Oh boy, here we go. (17 Minuten Lesezeit)
Update 27.10.2020:
Es kam, wie vermutet: Amy Coney Barrett wurde ohne Probleme bestätigt. Sie wird zur Nachfolgerin für die verstorbene Ruth Bader Ginsburg (RBG), über deren Wichtigkeit wir im Originaltext unten geschrieben hatten.
Die Bestätigung gelang mit fast allen republikanischen Stimmen im Senat: Nur Republikanerin Susan Collins, die für ihre Wiederwahl in Maine auf moderate Wähler angewiesen ist, stimmte gegen Barrett. Parteikollegin Murkowski stimmte hingegen doch für die Nominierte und vergaß damit scheinbar ihr Versprechen, im Falle eines Ablebens eines Obersten Richters bis nach der Präsidentschaftswahl zu warten. Und das obwohl sie das Versprechen nur wortwörtlich Stunden vor RBGs Tod in einem Interview gegeben hatte.
Barretts Aufstieg in das Oberste Gericht dürfte den Court auf Jahrzehnte prägen (wir schrieben im Originaltext darüber) und akut Entscheidungen zur US-Wahl oder zur Gesundheitsreform ACA beeinflussen (siehe Update 28.09.).
Update 28.09.2020:
Wie erwartet hat Präsident Trump Amy Coney Barrett nominiert. Außerdem scheinen die Republikaner den schnellen Weg zu wählen: Barrett soll noch vor der Wahl bestätigt werden, statt in der “lame duck”-Phase danach. Offenbar geht es Präsident Trump darum, den Supreme Court als möglichen Wahlentscheider bereitzumachen.
Das sollte nicht falsch verstanden werden: Auch im Falle einer umstrittenen Wahl hat Trump keine Sicherheit, dass der Court nur aufgrund der konservativen Mehrheit tatsächlich zu seinen Gunsten entscheidet. Mindestens genauso vorstellbar ist es, dass die Richter es kurzerhand ablehnen, sich wie bereits vor 20 Jahren wieder in eine Wahl hineinziehen zu lassen.
Die Bestätigung selbst wird kein Problem. Den Republikanern ist es anscheinend gelungen, eine 51-zu-49-Mehrheit zu festigen. Opposition gab es nur von den Senatorinnen Murkowski (wurde Stunden vor RBGs Tod genau dazu befragt) und Collins (kritisierte Trump schon in der Vergangenheit und steht vor einer sehr engen Wiederwahl in Maine, wo sie auf moderate Wähler angewiesen ist).
Dank 51 zu 49 (und Vizepräsident Pence als tie-break) gibt es nichts, was die Demokraten tun können, um Barrett zu verhindern. Das räumte auch Senator Dick Durbin, die Nummer zwei der Demokraten im Senat, ein: Man könne die Bestätigung “vielleicht um Stunden, maximal Tage” verzögern.
Also bleiben zwei Fragen: Erstens, was kann nach der Wahl getan werden? Dazu hatten wir im Artikel unten mehr geschrieben. Und zweitens, wie wollen die Demokraten jetzt damit umgehen?
Denn es gibt im Umgang mit Barrett einiges zu verlieren. Boykottieren die Demokraten die Anhörung, wie es Teile der progressiven Parteibasis fordern, geben sie die Möglichkeit auf, die Kandidatin zumindest öffentlich unter Beschuss zu nehmen – was auch mit Hinblick auf die Präsidentschaftswahl Punkte bringen könnte.
Mit der Kandidatin völlig normal umgehen, am besten zu Beginn der Anhörung die traditionellen Höflichkeiten austauschen? Ein sicherer Weg, von der wütenden Parteibasis zerrissen zu werden, denn diese will derzeit eher Rache als Überparteilichkeit.
Attackieren die Demokraten Barrett hingegen zu stark, riskieren sie es, moderate Wähler zu vergraulen. Ihre Erfahrung als Juristin? Schwer zu leugnen. Ihr Katholizismus? In den religiösen USA tabu. Die Tatsache, dass sie sieben Kinder hat, davon zwei adoptiert und eins mit Down-Syndrom? Ein Minenfeld an Tabus. Die Demokraten müssen also einerseits respektvoll und gleichzeitig… nicht respektvoll sein. Schwierige Herausforderung.
Antwort: Healthcare, healthcare, healtcare.
Denn Barretts Nominierung bringt die Obamasche Gesundheitsreform Affordable Care Act (ACA) in Gefahr. Am 10. November kommen Beschwerden über das ACA vor den Court. Eine Niederlage galt eigentlich als sicher, denn ein ähnlicher Fall wurde vor einigen Jahren bereits von den Richtern abgelehnt, der aktuelle galt als schwächer. Doch mit Barrett und der neuen 6-zu-3-Mehrheit könnte das anders aussehen. Ein Ende von ACA ohne Alternative würde Chaos bedeuten, und das inmitten einer Pandemie, welche die USA ohnehin bereits überfordert.
Also haben die Demokraten “Healthcare” zum Hauptthema erkoren. Das ergibt durchaus Sinn: Vielen Amerikanern ist das Thema wichtig, es hat durch die Covid-Krise an Fahrt gewonnen und knüpft außerdem gut an das Versagen der Trump-Regierung in der Pandemie an.
Healthcare wird also sein, womit Barrett in ihrer Senatsanhörung durchbohrt wird und worum es in der Außenkommunikation der Demokraten in den kommenden Wochen sehr oft gehen wird.
Die Frage nach der Vakanz im Supreme Court ist hingegen vorerst gelöst: Schätzungsweise Mitte Oktober stößt Barrett zum Court hinzu und bildet eine konservative 6-zu-3-Mehrheit. Ab November beantwortet sich dann nach und nach die Frage, was das für die USA bedeutet.
ORIGINALTEXT:
Was passiert ist (in 20 Sekunden)
Eine Oberste Richterin in den USA, Ruth Bader Ginsburg, ist gestorben. Auf dem Totenbett sprach sie ihren “glühendsten Wunsch” aus: Dass ihr Nachfolger vom nächsten Präsidenten der USA bestimmt wird. Das weckt Gespenster aus 2016. Ob der Wunsch befolgt wird oder nicht: Der Tod wird die US-Präsidentschaftswahl beeinflussen und könnte das Land auf Jahrzehnte prägen.
Direkt vorab: Die Elegien sparen wir uns, denn die machen andere deutlich besser. Zum Beispiel dieser gigantische Longform-Artikel der New York Times, welcher das Leben der prominenten Richterin beleuchtet.
Die Blitzzusammenfassung (in 30 Sekunden)
- Der Tod der Richterin stärkt Präsident Trump in der kommenden Wahl, denn er mobilisiert die republikanischen Wähler und lenkt vom Covid-19-Desaster ab.
- Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Republikaner dank ihrer Senatsmehrheit einen neuen Richter durchdrücken – obwohl sie damit gegen eine eigens erfundene Regel aus 2016 verstoßen würden. Du dachtest, noch mehr Polarisierung in den USA sei unmöglich? Oh, you better watch this.
- Damit steht das Land vor einer politischen Krise und mehreren Jahrzehnten mit mehr konservativem Einfluss.
- Im Falle eines engen Wahlergebnisses könnte der neue Supreme Court Präsident Trump außerdem die Wiederwahl sichern.
- Bei den Demokraten dürften Ideen en vogue werden, welche die Integrität des Obersten Gerichts gefährden.
- Das Einzige, was diesem Szenario im Weg stehen könnte? Die Angst der Republikaner vor den Wählern, denn so manch Senator kämpft um die Wiederwahl und will moderate Stimmen nicht vergraulen.
Warum Ruth Bader Ginsburg wichtig war
Die Richterin für die coolen Kids
Schnell, nenn alle 16 deutschen Verfassungsrichter. Wie, dir fällt keiner ein? Nicht mal der amtierende Präsident? Andreas Voßkuhle stimmt seit Mai leider nicht mehr. Na gut: Das deutsche Verfassungsgericht hat in der breiten Öffentlichkeit noch keinen Kultstatus erlangt. Wir warten nach wie vor auf unser Verfassungsrichter-Stickeralbum.
In den USA haben die Justices des Supreme Court dagegen mitunter Promifaktor. Das gilt für niemanden so sehr wie für Ruth Bader Ginsburg. Die 87-jährige Juristin war 27 Jahre lang im Court, womit sie die zuletzt dienstälteste Richterin war.
RBG, wie sie gerne abgekürzt wird, war unter Demokraten und linken Amerikanern enorm beliebt. Kein Wunder: Sie startete zwar relativ moderat, wurde dann aber zur zuverlässigen liberalen Bastion im Supreme Court. Sie setzte sich für Frauen- und Minderheitenrechte ein und vertrat auch bei Themen wie Migration, Umwelt oder Justizsystem zutiefst demokratische Positionen.
Gerade in den letzten Jahren hat ihre Marke auf fast absurde Weise an Wert zugelegt. Wie wäre es mit einem Ruth Bader Ginsburg T-Shirt? Oder einem Gesichtsschutz mit “Notorious RBG”-Schriftzug, einer Anspielung auf einen berühmten Rapper? Für die traditionsträchtige amerikanische Sketchshow Saturday Night Live ist RBG inzwischen eine der Lieblingsfiguren (Video). Ach, und es gibt zwei Filme über sie. Aber von unserer Geschäftsidee, Andreas-Voßkuhle-Merchandise zu vertreiben, rät unser Beraterteam uns ständig ab. Verstehe das mal einer.
Grund für die ein wenig skurrile Popularität der rüstigen Richterin war selbstverständlich niemand anderes als Präsident Trump. Dafür muss man verstehen, wie der Supreme Court funktioniert.
Die letzte Instanz der Demokratie
Der Supreme Court besteht aus insgesamt neun Richtern, welche auf Lebenszeit ernannt werden. Und hierin liegt die Crux: Ist ein Platz erst einmal frei, kann dieser für Jahrzehnte mit einem bestimmten Richter besetzt werden. Die Nominierung nimmt der US-Präsident vor, die Befragung und Bestätigung erfolgt durch den Senat. Dieser ist seit 2015 republikanisch dominiert.
Trump und die Republikaner können also weitestgehend ungestört einen neuen Richter benennen. Das würde die Machtbalance ändern. Bislang bestand das Gericht aus fünf eher konservativen Richtern und vier eher liberalen Richtern. Chief Justice John Roberts, also das Voßkuhle-Pendant des Supreme Courts, stimmte zuletzt gelegentlich mit seinen liberalen Kollegen. Ein neuer konservativer Richter würde eine konservative 6-zu-3-Mehrheit bedeuten. Und Beschlüsse werden stets per einfacher Mehrheit gefällt.
Dazu kommt, dass der älteste Richter nun Stephen Breyer mit 82 Jahren ist. Haben die Republikaner Glück, können sie eine Jahrzehnte währende konservative Festung aus 7 zu 2 rechtsgerichteten Justices kreieren. Das könnte enorme Folgen für die USA haben.
Denn die Wichtigkeit des Supreme Court lässt sich kaum unterschätzen. Einer der bekanntesten Fälle war Roe v. Wade, als der Court 1973 entschied, dass Frauen ein Recht auf eine Abtreibung in den ersten zwei Trimestern besitzen. Die Republikaner laufen seitdem Sturm gegen die Entscheidung.
Der Court entschied zu Nixon-Zeiten, dass ein Präsident strafrechtlich relevante Beweise nicht zurückhalten darf. Er entschied 1857, dass afroamerikanische Sklaven kein Recht auf Staatsbürgerschaft besitzen. Er entschied 2015, dass gleichgeschlechtliche Ehe in allen 50 US-Staaten legal sein muss.
Und im Jahr 2000 entschied er nach einem extrem engen Wahlausgang, dass es keine Neuauszählung geben würde und machte so den Republikaner George W. Bush zum Präsidenten.
In kurz: Der Court hat enormen Einfluss auf Politik und Gesellschaft in den USA. Und ist die letzte Instanz, wenn es um schwierige Entscheidungen geht.
Nur noch ein paar Meter, Ruth
Kein Wunder also, dass sowohl Republikaner als auch Demokraten darauf setzen, den Court mit freundlich gesinnten Richtern zu besetzen. Ginsburgs gesundheitliche Verfassung wurde deswegen zu einem Thema nationaler Wichtigkeit. Ihre gelegentlichen Verletzungen und Krankheiten sowie ihr Bauchspeicheldrüsenkrebs gerieten zu Frontpage-Schlagzeilen. Ihr Personal Trainer hat ein eigenes Buch über das “RBG Workout” verfasst.
Der Hype um RBG drehte sich also zu gleichen Teilen um ihre Rolle als progressive Vorkämpferin und um ihr stoisches Aushalten gegen, nun ja, das Ableben. Damit ihr Platz von einem liberalen Präsidenten gefüllt werden kann. Eine Gelegenheit dazu hatte sie schließlich verpasst: Unter Obama lehnte sie einen strategischen Rücktritt ab, um sich ihren Traum zu erfüllen, bis zum 90. Lebensjahr im Supreme Court zu bleiben.
Was RBGs Tod für die USA bedeutet
Konsequenz eins: 2020, meet 2016
Ein Gespenst aus der Präsidentschaftswahl 2016 wird die amerikanische Demokratie heimsuchen. Denn damals starb der konservative Richter Antonin Scalia. Präsident Obama wollte den frei gewordenen Platz mit dem relativ moderaten Merrick Garland besetzen – doch die Republikaner im Senat verweigerten eine Anhörung.
Das Argument von Senatsführer Mitch McConnell? Da Obamas Amtszeit bald ende, solle der nächste Präsident Garlands Nachfolge bestimmen. Die Demokraten liefen gegen das Manöver, für welches es keine Präzedenz gab, Sturm. Bewirken konnten sie gegen die republikanische Mehrheit im Senat nichts. Nach Trumps Wahlsieg füllte er den Platz mit einem konservativen Richter, eines der größten Wahlversprechen an seine republikanische Basis.
Nun sind wir erneut in einem Wahljahr und ein Richter ist gestorben. Nicht nur das: Obama hatte noch rund elf Monate als wirkender Präsident, bei Trump sind es kaum vier. Die Wahl findet sogar in weniger als 60 Tagen statt, bei Obama waren es noch acht Monate. Es schreit also quasi danach, das McConnellsche Prinzip aus 2016 wieder anzuwenden und die Vakanz erst nach der Wahl zu füllen.
Doch leider sieht McConnell das anders. Er hat bereits angekündigt, die Stelle noch unter Präsident Trump füllen zu wollen. Dabei erinnerte ihn sein Demokraten-Konterpart Chuck Schumer schleunigst an seine Aussage von 2016 – und zwar indem er McConnells Worte 1:1 kopierte. Dieser zeigt sich bislang unbeirrt. Sein neues Argument? Vor vier Jahren hielten die Demokraten nun mal nicht den Senat, diesmal halten die Republikaner sowohl Weißes Haus als auch Senat.
Wie hängt das logisch mit dem Ursprungsargument zusammen? Richtig, überhaupt nicht. McConnell geht entwaffnend offen damit um, dass es letztlich nur eine Frage von Macht ist. Wir tun es, weil wir es können. Das ist gut für alle, die sich eine konservativere USA wünschen, doch schlecht für das Vertrauen in die demokratischen Institutionen. In der Demokratischen Partei herrscht das Entsetzen. Obama ruft die Republikaner dazu auf, Fairness zu beachten; Senatorin Kamala Harris kündigt “Kampf” an.
Hoffen, dass die Wähler wegschauen
In Stein gemeißelt ist noch nichts. Die Republikaner haben eine relativ schmale Mehrheit im Senat: 53 zu 47. Und mehrere Republikaner hatten in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren explizit erklärt, dass sie im Falle einer offenen Vakanz kurz vor der Wahl keine Nominierung durchpeitschen würden.
Senatorin Lisa Murkowski wurde wortwörtlich Stunden vor Ginsburgs Tod zu einem solchen Szenario befragt und versprach, dass sie selbstverständlich warten würde.
Ein Grund für die Versprechen ist, dass viele Republikaner vor der Wiederwahl stehen – und dafür in ihren Bezirken auch moderate Wähler abfangen müssen. Das McConnell-Manöver dürfte diese abschrecken – umso stärker, je konservativer der von Präsident Trump vorgeschlagene Kandidat ist. Beziehungsweise die Kandidatin, denn Trump hat bereits angekündigt, dass es eine Frau wird.
Die Top-Kandidatin ist Insidern (und früheren Trump-Aussagen) zufolge Amy Coney Barrett. Wie konservativ ist sie? Nun ja, bei einer Abschlussrede erklärte sie, dass eine Karriere im Rechtssystem nur ein Mittel zum Zweck sei – und der Zweck sei es, das “Reich Gottes” zu kreieren. Womöglich wird das für einige Republikaner zu schwer zu schlucken sein. Sie könnten also den Sitz im Court zugunsten ihrer Wiederwahl opfern.
Oder auch nicht. Es ist durchaus denkbar, dass zahlreiche Republikaner selbstbewusst genug auf ihre Wiederwahl blicken und ihre früheren Supreme-Court-Aussagen einfach gepflegt ignorieren. So macht es beispielsweise Senator Lindsay Graham und zwar auf ungewollt komische Weise:
Bislang haben sich nur die Senatorinnen Murkowski und Susan Collins zu ihren früheren Worten bekannt und eine Anhörung abgelehnt. Fairerweise ist noch nicht viel Zeit vergangen. Hier eine aktualisierte Übersicht darüber, wie sich die republikanischen Senatoren positionieren. Samt “Was haben sie im Jahr 2016 gesagt”-Check.
Trump-Witz des Tages: Der Präsident hatte bei einer Rallye vorgeschlagen, im Falle einer Vakanz den erzkonservativen Senator Ted Cruz zu nominieren. Dieser sei dermaßen unbeliebt, dass sämtliche Republikaner und Demokraten für ihn stimmen würden – nur um ihn nicht mehr im Senat ertragen zu müssen.
Konsequenz zwei: Achja, deswegen wählen wir Trump
RBGs Tod ist für Trump eine großartige Nachricht, denn er frischt das Gedächtnis der Amerikaner auf. Republikanischen Wähler haben eine handfeste Erinnerung daran, warum sie für Trump stimmen sollten. Das ist bedeutsam, denn viele moderate Parteianhänger tun sich mit dem Präsidenten schwer. Das zeigen Trump-feindliche republikanische Gruppen wie das “Lincoln Project“. Die Aussicht auf einen konservativen Supreme Court könnte sie umstimmen, schließlich war das bereits 2016 eines der wichtigsten Argumente zugunsten Trumps.
Auch die Demokraten realisieren den Ernst der Lage natürlich – doch es gibt einfach viel weniger Potenzial, welches noch abrufbar ist. Jennifer Palmieri, Kommunikationschefin der Clinton-Kampagne 2016, beschreibt es so: “Ich weiß nicht wie viel wütender die Linke noch werden kann”. Die Opposition zu Trump mobilisiert Demokraten-Wähler bereits dermaßen stark, dass der offene Sitz im Court nicht mehr viele Stimmen freikitzeln dürfte.
Außerdem erlaubt es Präsident Trump, seinen Wahlkampf vom C-Wort wegzubewegen. Covid-19 hat wenig Luft für andere Themen gelassen, doch nun grätscht der Kampf um den Court mit voller Kraft hinein. Das ist gut für den Präsidenten, denn seine Reaktion auf die Pandemie hat ihn auf jeden Fall nicht gestärkt in den Wahlkampf gehen lassen.
Konsequenz drei: Wer entscheidet die Wahl?
Erinnerst du dich an Präsident George W. Bush? Richtig, Irakkrieg, Merkel-Massage und hübsche Gemälde auf der Ranch in Texas. Ins Amt verhalf ihm im Jahr 2000 der Supreme Court. Denn die Wahl gegen Al Gore verlief dermaßen knapp, dass sich die Frage nach Neuauszählungen stellte. Der Supreme Court lehnte ab und sicherte Bush so mit nur 537 Stimmen Vorsprung (!) die Wahlmänner aus Florida und so das Amt.
Und 2020 könnte ähnlich laufen. Wir schreiben dazu in den kommenden Wochen noch ein wenig mehr, doch in aller Kürze: Die Kombination aus heftiger Polarisierung, von Präsident Trump gesäten Zweifeln und der größten Briefwahl in der Geschichte der USA könnte zu einem undeutlichen Wahlergebnis führen – und zu einem Rechtsstreit, wie ihn die USA seit langem nicht mehr gesehen haben.
Am Ende entscheidet diesen der Supreme Court. Und ein Szenario ist vorstellbar, in welchem Trump die Wiederwahl nur dank der neuen konservativen Mehrheit im Court gelingt.
Konsequenz vier: Justices mit Justices besiegen
Der Supreme Court ist eine merkwürdig mächtige Institution. Sie ist äußerst wichtig, doch besteht nur aus neun Mitgliedern, welche ihr ein Leben lang angehören. Stirbt ein Richter, beginnt das politische Geschacher. Vielleicht ist es also an der Zeit, die Amtszeiten der Richter zu beschränken, ähnlich dem deutschen Verfassungsgericht? Andreas Voßkuhles Ausscheiden hat hierzulande schließlich auch keine Staatskrise geführt. Noch nicht.
Oder man macht es sich noch einfacher: Der Court wird einfach vergrößert. Das wäre vor allem eine Idee für die Demokraten, falls sie in der kommenden Wahl eine Mehrheit im Senat erringen sollten. Denn was machen schon sechs konservative Richter, wenn man soeben fünfzehn weitere Sitze geschaffen und mit Liberalen gefüllt hat?
Das nennt sich court packing. Insbesondere der linke Flügel der Demokraten unterstützt es, doch die moderate Riege befürchtet eine Eskalationsspirale, in welcher nach jedem Machtwechsel der Supreme Court neu “bepackt” wird. Das würde ihn im extremsten Fall zum Äquivalent des Parlaments in China machen: Ein freundlich gesinnter “rubber stamp court”, der immer auf Linie mit der Regierungspartei ist.
Die Forderung hat deswegen das Potenzial, moderate Wähler zu verschrecken und ins Lager der Republikaner zu treiben. Ähnlich lief es bereits bei der Forderung nach “defund the police”, also das Polizeibudget signifikant zu senken, welche im Zuge der Black-Live-Matter-Proteste aufkam. Beliebt unter den Linken, allerdings nicht unter der Gesamtbevölkerung und drum von den Moderaten als politisches Gift betrachtet.
Doch der Schock nach Ginsburgs Tod und das Entsetzen über das Manöver der Republikaner verstärkt die Forderung nach court packing. Selbst ein Senator der Demokraten hat sich dem Aufruf bereits angeschlossen. Und wohlgemerkt nicht alle halten es für Teufelszeug. Einige Experten weisen darauf hin, dass der Court bereits sechsmal in seiner Geschichte die Zahl seiner Mitglieder geändert hat. Es könnte also auch ohne Systemkrise und Wählerflucht gehen. Doch das Risiko ist signifikant.
Was wir denken, was passieren wird
Die Republikaner und Präsident Trump nehmen den Kampf um den Sitz dankend auf. Statt noch vor der Wahl eine Nominierung und Anhörung durchzujagen – was zeitlich ohnehin extrem ambitioniert wäre – nutzen sie es, das Thema bis zum Wahltag bespielen zu können.
Ist die Wahl erst einmal gelaufen, setzt der republikanische Senat mit einer hauchdünnen Mehrheit, vielleicht sogar per tie-break durch Vizepräsident Pence, den neuen Kandidaten durch. Das geschieht in der “lame duck”-Phase, also in der Zeit zwischen Wahl und Amtsantritt des neuen Präsidenten.
Clinton-Witz des Tages: Die lame duck (lahme Ente) ist ein Präsident am Ende seiner Amtszeit, wenn er im Grunde nur noch den Sitz warmhält und sich alle Augen auf den Amtsnachfolger richten. Bill Clinton hat das Beste aus seinem lame-duck-Moment gemacht und eine Parodievideo über sich drehen lassen.
Falls Präsident Trump wiedergewählt wird, ist die Nominierung ohnehin über alle Zweifel erhaben. Nun ja, eigentlich nicht, aber wen interessiert das schon. Nun kann der lautstarke, massive Protest der Demokraten als übertrieben und irrsinnig dargestellt werden; die Narrative einer radikalen Linken, welche die Partei kontrolliert, lässt sich so unterstreichen. Das hilft den Republikanern in Zukunft mit moderaten Wählern.
Verliert Präsident Trump, nehmen die Republikaner eben die Wut der Demokraten hin. Sie setzen ihren Kandidaten durch und freuen sich auf eine neue konservative Mehrheit, welche progressiven Projekten Sand ins Getriebe streut. Der Eklat ums McConnell-Manöver gibt dem linken Flügel der Demokraten Auftrieb und senkt das Potenzial für überparteiliche Zusammenarbeit in Washington.
In jedem Fall ist die US-Wahl gerade deutlich interessanter geworden. Nur für den Fall, dass du befürchtet hast, dass es zwischen Pandemie, Massenprotesten und Kulturkrieg langweilig wird.