February 11, 2024
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10 Minuten Lesezeit

Russlands Wirtschaft geht es nicht gut

Vordergründig gut, dahinter gar nicht gut. (Februar 2024)
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Vordergründig gut, dahinter gar nicht gut. 

11.02.2024

Das falsche Wachstum | Arbeitsmarkt auf Adrenalin | Noch mehr Probleme | Eine Metapher


(12 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)

  • Russlands Wirtschaftsdaten sehen vordergründig sehr gut aus: Das Wachstum ist stark, die Arbeitslosigkeit gering, die Löhne lange Zeit gestiegen.
  • Das hohe Wachstum hängt allerdings mit massiven (staatlichen) Investitionen in den Rüstungssektor zusammen. Dieser entzieht dem zivilen Sektor Kapital und Arbeitskräfte - ein Verteilungskampf.
  • Darüber hinaus trägt der Boom im Rüstungssektor zu einer hartnäckigen Inflation bei, welche Verbraucher und (zivile) Firmen belastet.
  • Die Lage am Arbeitsmarkt mit historisch niedrigen 3% Arbeitslosigkeit deutet auf eine schwer überhitzte Wirtschaft hin.
  • Gesunkene Rohstoffpreise, ein zu schwacher Rubel und schrumpfende Devisen- sowie Staatsfondsreserven erschweren mittelfristig Moskaus Fähigkeit, alle Bedarfe zu decken und "Lecks" zu stopfen.
  • Die relativ effektive Sanktionsumgehung und Unterstützung aus China sind vermutlich nicht genug, um eine Rezession oder gar eine tiefere Krise zu vermeiden. Russland benötigt hohe Rohstoffpreise und ein schnelles Kriegsende.

Das falsche Wachstum_

(6 Minuten Lesezeit)


Alles halb so schlimm?

Wer in den letzten Monaten den Schlagzeilen folgte, könnte den Eindruck bekommen haben, dass in Russland alles bestens läuft. Die Wirtschaft wächst, die Reallöhne ebenso, die Arbeitslosigkeit ist gering. Präsident Wladimir Putin verkündet bei seinen regelmäßigen TV-Auftritten selbstbewusst den Sieg gegen den „Wirtschaftskrieg“ des Westens; Beobachter in ebendiesem Westen, längst nicht nur ausdrücklich prorussische, stimmen ein. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) sieht Russland dieses Jahr schneller als alle anderen G7-Staaten wachsen.

Das ist allerdings nur die Oberfläche. Im Hintergrund bewegt sich in dem Land derzeit vieles in die falsche Richtung. Dieser Explainer ist gewissermaßen die Fortsetzung zu unserem Explainer "Russland und die Sanktionen" aus August 2022.

Gut zu wissen: Warum es sich lohnt, über die russische Wirtschaft zu schreiben, erklärt sich fast von selbst. Noch nie in der Geschichte wurde ein derart großes Land mit derart vielen und intensiven Sanktionen überzogen. Das „Decoupling“ vom Westen ist trotz aller Einschränkungen gewaltig und der bemühte Wandel zu neuen Partnern rasant. Es ist ein einzigartiger Test der „Festungswirtschaft“ des Kreml und der Sanktionsmacht des Westens. Es ist ein Fingerzeig auf Russlands Kapazitäten, seinen Angriffskrieg fortzusetzen. Allen voran ist es aber eine eindrucksvolle Demonstration dessen, wie ungewöhnlich eine moderne Kriegswirtschaft funktioniert und wie vorsichtig man mit Daten in so einer Ausnahmesituation umgehen muss.

Fest steht, dass sich die Hiobsbotschaften für die russische Wirtschaft nicht bewahrheitet haben. Fast zwei Jahre nach Beginn der Ukraine-Invasion steht sie noch immer und wirkt vordergründig sehr robust. Das BIP-Wachstum 2023 betrug kräftige 3,6 Prozent, was selbst in Anbetracht des etwas niedrigeren Entwicklungsstands Russlands ein starker Wert ist und den – seinerseits überraschend niedrigen – 1,2-Prozent-Einbruch 2022 mehr als wettmacht. Die Arbeitslosigkeit lag mit 2,9 Prozent im November auf einem historischen Allzeittief, nach 3,9 Prozent 2022 und einem Rekordhoch von 13 Prozent im Jahr 1999 (im Dezember stieg sie leicht auf 3,0 Prozent). Die Reallöhne und Einkommen steigen. Die Lebenserwartung scheint aufs Vor-Covid-Niveau von über 73 Jahren zurückgekehrt zu sein. Russisches Öl und Flüssigerdgas gehen an Abnehmer in Asien statt nach Europa. Und die westlichen Importsanktionen umgeht Russland durch Drittstaaten wie Armenien, Kasachstan und den VAE, deren Handel mit Europa und den USA seit 2022 mysteriöserweise um Hunderte Prozent gestiegen ist, sowie selbstverständlich durch den großen Nachbarn China.


Keineswegs alles erlogen

Diese Dynamiken sind real und auch die zitierten Daten der Statistikagentur Rosstat werden größtenteils wahr sein, also nicht sonderlich stark manipuliert oder gefälscht. Ein kleiner Vergleich zu China bietet sich an. Dort legitimiert sich die Kommunistische Partei über die Erhaltung und Verbesserung des Wohlstands und der Lebensbedingungen. Also macht die Führung Druck auf die Lokal- und Provinzregierungen, positive Ergebnisse zu liefern. Da Beförderungen innerhalb der Partei auch noch relativ meritokratisch entschieden werden (garniert mit viel Vetternwirtschaft und Korruption), haben die Lokal- und Provinzbehörden viel Anreiz, ihre Daten aufzuhübschen. Das passt auch Peking sehr gut, zumindest in der Innen- und Außenkommunikation, auch wenn es die Entscheidungsfindung erschwert.
 
In Russland gibt es diese Dynamik in dieser Form nicht. Behörden und Regionalregierungen bestehen meist aus unbedingten Putin-Loyalisten, manchmal aus technokratischen Experten. Meritokratische Elemente sind rar. Der Bürokratieapparat ist inkompetent und überfordert, unabhängige Ökonomen mit ihren eigenen Schätzungen dafür relativ lautstark. Die Russen (vor allem abseits der Metropolen) messen ihre Regierung weniger an der Verbesserung der Lebensstandards als an Stabilität. Russland hat also weniger Notwendigkeit und weniger Befähigung, seine Wirtschaftsdaten großflächig zu fälschen, gelegentliche Skandale hin oder her.

Gut zu wissen: Das Mittel der Wahl ist für den Kreml in der Wirtschaftskommunikation eher Intransparenz als Fälschung: Russland stoppt manchmal einfach die Berichterstattung unangenehmer Daten.

Nicht jedes Wachstum ist relevant

Das Problem für Russland ist, dass die nominell rosigen Daten einfach wegzuerklären sind. Da wäre das BIP. Es hängt in erster Linie mit hohen Investitionen des Staates in die kriegsrelevanten Industrien, also primär Waffen, zusammen. Rüstungsausgaben sind allerdings „faule“ Investitionen: Ein neuer Panzer oder eine Rakete, welche in der Ukraine explodiert, fließen als produziertes Gut in das BIP hinein, tragen aber weder zum Lebensstandard der Russen noch zur produktiven Kapazität des Landes bei. Man mag sie als Versicherung gegen einen Angriff oder als Mittel zur Eroberung fremder Produktivkapazitäten bezeichnen, doch das ändert nichts daran, dass sie für die Wirtschaft im Hier und Jetzt fast völlig nutzlos sind.

Das russische BIP-Wachstum steht also auf wackligen Füßen. Die Regierung versteckt die hohen Investitionen in den Militärsektor kaum: Das Verteidigungsbudget betrug im letzten Jahr 3,9 Prozent des BIP, nach 2,7 Prozent im Jahr 2021. Im laufenden Jahr wird es laut offiziellen Plänen um 68 Prozent auf beachtliche 6 Prozent des BIP springen, den höchsten Wert seit Ende der Sowjetunion – und das sind nur die direkten Ausgaben. Der neue Fokus lässt sich auch einfach in den Detaildarstellungen des BIP herauslesen, wo auffällig rüstungsrelevante Industrien seit 2022 regelmäßig das Wachstum anführen. Das russische Zentrum für makroökonomische Analysen und kurzfristige Prognosen (CAMAC) schätzt, dass 60 bis 65 Prozent der gestiegenen Industrieproduktion 2022/23 mit dem Ukrainekrieg zusammenhing.

Russische Ökonomen, eher eine technokratische als sonderlich ideologische Gruppe, äußern sich entsprechend kritisch: „Produktion im militärisch-industriellen Komplex ist […] herausgeworfenes Geld“, so die von Reuters zitierte Ökonomin Alexandra Suslina, „Panzer und Bomben sind etwas, das einmal genutzt wird und keine Rückwirkungen auf die Wirtschaft hat. Es ist unmöglich, aus den Überresten eines Panzers eine Hightech-Maschine zu bauen, welche zum weiteren Wachstum beiträgt“.

Gut zu wissen: Die klassische volkswirtschaftliche Gesamtrechnung addiert für das BIP die privaten Konsumausgaben, Firmeninvestitionen, Staatsausgaben und die Handelsbilanz zusammen. In komplexeren Modellen fließen auch etwa Steuern, Transfers, Konsumneigung und Zinsen hinein. Ein anderer in der Praxis beliebter Ansatz berechnet statt der Ausgaben die Produktion.

Nicht jedes Wachstum ist gut

Es ist allerdings nicht einfach nur so, dass Russlands Wachstum auf dem Papier besser aussieht, als es tatsächlich ist. Die hohen Militärinvestitionen schaden dem Land aktiv. Russland droht, in eine Art „Dutch Disease“ zu rutschen, in welchem ein boomender Sektor den Rest der Wirtschaft abwürgt. Die hohen Investitionen ins Militär erhöhen die Umsätze, die Renditen, den Arbeitskraftbedarf und die Löhne in der Branche. Sie entzieht allerdings dem zivilen Sektor, in welchem tatsächlich produktive Produktion stattfindet, Kapital und rare Arbeitskräfte. Dieser "Verteilungskampf" würde auch in einer gesunden Wirtschaft mehr oder weniger existieren, doch Russlands Krieg und die Sanktionen des Westens verschärfen ihn noch.

Der selektive Boom treibt über das Lohnwachstum und die Güternachfrage außerdem die gesamtwirtschaftliche Inflation, denn andere Sektoren müssen plötzlich auf dem Arbeits- und Gütermarkt mit der Zahlungskraft eines aus allen Nähten platzenden Rüstungssektors rivalisieren. Die Inflation betrug im Dezember 7,4 Prozent und ist seit April 2023 mit einer Ausnahme kontinuierlich angestiegen (siehe Grafik oben). Die Zentralbank, welche 4 Prozent Inflation anpeilt, hält mit hohen Leitzinsen von 16 Prozent dagegen, einem der höchsten Zinsniveaus der letzten 20 Jahre. Für Firmen und Haushalte erhöht das die Finanzierungskosten beträchtlich und senkt Investitionen sowie Konsum - die vom Krieg kreierte Inflation frisst den zivilen Sektor.

Gut zu wissen:  Wer die reinen Inflationszahlen anschaut und mit der Entwicklung in den Industriestaaten vergleicht, könnte sich wundern, was an ihnen so schlimm sei. In Deutschland kratzte die Inflation schließlich zeitweise an den 9 Prozent. Doch während der Rest der Welt Energie- und Lieferkettenkrisen hinter sich lässt, hat Russland beide kaum erlebt. Die aktuellen Inflationsraten sind völlig "hausgemacht", wie wir in diesem Explainer erklären. Außerdem folgen die hohen Inflationsraten auf noch deutlich höhere Raten im Jahr 2022. Während USA, Deutschland und Co. 2023 dank der Basiseffekte, also den Vergleichen zum Vorjahr, relativ niedrige Inflationsraten verbuchten, bleibt die Teuerung in Russland kräftig.

Arbeitsmarkt auf Adrenalin_

(2,5 Minuten Lesezeit)

Quelle: Christian Schnettelker, flickr

Nicht jede Vollbeschäftigung ist gut

Mit der hohen Inflation haben auch die Reallöhne zuletzt begonnen, zu fallen, denn viele Unternehmen empfinden ihre finanzielle Lage als zu riskant, um die Löhne inflationsausgleichend anzuheben. Das ist bemerkenswert, schließlich setzt der schwere Arbeitskraftmangel im Land das eigentlich voraus: Rund 900.000 Russen sind aus dem Land geflohen, viele weitere sind vom Rüstungssektor aufgesogen worden, mindestens 300.000 kämpfen in der Ukraine und ähnlich viele scheinen dort verletzt oder getötet worden zu sein (der kräftig erhöhte Sold ist übrigens ein weiterer Grund für den Anstieg der Einkommen). Die Hälfte aller russischen Firmen leide unter Arbeitermangel, so die Zentralbank vor einem Jahr. Schätzungsweise 10 Prozent aller Fachkräfte im IT-Bereich haben das Land 2022 verlassen, so eine Schätzung des britischen Geheimdiensts.

Den Beweis für diese problematische Lage liefert ausgerechnet die so gut erscheinende Arbeitslosenquote: Ihre beachtlich geringen 3,0 Prozent signalisieren gemeinsam mit den zuvor genannten Faktoren eine völlig überhitzte Wirtschaft, welche zu nah am Kapazitätslimit produziert und in der Verteilungskampf zwischen Sektoren um rare Ressourcen herrscht. Nur zur Einordnung: Vor dem Krieg hatte die Arbeitslosigkeit in Russland nie weniger als 4,4 Prozent betragen (siehe Grafik oben). Wie eben erklärt ist es dummerweise der unproduktivste aller Sektoren, welcher den Verteilungskampf dank staatlicher Intervention gewinnt. „Nicht jedes Wachstum ist gut“, so Jewgeni Nadorschin, Chefökonom des Investmenthauses PF Capital.

Gut zu wissen: Nach einer Analyse der Zeitung "Nesawissimaja Gaseta" liegt das reale (inflationsbereinigte) durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Russland heute 6,5 Prozent unter dem Wert von 2013.

Überhitzt in die Zukunft

Eine überhitzte Wirtschaft läuft Gefahr, in eine Rezession zu steuern und auf dem Weg dorthin womöglich durch andere Krisen zu gehen. Ein Mechanismus dahinter ist, dass es Firmen in einer Wirtschaft an der Kapazitätsgrenze nicht gelingt, die hohe Nachfrage zu bedienen. Also steigern sie die Preise. Arbeiter verlangen im Umkehrschluss höhere Gehälter – was sie womöglich ohnehin schon taten, denn auch der Arbeitsmarkt ist ja am Kapazitätslimit. Hohe Inflation ist die Folge. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Firmen sinkt, schließlich müssen sie die höheren heimischen Kosten mit höheren Exportpreisen ausgleichen. Haushalte wechseln derweil auf Importe, welche günstiger als die heimischen Anbieter sind.
 
Mit der Zeit verunsichert die Inflation die Haushalte etwas zu sehr und die Firmen spüren die hohen Kosten samt sinkender Nachfrage etwas zu stark. Die Stimmung schwingt um: Verbraucher und Firmen befürchten plötzlich einen Abschwung und reduzieren schlagartig ihren Konsum beziehungsweise ihre Belegschaft. Die Wirtschaft dreht ins Negative. Waren Haushalte und Firmen in den Boom-Jahren zu optimistisch und haben Schulden aufgenommen (zum Beispiel, um Kapazitäten auszubauen), trifft das womöglich auf eine Schuldenkrise. Eine kippende Handelsbilanz und fallendes Investorenvertrauen können zur Währungskrise führen, welche in die Inflation hineinwirkt. Ausfallende Kredite ziehen vielleicht den Finanzsektor in Mitleidenschaft. Der Staat leert beim Versuch, die Multikrise abzufedern, seinen Haushalt.

Auch eine nicht überhitzende Wirtschaft erlebt „business cycles“, also ein zyklisches Auf und Ab, und kann sich gelegentlich in einer Rezession wiederfinden. Bei einer überhitzten Wirtschaft besteht allerdings das Risiko, dass das ruckartiger, schmerzhafter und mit gefährlicheren Langfristfolgen geschieht.
 
Auch den russischen Behörden, oder zumindest den Technokraten, ist das bewusst. Die als hochkompetent geltende Zentralbankchefin Elvira Nabiullina erklärte im Dezember per Metapher: „Wenn wir versuchen, schneller zu fahren, als wofür das Auto entwickelt wurde, und so stark wie möglich aufs Gas drücken, dann wird der Motor früher oder später überhitzen. Wir mögen schnell sein, aber wir werden nicht weit kommen.“

Noch mehr Probleme_

(3 Minuten Lesezeit)

Je höher der Wert, umso schwächer der Rubel gegenüber dem US-Dollar. Quelle: Google Finance

Rohstoffkiosk auf Abwegen

Ein großer Faktor, der für Russland zwischen Glück und Unheil entscheidet, sind die Rohstoffpreise. Das Land ist nach wie vor ein großer „Rohstoffkiosk“, mit verhältnismäßig wenig Weiterverarbeitungs- und Hightechindustrie oder Dienstleistungssektor, aber dafür eben hohen Mengen an Rohstoffen. Öl ist ein derart wichtiger Teil des Umsatzes, dass (wie in anderen Petrostaaten) der Haushalt abhängig von unterschiedlichen Ölpreisszenarien konzipiert ist.

Die Normalisierung der Energiemärkte ab Frühjahr 2023 traf die russischen Staatsumsätze kräftig. Dazu kommt, dass mit dem Westen die zahlungsbereitesten Abnehmer weggefallen sind und die übrigen – hauptsächlich China und Indien – bessere Preise aushandeln können. Der Marktpreis der russischen Ölsorte Urals liegt unter dem anderer Ölsorten, ist im vergangenen Jahr um fast 20 Prozent gefallen und dürfte im bilateralen Handel noch mit kräftigen Rabatten versehen sein. Insgesamt machte Russland in den ersten neun Monaten 2023 ganze 41 Prozent weniger Umsatz aus Öl und Gas als im Vorjahreszeitraum, wie die Zentralbank einräumen musste.

Der Notgroschen schwindet

Die rohstoffpreisbedingten Schwankungen im Haushalt gleicht Russland traditionell mit seinem Staatsfonds NWF aus, quasi der Notgroschen des Landes. Allerdings ist die Hälfte der liquiden Mittel des NWF bereits aufgebraucht, wie Daten des Finanzministeriums zeigen. Sie betrugen Ende 2023 noch knapp 56 Milliarden USD, 44 Prozent weniger als vor Kriegsausbruch. Der gesamte Fonds ist zwar über 135 Milliarden USD groß, doch das hilft wenig, denn fast zwei Drittel davon bestehen aus illiquiden Anlagen wie Infrastrukturbonds und russischen Aktien (letztere sind seit der Invasion kaum noch nach Bedarf veräußerbar). Der Kreml selbst erwartet, dass 2024 fast die Hälfte der liquiden Mittel eingesetzt werden.

Viele Ökonomen sind noch pessimistischer: Sollte der Ölpreis noch ein wenig abrutschen, wird der NWF schon dieses oder nächstes Jahr keine liquiden Mittel mehr zur Verfügung haben, so etwa Alex Isakov, welcher früher bei der russischen Zentralbank gearbeitet hatte und heute für Bloomberg analysiert. Diese Mittel benötigt der Kreml allerdings, um seinen Haushalt zu stabilisieren – oder, in anderen Worten, um zu investieren, Firmen zu retten und die Bevölkerung zufrieden zu stellen. Als etwa jüngst ein 40-prozentiger Preisschock bei Eiern die russische Öffentlichkeit verunsicherte, steuerte der Kreml mit einer Streichung von Einfuhrzöllen dagegen.

Rubel zu stark, Rubel zu schwach

Der nächste Kopfschmerz für Russland ist der Rubel. Direkt nach Kriegsausbruch verlor er rapide, doch Moskau stabilisierte ihn mit heftigen Kapitalkontrollen, mit welchen er praktisch zur nicht-handelbaren Währung wurde. Als die Kontrollen Mitte 2022 gelockert wurden, wurde der Rubel plötzlich zu stark: Eine sehr hohe Energie- und Rohstoffnachfrage in aller Welt traf auf heftige westliche Importsanktionen. Russland exportierte viel (auch nach Europa) und importierte wenig; die "Nettonachfrage" nach Rubel war hoch und somit der Kurs. Zeitweise war er die bestperformende Währung der Welt. Das klang gut, doch drückte die russischen Exporte und bedeutete somit weniger Umsatz. Und da Importe, wie gesagt, erschwert waren, ließ sich die Währungsstärke nicht in Güter konvertieren.

Später dann das gegenteilige Problem: Seit August 2023 ist der Rubel unter den am schlechtesten performenden Währungen der Welt. Ein erster Auslöser war die kurzlebige Wagner-Meuterei im Juni, doch im Kern geht es um die nachlassende Energienachfrage, neue Sanktionen des Westens (z.B. ein Preisdeckel auf russisches Öl) und - das immerhin positiv für Moskau - eine Normalisierung des Importvolumens dank verbesserter Sanktionsumgehung. Ein schwacher Rubel kommt zwar dem Export zugute, doch verschärft ausgerechnet das Inflationsproblem. Es war der Rubel-Preisverfall im Sommer, welcher die Zentralbank zu ihrem höchsten Zinsschritt in den letzten Monaten zwang.

Russlands Fähigkeit, den Rubelkurs außer mit Leitzinsen zu beeinflussen, ist angeschlagen. Aufgrund der Sanktionen und des aktuell verringerten Rohstoffaußenhandels schwinden die Devisenreserven des Kreml, also seine Auslandswährungen. Mit diesen könnte er am Währungsmarkt intervenieren, um den Rubel zu stützen. Er versucht dagegenzuhalten, in dem er Firmen zum Pflichtverkauf von Devisen zwingt. Das stärkt den Rubel direkt und bringt dem Staat besagte Devisen, doch schwächt die Firmen, welche in ausländischer Währung einkaufen oder Schulden begleichen müssen.

Eine Metapher_

(1 Minute Lesezeit)

Quelle: Disney, dailymotion

Der Druck wächst

Russland steht nicht vor dem wirtschaftlichen Untergang, zumindest nicht akut. Die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt hat die Finanzkraft, um viele Schocks auszuhalten, schließlich hat sie sich genau darauf jahrelang vorbereitet. China springt in die sanktionsbedingte Bresche, etwa wenn der chinesische Bankensektor seine Russland-Kredite im Jahr 2022 beinahe vervierfacht und das Handelsvolumen der beiden Länder im ersten Halbjahr 2023 um 37 Prozent steigt. Es gibt Szenarien, in welchen Russland glimpflich durch die nächsten Jahre kommt, vor allem wenn es hohe Ölpreise, ein schnelles Kriegsende und Sanktionslockerungen erfährt. Diese wirken derzeit aber nicht wahrscheinlich. Eher winkt eine strukturell prekäre Lage rund um einen heftigen Fachkräftemangel, Brain Drain und einen um Jahre zurückgeworfenen zivilen Sektor.

Die whathappened-Redaktion muss dabei an ein sinkendes Boot im Stile klassischer Disney-Cartoons denken, beispielsweise wie in diesem Donald-Duck-Cartoon aus dem Jahr 1950, ab Minute 4: Ein Leck tut sich auf und lässt sich stopfen. Doch damit baut sich an anderer Stelle Druck auf und das nächste Leck entsteht. Dann das nächste und das nächste. Irgendwann gehen einem die Finger und Zehen aus, um Leck nach Leck zu stopfen. Der Druck wird unhaltbar, das Boot sinkt. Russlands "Lecks" sind Kriegsbedarfe, hohe Inflation, Rezessionsgefahren, Rubelschwäche, niedrige Rohstoffpreise, schwindende Devisen- und Staatsfondsreserven, die Zufriedenheit der Bevölkerung und vieles mehr. Die "Stopfen" sind Leitzinsen, Staatsausgaben, Subventionen, Kapitalkontrollen, Kapital- und Devisenreserven und weiteres. Doch die Stopfen sind nicht endlos verfügbar und mit jedem Einsatz wächst an anderer Stelle der Druck. Noch sinkt das Boot nicht, aber Russland hat längst nicht mehr alle Finger und Zehen zur Verfügung.

Weiterlesen: 

Zu Russlands Wirtschaft
Russland und die Sanktionen (2022)

Zu Russland
Das System Russland (2021)
Putins Russland verabschiedet sich aus der Zivilisation (Februar 2022)
Dieser Krieg wird noch lange dauern – und der Westen muss bereit sein (September 2022)
Russlands Pfad, Teil 1: Memorial (2023)
Russlands Pfad, Teil 2: Die vertane Chance (2023)
Wagner-Aufstand: Die Geister, die du riefst (Juni 2023)

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Die Rückkehr der Inflation (2021)
Wie steht es um die Inflation? (2023)

Zu Komponenten der Inflation
Die Energiekrise (2021)
Die Energiekrise, in zwei Teilen (Update, 2022)
Die Welt kämpft mit der Nahrungsmittelkrise (2022)
Was ist los in der Weltwirtschaft? (2022)
Die Welt in der Schuldenkrise (2022)