Ein Rückblick auf einen fast vergessenen Moment, als Russland ein anderes Land hätte werden können. Der zweite und letzte Teil dieser kleinen Reihe.
Die Zeit der Wirren | Der Scheideweg | Der Epilog
(15 Minuten Lesezeit)
Russlands Pfad, Teil 1: Memorial
Russlands Pfad, Teil 3: Dunkelheit
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- In den späten 1990ern gab es für Russland eine Chance, einen völlig anderen Pfad einzuschlagen, hin zu einer westlich inspirierten, liberalen und marktwirtschaftlichen Demokratie.
- Das Land war soeben erst aus der Sowjetunion hervorgegangen und erlebte unter Präsident Boris Jelzin eine chaotische, oftmals schmerzhafte Reformphase.
- Boris Nemzow schien lange Zeit wie der Nachfolger von Jelzin. Er war ein idealistischer, doch auch hocheffektiver Reformer.
- Lange schien er über der Korruption, dem Chaos und den Blamagen der 90er-Jahre zu stehen, doch eine Finanzkrise 1998 holte ihn ein und stieß ihn von der Spitze.
- Stattdessen wandte sich Jelzin einem bis dato kaum bekannten Politiker zu: Wladimir Putin.
- Nemzow unterstützte Putin anfangs, doch wurde schnell zu einem seiner schärfsten Kritiker. Über die Jahre verlor Nemzow jeglichen Einfluss in der Politik, war nur noch als Aktivist tätig. 2015 wurde er nahe dem Kreml ermordet.
- Eine Erinnerung, dass Russland jemals eine Chance auf einen anderen Pfad hatte, sind heute Nemzows frühere Mitstreiter, etwa Wladimir Kara-Mursa. Passend, dass dieser jüngst zu 25 Jahren Haft verurteilt worden ist – so lang, wie zuletzt zu Stalins Zeiten.
Die Zeit der Wirren_
Im ersten Explainer zu “Russlands Pfad” beleuchteten wir die NGO Memorial, eine der ältesten des Landes. Mit ihrer Aufarbeitung der Verbrechen der Sowjetära erarbeitete sie sich den Spitznamen “Russlands Gewissen”, doch geriet alsbald in Konflikt mit den Behörden. Vor Kurzem wurde sie verboten und ihr Gründer Oleg Orlow angeklagt, ihm könnten bis zu 15 Jahre Haft drohen. Es ist ein Hinweis darauf, dass die russische Führung die Vergangenheit weniger als Warnung, denn als Vorbild empfindet. Umfragen deuten darauf hin, dass große Teile der Bevölkerung mitgehen.
Russlands Pfad, Teil 1: Memorial
Ein anderer aktueller Justizfall in Russland ist allerdings mit einer noch tragischeren Story verbunden, mit einem “Was wäre gewesen, wenn…”. Der Aufhänger ist Wladimir Kara-Mursa, welcher im April 2023 von den russischen Behörden zu 25 Jahren Haft verurteilt worden ist. Doch im Kern geht es um die Geschichte von Boris Nemzow, politischer Mentor von Kara-Mursa und einer der wichtigsten Gegenspieler Putins. Nemzow steht für Russlands kurze, vertane, fast vergessene Chance in der Jahrtausendwende, ein modernes Land zu werden. Werfen wir einen Blick auf den Scheideweg, an welchem sich Russland falsch entschied.
Der Kreislauf aus Tyrannei und Chaos
Es war eine völlig neue Erfahrung, als Russland 1991 seinen Präsidenten wählte. Nur einmal zuvor hatte es in der Geschichte des Landes überhaupt eine nennenswerte Wahl gegeben, und zwar 1917, nach der Februarrevolution. Vor dieser war Russland über ein halbes Jahrtausend lang de-facto eine absolute Monarchie gewesen, die längste Zeit mit Leibeigenschaft; nach ihr rutschte es schnell in die totalitäre Sowjetunion. Die russische Geschichte war damit eine Abfolge autokratischer Systeme, meist unterbrochen von chaotischen Krisenphasen: Die mongolische Besatzung im 13. Jahrhundert; die “Zeit der Wirren”, in welcher Russland im 16. Jahrhundert drei Hungersnöte und fünf Herrscher innerhalb von 15 Jahren erlebte sowie zeitweise durch Polen besetzt war; die finale Krise der russischen Monarchie, welche 1905 in einer Revolution und 1917 in ihrer Absetzung gipfelte; und der heftige Bürgerkrieg zwischen “Roten” und “Weißen” von 1917 bis 1923.
1991 sollte der nächste Eintrag folgen. Eine lethargische Sowjetunion – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich – war von Generalsekretär Michail Gorbatschow seit 1985 radikal reformiert worden. Eine unerwartete Eigendynamik stellte sich ein, in welcher die gestärkten Liberalen und die verbitterten Konservativen immer heftiger aneinandergerieten und die einzelnen Sowjetrepubliken plötzlich nach mehr Autonomie riefen. Beides eskalierte: Aus dem Streit wurde ein vergeblicher Putschversuch der konservativen Kräfte im August 1991 und aus der Autonomie wurde das Verlangen nach Unabhängigkeit – und zwar nicht nur von den ethnischen Regionen an der Peripherie, sondern auch seitens der “zentralen” Sowjetrepubliken Russland, Belarus und der Ukraine. Die sowjetische Zentralregierung herrschte über einen Staat, welcher nicht mehr existierte. Ende 1991 wurde er offiziell abgewickelt. Die Sowjetunion war nicht mehr.
Schon einige Monate vor dem offiziellen Aus, im Juni 1991, hatte Russland seinen Präsidenten gewählt, damals noch offiziell als “Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik” (RSFSR), welche im Folgejahr zur Russischen Föderation umbenannt wurde. Wahlsieger war Boris Jelzin mit fast 60 Prozent der Stimmen. Er war früher ein Sowjetfunktionär, welcher sich mit der Führung überworfen hatte – die Reformen gingen ihm nicht weit genug – und sich damit als beliebte Anti-Establishment-Figur positionieren konnte. Im Augustputsch 1991 verewigte er sich in den Augen vieler Russen, indem er sich den Putschisten konsequent entgegenstellte. Ein Bild von Jelzin auf einem Panzer vor dem russischen Weißen Haus, dem Sitz des Regierungschefs, ist bis heute berühmt.

Zusammenbruch
Statt eine völlig neue Erfahrung in der russischen Geschichte in Form einer stabilen Demokratie anzustoßen, brachten die 1990er etwas Wohlbekanntes, nämlich Chaos. Eine radikale Marktliberalisierung überforderte das Land und riss die Wunden auf, welche die Sowjetunion jahrelang hatte zupflastern und verstecken können: Die Preise stiegen rasant, da die ineffizienten Preiskontrollen aufgehoben wurden, die Staatsausgaben brachen ein, da die Umsätze fehlten, und der Rubelwert kollabierte. Hyperinflation und Wirtschaftsabschwung trafen die Bevölkerung äußerst hart, wohl vergleichbar zum Effekt der “Great Depression” 1929 in Westeuropa und den USA. Die Lebensstandards der Russen fielen bedeutend. Das reale, also inflationsbereinigte, BIP fiel von 1991 bis 1994 um durchschnittlich 10,2 Prozent (!) pro Jahr. Die Lebenserwartung schrumpfte von 69 auf zeitweise 64 Jahre, nur bei Männern sogar von 64 auf 58 Jahre.
Die abrupte Liberalisierung der Wirtschaft und unstrukturierte Privatisierung der sozialistischen Staatsfirmen wurde von jenen Personen genutzt, welche zu Oligarchen geraten würden. Bei ihnen handelte es sich teils um Funktionäre und Firmenchefs aus der Sowjetzeit, teils um ambitionierte “Emporkömmlinge”, welche Russlands produktive Kapazitäten zu Eigenbesitz verwandelten. Mafiöse Strukturen wuchsen rasant heran und verbandelten sich eng mit den Oligarchen. Wichtig waren Verbindungen in die Politik und in den Behördenapparat, etwa, um Wertobjekte günstig aufkaufen zu können und Konkurrenten auszuschalten. Im Gegenzug gaben die erfolgreichen Oligarchen an die Politik zurück, etwa als sie Jelzins Präsidentschaftskandidatur 1996 finanzierten. Diese pervertierte Form des Kapitalismus mitsamt heftiger Korruption auf allen Seiten schadete Russlands Übergang zur Marktwirtschaft nachhaltig, sorgte für eine sehr hohe Ungleichheit und verärgerte die Bevölkerung.

Demokratie à la Moskau
Politisch lief es kaum besser. Die Parteienlandschaft war diffus und voller kleiner Parteien, welche kaum bereit waren, sich zu Bündnissen zusammenzuschließen. Das Parlament war dysfunktional und zerstritt sich früh mit Präsident Jelzin, welcher unter Beweis stellte, dass zu Demokratie mehr als nur Wahlen gehören: Im Oktober 1993 löste er einen Konflikt, indem er das Parlament auflöste, das Weiße Haus mit Panzern beschießen ließ, die Abgeordneten verhaftete und sich Regierungsgewalt per Dekret übertrug. Unterstützer von Regierung und Parlament stießen in den Straßen aufeinander und der “Oktoberputsch” geriet mit offiziell 147 Toten zum blutigsten Ereignis in Moskau seit der Oktoberrevolution 1917. Jelzin nutzte ihn, um eine neue Verfassung durchzudrücken. Darin weitete er die Macht des Präsidenten bedeutend aus, befähigte sich etwa, den Premierminister und die Armeechefs zu ernennen sowie Gesetze per Veto zu stoppen. “Das russische Volk benötigt Ordnung”, erklärte Jelzin damals. Die Verfassung von 1993 ist mit einigen Anpassungen noch heute aktiv.
Außenpolitisch ging es darum, das Verhältnis zu den anderen ehemaligen Sowjetstaaten und in diesem Sinne auch Eigentumsverhältnisse zu regeln. Gerade mit der Ukraine herrschte viel Zwist, etwa um die dort stationierten Atomwaffen (Kiew gab sämtliche Sprengköpfe auf, im Gegenzug für Sicherheitsgarantien, welche Russland 2014 brach); um die an der Krim angelegte Schwarzmeerflotte (50/50 geteilt); und um deren Basen an der Krim-Stadt Sewastopol (Russland durfte Marineanlagen in Sewastopol bis 2017, später 2042, mieten). Die regelrechte Flucht früherer Annexionsopfer (Baltikum) oder Vasallenstaaten (weite Teile Zentraleuropas) in Richtung EU und NATO fühlte sich für viele Russen wie eine außenpolitische Ohrfeige an, für welche sie den Westen beschuldigten.
Auch die Republiken im Inland machten Probleme. Ölreiche Regionen wie Tatarstan und Baschkortostan drohten mit der Unabhängigkeit; Tschetschenien vollzog sie. Dort hatten Separatisten 1991 die Tschetschenische Republik Itschkerien ausgerufen, was Russland nicht anerkannte. Es sollte drei Jahre dauern, bis 1994 der Erste Tschetschenienkrieg ausbrach. Russland erlebte ein Desaster: Die Guerillastrategie der Tschetschenen setzte der Armee schwer zu; sie eroberte zwar die Hauptstadt Grosny, doch verlor sie später wieder. Demoralisiert akzeptierte Moskau einen Waffenstillstand, was dem Anerkenntnis einer Niederlage gleichkam. Schätzungsweise 10.000 russische Soldaten verloren ihr Leben; dazu Zehntausende Zivilisten. Es war eine schwere Blamage.
Ein Jahrzehnt zum Vergessen
Für die Russen waren die 1990er damit eine chaotische Ära, eine moderne Zeit der Wirren. Ihr Leben wurde ärmer, ungerechter und gefährlicher. Ihre Politik war vielleicht weniger autokratisch als in der Vergangenheit, doch dafür weitaus kleptokratischer. Anstelle einer alternden Supermacht war ihr Land ein Hort der Instabilität, über welchen der Rest der Welt lachte, und welcher Kriege gegen winzige Gegner verlor. Als 1998 auch noch eine schwere Finanzkrise den Rubel um zwei Drittel abstürzen ließ und das Land in den Staatsbankrott drückte, war für Jelzin das Ende der Fahnenstange erreicht. Kaum noch beliebt und von gesundheitlichen Sorgen geplant, kündigte er 1999 überraschend seinen Abgang an.
Gut zu wissen: Jelzin selbst brachte Russland gegen Ende seiner Amtszeit unangenehme Momente ein, nicht zuletzt aufgrund seines Alkoholkonsums. Berühmt ist eine allem Anschein nach heftig alkoholisierte Pressekonferenz mit US-Präsident Bill Clinton in Washington, in welchem beide einen Lachanfall erleiden. Bei einem anderen Besuch wurde er offenbar vom Secret Service allein und nackt bis auf die Unterwäsche auf der Straße entdeckt, wo er nach einem Taxi rief. Er weigerte sich, sich von den Agenten zu seinem Gasthaus zurück eskortieren zu lassen, da er eine Pizza verlangte.
Der Scheideweg_

Nemzow oder Putin
Die Frage nach Boris Jelzins Nachfolger stellte sich. Theoretisch war die Frage trivial, schließlich hätte das Volk sie einfach demokratisch gelöst. In der Praxis war die Demokratie in Russland allerdings noch deutlich im Aufbau begriffen. Es gab kaum etablierte Parteistrukturen und die Tradition war eben jene des sowjetischen Generalsekretärs, welcher frühzeitig einen oder einige Nachfolger bereit machte. Zudem hatten die Krisen der 1990er im Wahlvolk viel der Aufbruchstimmung der Vorjahre ausgelöscht. Resignation, Reformangst und Politapathie nahmen wieder Einzug. Die Wahl wäre eine Wahl, doch der Kandidat der Kontinuität hätte einen kräftigen Bonus. Also musste Jelzin einen Nachfolger ernennen, welcher sich dann dem Volk zur Abstimmung stellen würde.
Zwei Menschen kamen in Frage. Der eine war Wladimir Putin, in den späten 1990ern erst Vizestabschef des Präsidenten und danach Chef des Inlandsgeheimdiensts FSB. Der andere war Boris Nemzow.
Der liberale Reformer
Nemzow, 1959 geboren, war ein gelernter Physiker, welcher 1986 in die Politik eintrat, angetrieben vom sowjetischen Missmanagement des Tschernobyl-Desasters. In der Gorbatschowschen Umbruchphase stand er für eine Mehrparteiendemokratie und die Schaffung eines Privatsektors, was damals noch zu den radikaleren Forderungen gehörte. Er schaffte es für seine Heimatstadt Nischni Nowgorod (ehemals Gorky) ins Parlament und erarbeitete sich den Respekt von Präsident Jelzin, welcher Nemzow daraufhin zum Gouverneur der Oblast Nischni Nowgorod machte. Nemzows ausdrücklich vom Westen inspirierten Reformen waren gewagt und chaotisch, doch erfolgreich. Das passend benannte Marktreformprogramm “Labor der Reformen” brachte seiner Oblast einen Wachstumssprung und verhalf ihm zu internationaler Aufmerksamkeit. Dem half wohl auch, dass Nemzow das Rampenlicht verstand und nicht davor zurückschreckte, sich gegen die Obrigkeiten zu stellen: 1996 überreichte er Jelzin persönlich eine Petition mit einer Million Unterschriften gegen den Tschetschenienkrieg, seine eigene darunter.
Solcher Manöver ungeachtet holte Jelzin den aufstrebenden jungen Politiker 1997 in die nationale Politik, indem er ihn zum Ersten Vizepremierminister ernannte. Auch in diesem Amt setzte Nemzow bemerkenswerte Akzente. Er nahm die Umstrukturierung des wichtigen, doch zutiefst korrupten Energiesektors auf sich und schien dort, wie auch im Finanzsektor, echte Erfolge verbuchen zu können. Das machte ihn in der Bevölkerung beliebt. Nemzow wirkte wie der sichere Nachfolger Jelzins für die Wahl im Jahr 2000. Schon 1994 sprach Jelzin davon, dass der damalige Gouverneur von Nischni Nowgorod Material für die Präsidentschaft sein könnte. Drei Jahre später stellte er ihn US-Präsident Bill Clinton gegenüber offen als Nachfolger vor. In Meinungsumfragen im Sommer 1997 hatte Nemzow über 50 Prozent des Wahlvolkes auf seiner Seite.
Nemzows Moment erlosch mit der Finanzkrise 1998. Die Reformer gerieten in der Öffentlichkeit zum Sündenbock, und Nemzow war einer von ihnen. Seine intensive Anti-Korruptionsarbeit brachte ihn ins Fadenkreuz der einflussreichen Oligarchen, welche an seinem Stuhl mitsägten. Dank seiner guten Reputation überlebte er diese Phase politisch zwar – anders als viele Mitstreiter -, doch seine Position war nicht mehr dieselbe. Er trat zurück. Jelzin schwenkte um auf einen anderen jungen, aufstrebenden, doch weitaus ominöseren Politiker: Wladimir Putin.
Der Stabilitätsanker
Als Putin 1999 vom Geheimdienst FSB in das Amt des Premierministers wechselte, war er in der Öffentlichkeit fast völlig unbekannt. Er wirkte wie ein Jelzin-Loyalist, welcher in dem seit der Verfassung 1993 relativ unbedeutenden Amt des Premiers ein Weilchen verbringen und dann wieder irgendwo im Staatsapparat verschwinden würde. Doch es gelang Putin erfolgreich, ein Image als “law and order”-Politiker zu kultivieren – als harter Knochen, welcher für Sicherheit und Kompromisslosigkeit stand. Eine Reihe von Anschlägen auf Apartments, mutmaßlich durch militante Islamisten, sorgte 1999 für Schrecken im Land und führte direkt zum Zweiten Tschetschenienkrieg. Putins Beliebtheit stieg rasant und sein Erfolg in der Präsidentschaftswahl wurde zur beschlossenen Sache.
Gut zu wissen: Die Apartmentanschläge wurden offiziell von tschetschenischen Islamisten verübt. Eine sehr hohe Zahl an russischen sowie ausländischen Historikern, Journalisten, Politikern und anderweitigen Beobachtern verdächtigen jedoch eine Verwicklung der russischen Behörden. Einer davon ist der 2006 ermordete russische Ex-Spion Alexander Litwinenko.
Nemzow verstand, dass seine Chance vergangen war. Er unterstützte Putin anfänglich und erklärte, dass Russland “bedeutend schlechter wählen könnte” (in späteren Interviews erklärte er gar, glücklich zu sein, dass er nie Präsident wurde). Dass Russland unter Putin in die falsche Richtung gehen würde, merkte Nemzow, inzwischen einfacher Abgeordneter, laut eigener Aussage noch im Jahr 2000. Putin ließ die Melodie der alten Sowjethymne für die russische Hymne nutzen. Nemzow war einer der wenigen Abgeordneten, welche dagegenstimmten. Von dort an würde er einer der schärfsten Kritiker Putins werden.
Der Epilog_

Der Sturz
Für Nemzow, welcher einst so nah an der Macht war, setzte sich ein schneller Abstieg in Gang. 2003 verlor er seinen Parlamentssitz an Kreml-nahe Kandidaten. Er ging offen in die Opposition und wurde zum Pro-Demokratie-Aktivisten. Doch Zufriedenheit mit Putin – die Lebensstandards der Russen begannen in den 2000ern wieder einen allmählichen, dann schnellen Aufstieg, meist sehr genau dem Ölpreis folgend – und Nemzows Assoziation zu den chaotischen 90ern zwangen ihn in der Tagespolitik in die Peripherie. Als Nemzow in den Präsidentschaftswahlen 2008 gegen den Putin-Loyalisten Dmitri Medwedew antrat, lief er nur unter “Ferner liefen” und gab seine Kandidatur früh auf. 2009 scheiterte er gar daran, Bürgermeister seines Geburtsorts Sotschi zu werden.
In der außerparlamentarischen, prodemokratischen Opposition behielt Nemzow als scharfer Putin-Kritiker zwar sein Profil, doch selbst dort lief ihm der lautstarke Nationalist Alexei Nawalny in Sachen Prominenz den Rang ab. Und als der Kreml ab 2008 begann, der Zivilgesellschaft die Daumenschrauben anzudrehen, fand sich Nemzow aufgrund seiner Teilnahme oder Organisation von Anti-Kreml-Protesten immer öfter im Gefängnis wieder; insgesamt “15 bis 16 Mal”. Der Mann, welcher hätte Präsident werden können, erzählte in Oppositionsmedien davon, wie gut er sich inzwischen in den Zellen in Moskau auskannte. Seine Bekanntheit schwand. In einer Umfrage des renommierten Levada-Centers 2013 zeigten sich nur 6 Prozent der Russen mit Nemzows Aktivitäten zufrieden, 48 Prozent lehnten sie ab. Und 46 Prozent erklärten, nichts über ihn zu wissen.
Der Mord
Nemzows Geschichte hätte mit einem Wimmern enden können, doch es wurde ein Knall. 2015 ermordeten ihn Unbekannte mit vier Schüssen in den Hinterkopf, am helllichten Tag, in der Nähe des Kremls. Die Behörden erklärten – wie es Usus ist -, dass tschetschenische Extremisten die Täter gewesen seien. Warum genau, ist nicht klar, schließlich hatte Nemzow zeitlebens die Tschetschenienkriege abgelehnt. Die Behörden spekulieren, dass es darum ging, ein “Opfer” zu kreieren, um den Kreml zu “diskreditieren“. Nemzow hatte übrigens einige Monate vor seinem Tod erklärt, dass ihm gedroht worden sei, das Land zu verlassen, für seine eigene Sicherheit. Er hatte sich geweigert.
Der wahre Grund für das mit hoher Sicherheit vom Kreml verübte Attentat war womöglich, dass Nemzow den russischen Krieg gegen die Ukraine 2014 als solchen benannte. Die offizielle Sprachregelung war, dass es sich im Donbass 2014 um ethnisch russische Separatisten handle, welche sich gegen Kiew auflehnten. In Wahrheit waren diese Gruppen maßgeblich vom Kreml ermöglicht und gesteuert, wie schon damals ein offenes Geheimnis war. Nemzow schrieb einen Bericht dazu und organisierte Massenproteste, welche 50.000 Menschen auf die Straßen von Moskau lockten. Zu der Theorie passt, dass die Behörden nach Nemzows Ermordung zuallererst sein Apartment durchsuchten und Dokumente, Schriften sowie Festplatten konfiszierten.
Gut zu wissen: Die russischen Behörden ermittelten nicht allzu intensiv zu Nemzows Ermordung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kritisierte Moskau im Juli 2023 für eine “ineffektive” Untersuchung. Es habe “deutliche Beweise” für eine “mögliche Beteiligung” der tschetschenischen Sicherheitsdienste gegeben, welche damals wie heute unter dem Kommando von Putin-Loyalist Ramsan Kadyrow standen. Die russische Justiz hätte diese Hinweise allerdings ignoriert.
Nemzows Tod hatte vor allem eine symbolische Dimension. Mit ihm starb die Vision aus den 1980ern und 90ern, dass Russland ein liberales, demokratisches Land werden könnte. Nicht, dass es in Russland keine Elemente mehr gäbe, welche sich genau das wünschen, auch wenn sie aktuell keinerlei Rolle im Land spielen. Doch die Aufbruchstimmung, welche inmitten der Schlussphase der Sowjetunion existierte, war besonders. Sie betraf ein Land, in welchem Jahrhunderte an Tyrannei nur durch Chaos und Krise unterbrochen worden waren, und welches nun zum ersten Mal die Hoffnung witterte, aus diesem Zyklus ausbrechen zu können. Diese Hoffnung bewahrheitete sich nicht; der Aufbruch geriet zur Krise, welche den Weg zur nächsten Tyrannei ebnete. Mit Nemzows Tod war die Metamorphose vollendet und die alternative Geschichte eines demokratischen Russlands endgültig zu Grabe getragen.
Die Erinnerung bleibt
Und doch wird manchmal der Staffelstab weitergereicht. Nemzows Protegé war Wladimir Kara-Mursa, welcher 2001 mit 20 Jahren in eine von Nemzow gegründete Oppositionspartei eintrat. Er stieg früh zu dessen Berater und rechter Hand auf. Versuche, in das Parlament zu gelangen, scheiterten; vermutlich aufgrund von Wahlmanipulation. Stattdessen blieb er eine führende Kraft in der außerparlamentarischen, prodemokratischen Opposition, gründete zahlreiche aktivistische Organisationen und forderte im Ausland Sanktionen gegen Russland.
Gut zu wissen: Kara-Mursa war eine treibende Kraft hinter dem amerikanischen “Magnitsky Act“, mit welchem die USA erstmals begannen, Individuen für Menschenrechtsverstöße zu sanktionieren, anstelle von Staaten.

Kara-Mursa geriet ins Visier der Behörden. Ob seine zwei heftigen Krankheitsanfälle mitsamt Koma in den Jahren 2015 und 2017 Vergiftungen waren, ist nicht abschließend geklärt. Das renommierte Analysehaus Bellingcat wies 2021 jedoch nach, dass Kara-Mursa von derselben Einheit des Geheimdiensts FSB beschattet wurde, welche auch Alexei Nawalny 2020 mutmaßlich vergiftet hatte. Im April 2022, inmitten der Invasion der Ukraine, verhafteten die Behörden Kara-Mursa aufgrund von Missachtung von Polizeibefehlen, nachdem er den Kreml “ein Regime aus Mördern” genannt hatte. Kurz darauf wurde der Vorwurf der “Diffamierung des Militärs” hinzugefügt, dann jener des Staatsverrats. Im April 2023 wurde Kara-Mursa schließlich in einem Schauprozess zu 25 Jahren Haft verurteilt. Es handelt sich um die längste Verurteilung eines Oppositionspolitikers seit dem Fall der Sowjetunion, welche ihresgleichen wohl in den Stalinistischen Säuberungen der 1930ern suchen müsste – selbst auf Mord und Vergewaltigung beträgt die Höchststrafe in Russland 15 Jahre. Dem studierten Historiker Kara-Mursa war die Ironie nicht entgangen. In seiner Abschlussrede vor Gericht zog er die Verbindungen zum Stalinismus und verteidigte seine Überzeugungen.
Hoffnung?
In manchen Ländern ist es die Tötung oder Verhaftung eines wichtigen Oppositionellen, welche den Funken setzt, der große Protestbewegungen anstößt. In Russland ist das nicht geschehen und wird es wohl auch nicht. In den Worten von Nemzow selbst: “Ich dachte naiverweise, dass es in diesem Land viele leidenschaftliche Menschen gäbe“, so in einem Interview mit dem inzwischen verbotenen unabhängigen Medium TV Dozhd 2014, “Das ist absoluter Unsinn. Die Zahl der Menschen, welche bereit sind, ihre Freiheit und ihren Wohlstand in Russland zu riskieren, ist infinitisimal klein.” Es herrsche eine “genetische Angst vor den Behörden“, erklärte er, welche auf das brutale Sowjetsystem rund um Gulags, Repressionen und Ermordungen zurückzuführen sei. Die whathappened-Redaktion würde mit Verweis auf ihren argumentierten “Kreislauf” einwenden, dass der Anfang der Angst schon weitaus früher zu verorten sei.
Einen hoffnungsvolleren Abschluss bietet Kara-Mursa. “Ich weiß, dass der Tag kommen wird, an welchem die Dunkelheit aus unserem Land weicht“, sprach er in seiner Abschlussrede vor Gericht, “Wenn Schwarz schwarz genannt wird und Weiß weiß; wenn auf offizieller Ebene anerkannt wird, dass zwei mal zwei immer noch vier ist; wenn ein Krieg ein Krieg genannt wird und ein Usurpator ein Usurpator; und wenn diejenigen, die diesen Krieg angezündet und entfesselt haben, und nicht diejenigen, die versucht haben, ihn zu stoppen, als Kriminelle anerkannt werden. […] Mit dieser Erkenntnis, mit dieser Überlegung beginnt der lange, schwierige, aber lebenswichtige Weg zur Gesundung und Wiederherstellung Russlands, zu seiner Rückkehr in die Gemeinschaft der zivilisierten Länder. Selbst heute, selbst in der uns umgebenden Dunkelheit, selbst wenn ich in diesem Käfig sitze, liebe ich mein Land und glaube an unser Volk. Ich glaube, dass wir diesen Weg gehen können.”
Es wäre Russland zu wünschen, dass Kara-Mursa Recht behält.
Weiterlesen:
Russlands Pfad, Teil 1: Memorial
Russlands Pfad, Teil 3: Dunkelheit
Zu Russland selbst:
Russlands Pfad, Teil 1: Memorial (August 2023)
Das System Russland (Januar 2021)
Russland: Der Kreml legt einen Gang zu (April 2021)
Zur Wagner-Gruppe:
Russland: Die Geister, die du riefst (Juni 2023)
Die Wagner-Gruppe (Juni 2022)
Zum Ukrainekrieg:
Die Informationsasymmetrie und der Krieg (März 2022)
Putins Russland verabschiedet sich aus der Zivilisation (Februar 2022)
Dieser Krieg wird noch lange dauern – und der Westen muss bereit sein (August 2022)
Zu Russlands Außenpolitik:
Russland und die Sanktionen (August 2022)
Kasachstan, Russland und die Emanzipation (Juli 2022)