporte bringen Devisen rein, welche die Zentralbank zur Stabilisierung der Währung und der Staat für Importe nutzen kann. Eine geringe Staatsverschuldung und ein lobenswerter Staatshaushalt – beides möglich dank der sprudelnden Rohstoffumsätze – geben Staat und Zentralbank viel Spielraum, um die Wirtschaft im Krisenfall zu stabilisieren. Die Festung Russland federt einige Jahre lang sämtliche Sanktionen ab, bevor die “Sanktioneure” das Interesse verlieren. Das Modell wurde 2014 mit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine geboren, infolge westlicher Sanktionen gegen Russland, und muss jetzt seine Stärke beweisen.

Ein Schuss ins Bein

Tatsächlich gaben einige makroökonomische Daten Anlass zur Vermutung, dass die Festung den Sturmangriff gut überstanden habe: Der russische Rubel war anfangs kollabiert, nur um sich dann zu fangen und nach einigen Monaten gar das Vorkriegsniveau hinter sich zu lassen. Jetzt ist es, nach offiziellem Duktus, die bestperformende Währung der Welt. Die Energieexporte verliefen dank hoher Weltmarktpreise die gesamte Zeit prächtig, auch wenn die reine Exportmenge gesunken sein mag. Der russische Leitzins, anfangs panisch in schwindelerregende Höhen geschraubt, liegt inzwischen wieder unter dem Vorkrisenniveau. Das russische Wirtschaftsministerium, die Zentralbank und auch der Internationale Währungsfonds hellen ihre einst sehr dunklen Prognosen für das Gesamtjahr 2022 auf, egal ob es um BIP-Wachstum oder Inflation geht. Alles gut in Russland, so könnte man meinen. Auch der Kreml treibt dieses Narrativ; spricht davon, dass es der eigenen Wirtschaft prächtig gehe und sich der Westen mit seinen Sanktionen lediglich selbst ins Bein schieße. Das verfängt sich auch bei nicht wenigen westlichen Beobachtern und in Drittländern. Dahinter steht zum Teil ein Missverständnis makroökonomischer Zusammenhänge und der russischen Informationspraxis, zum Teil eine falsche Erwartungshaltung zu den Sanktionen. Bei genauerem Hinschauen bekommt das Narrativ deutliche Risse. Gerade in der Langfrist drohen Russland große Probleme und die Hinweise darauf zeichnen sich bereits jetzt ab.

Keine SWIFT-Bombe

Erst einmal ein Wort zu den Sanktionen, welche weniger wirken, als sie versprochen haben mögen. Sie unterliegen einer gewissen Ironie: Ausgerechnet jene Maßnahmen, welche sehr öffentlichkeitswirksam waren, sind in ihrem Effekt zweifelhaft: Der partielle SWIFT-Ausschluss? Macht bislang relativ wenig. Das russische Finanzsystem ist stabil, wenn auch gewohnt klein, und das größte Finanzinstitut, die Sberbank, war von Anfang an von den EU-Sanktionen ausgenommen – sie spielte längste Zeit eine zu große Rolle im Öl- und Gashandel, als dass der Block sie zu sanktionieren bereit gewesen wäre. Das änderte sich erst Ende Mai, im sechsten Sanktionspaket (die USA hatten die Sberbank dagegen von Anfang an sanktioniert). Der partielle SWIFT-Ausschluss, für welchen es in westlichen Hauptstädten regelrechte Straßenproteste gab, für diese “Atombombe” der Sanktionen, bleibt recht zahnlos. Das Erdölembargo der EU? Umfasst nur Schiffstransporte, da sich die besonders abhängigen Staaten Zentraleuropas gegen ein Verbot für Pipeline-Öl gestemmt hatten. Fairerweise könnten davon dennoch knapp 90 Prozent der russischen Ölexporte an die EU betroffen sein. Doch Ökonomen halten von dem Ölembargo ganz grundsätzlich wenig, denn die künstliche Angebotsverknappung trieb die Weltmarktpreise in die Höhe; schon während über die Maßnahme debattiert wurde und jetzt, während auf die Einführung am 5. Dezember gewartet wird. Höhere Preise kommen jedoch dem Kreml zugute, also genau das Gegenteil von dem, was gewünscht war. Viele Beobachter empfahlen stattdessen Preisdeckel oder Strafzölle. Und auch Sanktionen gegen die leidensfähigen russischen Oligarchen sind in erster Linie wohl symbolisch, auch wenn sie ihre Yachten vermissen dürften. Beobachter verstehen zudem nicht so recht (€), wieso manche Oligarchen auf den Sanktionslisten landen und andere nicht.

Die Sanktionen wirken_

(10 Minuten Lesezeit)

Schlag gegen die Zentralbank

Die Sanktionen, die echte Wirkung entfalten, sind jene, welche an der Öffentlichkeit etwas mehr vorbeigegangen sein dürften. Der “Headliner” in dieser Liste sind ganz klar die Sanktionen gegen die russische Zentralbank. Sie hatte seit 2014 ganze 630 Milliarden USD an Auslandswährung zusammengetrieben, der viertgrößte Devisenschatz der Welt hinter China, Japan und der Schweiz. Die Devisen, hauptsächlich ein Produkt der sprudelnden russischen Rohstoffexporte, dienten dem Bau der Festung Russland: Devisen lassen sich am Währungsmarkt dafür einsetzen, den Wert der Währung zu steuern, was Inflation, Außenhandel und Wirtschaftswachstum beeinflussen kann. Wichtige Hebel für ein Land, welches sich auf einen wirtschaftlichen Schock einstellt. Umso schockierender muss es gewesen sein, als die westlichen Staaten Ende Februar plötzlich sämtliche Gelder der russischen Zentralbank, auf welche sie Zugriff hatten, einfroren. Rund die Hälfte der russischen Devisenreserven waren plötzlich einfach weg und standen nicht mehr zur Währungsstabilisierung zur Verfügung. Das war ein spektakulärer Schritt, welcher vielleicht im Umgang mit Afghanistan bekannt war, doch in jenem mit Russland undenkbar geschienen hatte. Westliche Beobachter waren fast allesamt überrascht und auch Moskau hatte kaum damit gerechnet, denn sonst hätte es mit Sicherheit versucht, seine Gelder rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Außenminister Lawrow räumte vor Moskauer Studenten ein, dass die Zentralbanksanktionen sein Regime auf dem falschen Fuß getroffen hatten.

Die russische Zentralbank unter der genialen Ökonomin Elwira Sachipsadowna Nabiullina ging in den Panikmodus. Die Inflation legte rasant zu – sie sprang von 9 Prozent Vorkriegsniveau (ohnehin bereits höher als die knapp 5 Prozent der Vorjahre) auf über 17 Prozent – und die Währung verlor binnen kürzester Zeit 40 Prozent an Wert gegen den US-Dollar. Die Zentralbank verdoppelte ihren Leitzins von 9,5 auf 20 Prozent, womit sie zur Sicherung der Preis- und Währungsstabilität hohe Risiken für das Wirtschaftswachstum hinnahm. Im Verlaufe der Wochen, wie bereits erwähnt, normalisierte sich die Lage allerdings wieder: Der Rubel ist Stand August 2022 inzwischen stärker als vor Kriegsausbruch, der Leitzins liegt unter dem Vorkriegsniveau und die Inflation ist zumindest auf 15 Prozent gesunken. Die Rohstoffexporte laufen gut, denn die Weltmarktpreise sind derart hoch, dass Russland die wegfallende westliche Nachfrage mit kräftigen Rabatten im Rest der Welt kompensieren kann. Das füllt wiederum die Staatskoffer und macht die beschlagnahmten 330 Milliarden USD weniger schmerzhaft.

Die fiktive Stärke des Rubels

Hier lohnt sich allerdings etwas Mythenbekämpfung. Der Rubel ist nicht stärker geworden, weil es der russischen Wirtschaft gut gehe und das Investorenvertrauen auf einem Hoch läge. Er ist stärker, weil er im Grunde keine frei handelbare Währung mehr ist. Moskau hat eine Vielzahl an Kapitalkontrollen verhängt, zwingt Firmen beispielsweise zum Verkauf von Devisen und schränkt den Devisenkauf durch Haushalte ein. Zeitweise waren es die schärfsten Kapitalkontrollen seit zumindest dreißig Jahren; inzwischen hat die Zentralbank einige Einschränkungen wieder zurückgenommen.

Zu guter Letzt ist der Rubel stärker, weil Russland zwar viele Rohstoffe exportiert, doch nur noch wenig importiert. Exporte treiben die Rubelnachfrage und stärken die Währung, Importe schwächen sie. Die daraus resultierende positive Außenhandelsbilanz ist, vielleicht nicht ganz intuitiv, kein Zeichen der Stärke. Im Gegenteil.

Die gefährliche Zwangsautarkie

Im Krieg erhalten selbst die abgedroschensten Sprüche manchmal ein zweites Leben. “Geld lässt sich nicht essen” mag kitschig klingen, doch in leicht abgewandelter Form ist es höchst relevant: Was nützt Russland all das Geld aus seinen Rohstoffexporten, wenn es es für nichts ausgeben kann? Moskau benötigt kein Geld, es benötigt Waffen, Technologien, Energie und Nahrungsmittel. Doch bei allen Rubeln kommt es an einiges davon nicht mehr heran.

Die westlichen Sanktionen umfassen eine Reihe an Exportverboten, also aus dem Westen nach Russland – eine Richtung, welche medial weniger Aufmerksamkeit erfährt, als ihr rohstoffintensives Gegenstück. Doch Russland ist notorisch schwach in der Hightech-Produktion und Weiterverarbeitung; gerade Hochtechnologiegüter bezieht es oftmals aus dem Westen – genauer zu knapp 66 Prozent aus der EU und den USA, gegenüber 11 Prozent aus China. Das US-Wirtschaftsministerium schätzt, dass die globalen Chipexporte nach Russland um 90 Prozent eingebrochen sind, nachdem 37 Länder entsprechende Sanktionen verhängt hatten. Russische Partner in Indien oder China können nur bedingt aushelfen, denn teilweise benötigen sie die begehrten Halbleiter selbst, teilweise besitzen sie einfach gar nicht die Technologie, um zu kompensieren. Selbst China, welches viele Beobachter bei jedem Thema Hightech inzwischen automatisch zum Technologieführer hochfantasieren, kommt in der Chipproduktion nicht heran an amerikanische, europäische, südkoreanische oder taiwanische Hersteller oder ist von ihren Zulieferungen abhängig.

Russland bekommt die Komponentenknappheit bereits unmittelbar zu spüren: Die Automobilproduktion ist im Mai um katastrophale 97 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebrochen – also im Grunde vollständig zum Stillstand gekommen. 3.700 Autos liefen im ganzen Land vom Band, gegenüber 95.000 im Januar. Knapp 600.000 Menschen arbeiten direkt in dem Sektor, weitere drei Millionen in den dazugehörigen Industrien. Der Luftfahrtsektor scheint ähnlich stark betroffen. Bei Kühlschränken lag das Minus bei 58 Prozent, bei Glasfaserkabeln bei 81 Prozent, bei Lokomotiven bei 63 Prozent, bei Waschmaschinen bei 59 Prozent. Das lässt sich kaum überschätzen: Die Kausalkette aus Importsperren, Komponentenmängeln und Produktionskollaps droht die regelrechte Deindustrialisierung von Teilen der russischen Wirtschaft anzustoßen. 

Zeigt sich das auch auf der Makroebene? Allem Anschein nach, ja. Russland berichtet nur noch selektiv Daten. Analysiert man jene der Handelspartner, zeigt sich, dass die russischen Importe im April um bis zu 80 Prozent (ru) zurückgegangen sein könnten. Russische Offizielle räumten immerhin einen Rückgang von 50 Prozent (ru) ein. Positive russische Handelsbilanzen und Leistungsbilanzen sowie der starke Rubel deuten ebenfalls auf einen Wegbruch der Importe hin, auch wenn sie auf den ersten Blick wie vorteilhafte Indikatoren klingen mögen. Der prominente US-Ökonom Paul Krugman fasst zusammen: “Russland hat keine Probleme Kram zu verkaufen, aber es hat sehr große Probleme, Kram zu kaufen”.

Das russische Importproblem wird sich im Verlaufe der Zeit nur noch verschärfen, denn Inventar wird aufgebraucht und Material immer rarer. Schwierigkeiten wirbeln durch ganze Wertschöpfungsketten und verstärken sich gegenseitig. Auf lange Sicht droht Russland, technologisch zurückzufallen, wie auch die Zentralbank mit Verweis auf eine “Sowjetunion-ähnliche Situation” einräumt. Auf mittlere Sicht dürften die Importschwierigkeiten Auswirkungen auf die Kriegsfertigkeit haben: Es gibt Hinweise, dass Panzerhersteller mit fehlenden Teilen kämpfen und sich in russischem Militärgerät bereits herkömmliche Computerchips aus Spülmaschinen und Kühlschränken gefunden hätten. (€) Manch Analyst verweist auf 2014, als sich Russland mit einer Importsubstitutionsstrategie nach einer schmerzhaften Gewöhnungsphase an die westlichen Sanktionen adaptiert bekam. Doch damals ging es um landwirtschaftliche Produkte, jetzt um Hochtechnologien.

Der Exodus

Manchmal sind die besten Sanktionen jene, die man nie verhängt hatte. Ohne jeden unmittelbaren rechtlichen Zwang entstand ein regelrechter Exodus westlicher Unternehmen aus Russland, welche sich aus vorauseilendem Gehorsam – oder infolge einer nüchternen Kosten-Risiko-Analyse – selbstsanktionierten. Die Yale University verfolgt 1.385 global agierende Unternehmen. Bis Mitte August hatten 23 Prozent das Land komplett verlassen oder planten dies in Kürze; 36 Prozent hatten ihre Aktivitäten pausiert; und 12 Prozent reduzierten ihre Operationen im Land. Das ist mehr als Schmückwerk: Russland verliert dadurch Auslandsinvestitionen, Knowhow, Arbeitsplätze, Fachkräfte (welche mitunter ins Ausland mitgenommen werden) und besteuerbare Wirtschaftsaktivität. Die Yale-Forscher berechnen, dass die 1.000 abziehenden, pausierenden oder reduzierenden Firmen Umsätze in der Höhe von 45 Prozent des russischen BIP generieren. Das deutet die Größenordnung an, welche Russland in Zukunft an Steuereinnahmen fehlen könnte – auch wenn die tatsächliche Berechnung natürlich komplizierter und mit mehr Unsicherheit behaftet ist (Beispiel: Der lokale Ableger Stars Coffee, mit auffällig ähnlichem Logo, hat plötzlich die geschlossenen Starbucks-Filialen übernommen). Der Bürgermeister von Moskau rechnet derweil mit 200.000 neuen Arbeitslosen allein in der Hauptstadt aufgrund des Exodus. Und ein neu eingeführter Rubel-Schein wird vorerst nicht in der Bevölkerung ankommen, denn die Hersteller, welche die Software der Bankautomaten aktualisieren müssten, sind nicht mehr im Land. (€)

Das smartere Ölembargo?

Das sechste Sanktionspaket der EU umfasste neben dem kontroversen Erdölembargo der EU auch ein Verbot für Schiffsversicherungen bei russischen Energieexporten. Dieses ist ein gutes Beispiel dafür, wie kaum bemerkte technisch-trockene Maßnahmen nicht zu unterschätzen sind. Die EU und Großbritannien, welches nachzog, verbieten damit ihren heimischen Versicherern und Rückversicherern, sich an russischen Lieferungen zu beteiligen (€). Ohne anerkannte Versicherungen sind die Lieferungen aber deutlich schwerer, teilweise gänzlich unmöglich, durchzuführen. Da die EU und Großbritannien den Markt dominieren, könnte das gar Russlands Transporte in andere Teile der Welt beeinträchtigen. Die große Frage ist, ob Anbieter aus Drittländern in die Bresche springen können und wollen. Das ist alles andere als trivial, denn die Russland-Risiken sind beträchtlich und die (Rück-)Versicherer dort bringen nicht unbedingt die notwendige Finanzkraft auf, um die westlichen Anbieter zu ersetzen. Es gibt bereits erste Anzeichen für mangelnde Begeisterung. Politischer Druck aus Peking oder Neu-Delhi könnte kommerzielle Bedenken überlagern, doch das Versicherungsverbot wird in jedem Fall Transaktionskosten und Kopfschmerzen bereiten. Übrigens womöglich auch für den Westen, schließlich könnte die Maßnahme die Weltmarktpreise für Energie in die Höhe schrauben. Ende des Jahres, wenn das Verbot in Kraft treten soll, wissen wir mehr.

Nachfragezerstörung

Bei allen Diskussionen über Sanktionen gegen Russland ist das Erdgas fast schon gespentisch abwesend. Kein Wunder: Während der Westen sein Öl eben von anderen Schiffen aus anderen Häfen liefern lassen kann, ist Erdgas eine deutlich statischere Angelegenheit: Dieselben Pipelines, welche einen Lieferanten an seine Kunden binden, binden die Kunden an den Lieferanten. Es gibt kein Erdgasembargo und viele Ausnahmen bei den Finanzsanktionen, wenn es um Erdgas geht. Auf russische Spielchen bei der Auslastung der Pipeline Nord Stream 1 reagiert Europa verärgert, aber eben auch nicht mehr. Was soll es schon tun? Kein Gas mehr kaufen?

Spannender ist einmal mehr die lange Sicht. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Wirtschaftskrieg mit Russland haben Europa schmerzhaft vor Augen geführt, dass es sich von russischer Energie emanzipieren muss. Sich in einem derart strategischen Rohstoff in ein Monopol zu begeben ist nicht nur schlechte Politik (auch wenn die Idee des “Wandels durch Handel” keinen ex-post-Zerriss in die Lächerlichkeit verdient), es ist auch betriebswirtschaftlich fatal. Bis Ende des Jahres möchte die EU zwei Drittel ihrer Abhängigkeit von Russland reduziert haben. Sie baut fleißig ihre Kapazitäten für Flüssigerdgas (LNG) aus und begibt sich damit in die Arme Katars, Australiens und der jahrelang verschmähten USA (deren Opposition zu Nord Stream 2 in Berlin oftmals als Versuch gewertet worden war, lediglich das eigene LNG zu verscherbeln). Sie schließt Lieferverträge mit Senegal, Israel, Algerien und weiteren Anrainerstaaten. Die Niederlande erwägen, das Gasfeld Groningen wiederzubeleben – Erdbebengefahr zum Trotz – und Deutschland bringt Kohle- und vermutlich Atomenergie vorläufig zurück – den Parteigründungsmythen der Grünen zum Trotz. In der europäischen Energiepolitik herrscht regelrechte Völkerwanderung.

Gut zu wissen: Mehr zur Energiekrise in unserem Update-Explainer aus dem Juli 2022.

Vielleicht scheitern die kurzfristigen Maßnahmen und Europa erlebt einen harten Winter. Doch auf mittlere und lange Sicht ist es kaum noch denkbar, dass der Kontinent zurück in die wohligen russischen Arme kehrt. Für Russland bedeutet das “Nachfragezerstörung” und zwar eine, welche es in sich hat. Knapp 50 Prozent der russischen Ölexporte gingen 2021 nach Europa; dazu fast 75 Prozent der Gasexporte (übrigens mit 19 Prozent am meisten nach Deutschland). Der Kontinent ist nicht nur nachfragehungrig, sondern auch zahlungsbereit wie sonst nur Nordamerika. Für Russland machen die Energieexporte 14 Prozent des BIP aus. Das ist viel Abwärtspotenzial, sollten seine besten Kunden wegfallen.

Nicht isoliert – oder doch?

Kann Russland seine mittel- und langfristige Bredouille durch neue Freunde lösen, durch einen “Pivot to Asia”? Erst einmal: Das Argument, das Russland nicht isoliert sei, scheint zu stimmen: Außerhalb eines Clubs aus knapp 40 Staaten nimmt kaum jemand an den Sanktionen gegen Moskau teil. Gerade China und Indien verkehren weiterhin mit dem vermeintlichen Paria, was vielen Beobachtern nach einfacher Arithmetik bereits für ein Urteil genügt: 1,4 Milliarden plus 1,4 Milliarden, das macht allein schon 36 Prozent der Weltbevölkerung aus. Wie sollen die westlichen Sanktionen da jemals wirken?

Ohne Frage sind China, Indien und andere Drittstaaten für Russland derzeit eine Art Rettungsanker, eine “lifeline”. Sie kaufen die stark rabattierten russischen Rohstoffe sowie Militärgüter und sind wichtige Intermediäre, über welche Russland den Anschluss an den Weltmarkt – sogar an westliche Güter – behält. Gleichzeitig ist das Potenzial dieser Verhältnisse limitiert, so sehr Präsident Putin und Xi die Grenzenlosigkeit ihrer Freundschaft hervorheben mögen. Dieser Explainer hat bereits einige Punkte genannt: Indien und China können den Wegfall russischer Importe nur bedingt wettmachen – im Juli normalisierten sich die chinesischen Exporte nach Russland überhaupt erst auf nahezu das Vorkriegsniveau, nachdem sie im Frühjahr um die Hälfte eingebrochen waren – und es gibt deutliche Anzeichen, dass Russland bei Sanktionen wie der Schiffsversichererbranche nicht so einfach in eine “indo-chinesische Welt” wechseln kann. Generell zeichnet sich bislang ab, dass indische und chinesische Firmen zwar interessiert, doch vorsichtig im Umgang mit Russland bleiben, gerade wenn sie international agieren. Zu hoch sind die Risiken, zu uneindeutig die kommerziellen Vorteile für manche Unternehmen.

In jedem Fall bedeutet der Umweg über Fernost oder Südasien höhere Transaktionskosten und weniger liquide Märkte für russische Entitäten. Die Energie bietet ein passendes Beispiel: Russland wird seine für Europa und Nordamerika gedachten Öllieferungen zwar an Indien und China los, allerdings nur mit knapp 30 USD Preisabschlag. Das geht nur gut, solange der Weltmarktpreis hoch bleibt, danach entlarvt es eine eklatante Position der Schwäche. Erdgas, welches in den russischen Staatsumsätzen eine etwas kleinere Rolle spielt, ist noch schwieriger mit den neuen Freunden zu kompensieren, da es hauptsächlich an Pipelines gebunden ist. Die Kapazitäten nach China betragen etwa ein Zehntel der Infrastruktur nach Europa, so das Wirtschaftsinstitut IfW in Kiel. Pipelines nach China oder Indien zu bauen wird viel Geld verschlingen und lange dauern – und alle beteiligten Unternehmen müssen sich fragen, ob sich das Projekt tatsächlich innerhalb der nächsten Jahrzehnte amortisieren wird. Und die Infrastruktur für Flüssigerdgas ist sowohl in Russland als auch bei den potenziellen Abnehmern derzeit unzureichend. Hier winkt übrigens wieder das Kapitel zu Importsperren und Selbstsanktionierung: Da der deutsche Spezialchemiehersteller Linde sich zurückgezogen hatte, mussten Novatek und Gazprom zwei LNG-Projekte pausieren (ru): Es fehlte an wichtigen Komponenten für die Gasverflüssigung.

Ein Fazit_

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Kurz- und Langfrist

Was ist also ein Fazit? Erst einmal: Eine ehrliche Betrachtung der Sanktionen muss berücksichtigen, dass unterschiedliche Zeiträume relevant sind. In der Kurzfrist wurde die russische Wirtschaft getroffen, doch nicht umgeworfen. Astronomische Energiepreise und jahrelanger Resilienzaufbau erlaubten ihr, sich nach einem kurzen Schock wieder zu konsolidieren. Zu dem Grad, zu dem die westlichen Sanktionen auf einen kurzfristigen Herzinfarkt abgezielt hatten, sind sie gescheitert. In der Mittelfrist werden fehlende Komponenten und höhere Transaktionskosten die russische Wirtschaft und ihre Kriegsfähigkeit schwächen. Hier zeichnen sich bereits ernstzunehmende Effekte der Sanktionen ab, sowohl anekdotisch als auch in den wenigen Makro-Daten, welche sich dafür halbwegs heranziehen lassen. In der Langfrist muss Russland mit erschwertem Zugang zu wichtigen Technologien, Fachkräfteabwanderung und selbstverursachter Nachfragezerstörung im äußerst wichtigen Energiebereich kämpfen. Die Zeit arbeitet damit allem Anschein nach für das westliche Sanktionsregime. Dieses wirkt langsam, doch schafft für Russland signifikantes Abwärtspotenzial. Ein “Pivot to Asia” scheint nicht imstande zu sein, das schnell und ausreichend zu kompensieren.

Dunkelfeld

Ein zweiter Aspekt der ehrlichen Betrachtung ist, dass wir vieles nicht wissen. Russland gibt Daten aus seiner Volkswirtschaft nur noch spärlich preis. Das erschwert die Einschätzung der Sanktionen. Der wahre Wechselkurs des Rubels ist unbekannt; zur Berechnungsart der Inflation gibt es Fragen. Klassische Metriken wie das BIP helfen nur bedingt oder zumindest nur zeitversetzt, um die Effekte zu erkennen. Es ist unklar, wie viel Kompensation durch Drittländer erfolgen können wird, gerade in der Langfrist, auch da ein Teil davon in einem schwer einsehbaren, halblegalen “Dunkelfeld” passiert. Russland selbst ist im Grunde zum Piratenstaat geworden, welcher seinen Unternehmen hochoffiziell Patentdiebstahl gestattet und die eigene Luftfahrtindustrie geleaste Flugzeuge aus dem Westen stehlen lässt – übrigens um sie auszuschlachten, da es der eigenen Industrie inzwischen an Komponenten fehlt. Wie genau spiegelt sich so etwas in den Quartalsdaten zur Industrieproduktion wider?

Die Festung belagern

Was bleibt, ist ein Appell. Der Westen muss an seinen Sanktionen festhalten und darf nicht die mittel- und langfristigen Daumenschrauben an der russischen Wirtschaft lockern. Nur so lässt sich die russische Kriegsfähigkeit nichtmilitärisch einschränken, nur so lässt sich die russische Vision einer Welt aus autoritären Großmächten und imperialen Einflusszonen nichtmilitärisch zurückweisen (die Unterstützung der Ukraine ist ein weiterer Kanal). Die Wirkung von Sanktionen ist ein permanentes Streitthema unter Ökonomen, Historikern und Politikwissenschaftlern, doch diese akademische Frage wird nicht gelöst werden können, bevor die jetzige Situation eine Entscheidung abverlangt.

Innerhalb der Sanktionen gilt es allerdings, die Spreu vom Weizen zu trennen: Einige Maßnahmen waren von Anfang an nicht wohlüberlegt und scheinen mehr ihrer Symbolwirkung oder purem Aktionismus geschuldet gewesen zu sein. Damit unterminieren die westlichen Staaten das Vertrauen in die eigenen Sanktionen und vergrößern die heimische Kriegsmüdigkeit. An Beobachter geht wiederum die Aufgabe, sich weder vorschneller Siegestrunkenheit noch Fatalismus hinzugeben: Nur weil die russische Wirtschaft nicht binnen einiger Monate in die Knie geht, bedeutet das nicht, dass die Sanktionen wirkungslos seien und genauso gut aufgehoben werden könnten. Die Festung Russland wäre niemals in einem Streich gefallen. Es gilt, sie zu belagern, bis ihre Kriegsherren den Druck spüren. 

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