Zwei (relativ) neue Parteien, zwei unterschiedliche Visionen für Deutschland und Europa. 29.09.2024
Viel Neues | Volt | BSW(19 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Die deutsche Parteienlandschaft ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen; eine Zersplitterung macht sich bemerkbar.
- Zwei auffällige, da gegensätzliche Neugründungen der letzten 10 Jahre sind Volt und das BSW.
- Volt setzt auf eine sozialliberale Politik, welche im Kern jener der Grünen stark ähnelt, doch weitaus europäischer und etwas marktfreundlicher sowie technologieoffener ausfällt.
- Das BSW etabliert einen hierzulande ungewohnten Linkskonservatismus mit klassisch linker Wirtschaftspolitik und rechter Gesellschaftspolitik – und einer starken, völlig offen getragenen prorussischen Haltung.
- Während Volt trotz jüngster Erfolge aufgrund der Herausforderung von Sperrklauseln auf Bundes- und bald Europaebene bangen muss, hat das BSW gute Chancen, sich auf längere Sicht zu etablieren. Mögliche Regierungsbeteiligungen im Osten geraten zur Chance, aber auch zum Risiko.
Viele neue Parteien_
(2 Minuten Lesezeit)
À la carte
Viel los in der deutschen Parteienlandschaft. Allein in den letzten vier Jahren wurden mehr Parteien gegründet als in den 15 Jahren zwischen 2000 und 2015. Von den Vorjahrzehnten ganz zu schweigen: In den 1990ern, immerhin das Jahrzehnt der Wiedervereinigung, entstanden “nur” 8 Parteien; in den 80ern waren es 7 und in der gesamten Phase 1946 bis 1979 nur 8. Von 2020 bis 2024 gab es 25 Neugründungen.
Eine wahre Flut an Parteigründungen, also. Sie lässt sich weder damit erklären, dass eben alle vier Jahre vor der nächsten Wahl mehrere neue Parteien antreten; noch mit besonderen Ereignissen wie Covid-19. Stattdessen scheint die Unzufriedenheit mit dem politischen Angebot grundlegend gestiegen zu sein. Auch das Demokratieverständnis könnte sich verändert haben, wie einige Beobachter befinden: Bis 1983 gab es im Grunde nur drei Parteien als “große Zelte” oder Volksparteien, welche kollektiv 80 bis 95 Prozent aller Stimmen auf sich vereinten. Dann gesellten sich die Grünen zu Union, SPD und FDP hinzu. Ab 1998 auch die Linke. Heute kann sich höchstens die Union noch als Volkspartei verstehen; stattdessen ist die Parteienpolitk ein à-la-carte-Menü, in welchem immer spezifischere Präferenzen und Prioritäten durch einzelne (Klein-)Parteien abgebildet werden.
Wenige Überlebende
Die meisten der neuen Parteien verschwinden ins politische Nirvana oder bleiben nur als Nischenwahl erhalten. Allerdings gelang es alle paar Jahrzehnte – und zuletzt alle paar Jahre – einer neuen Partei, sich auf nationaler Ebene zu etablieren. Die 2006 gegründeten Piraten schnupperten als linksliberale, technophile Bürgerrechte-fokussierte Partei kurz daran: Sie erhielten in der Bundestagswahl 2013 respektable 2,2 Prozent (immerhin nahezu 1 Million Stimmen) und zogen 2012 in mehrere Landtage ein. Inzwischen sind sie weder auf Bundes- noch auf Landesebene ein Faktor. Noch mehr Erfolg hatten die Freien Wähler ab 2009. Bundesweit erreichten sie zuletzt 2021 ihr Rekordhoch von 2,4 Prozent, doch sind schon seit 2018 an der Landesregierung Bayerns als CSU-Juniorpartner beteiligt. Ein weitaus größerer Faktor ist die Alternative für Deutschland (AfD). Die Partei schüttelte die politische Landschaft ab 2013 so sehr auf wie vorher nur die Grünen ab 1980; befand sich in bundesweiten Umfragen bereits oberhalb der 20 Prozent.
In der jüngsten Vergangenheit, den letzten 10 Jahren, entstanden nach Ansicht der whathappened-Redaktion vor allem zwei interessante Parteien. Sie stehen für völlig gegensätzliche Politikstile, Prioritäten und Zukunftsvisionen: Volt und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).
Volt_
(8 Minuten Lesezeit)
Volt-Wahlplakate 2021. Quelle: Richard Huber, wikimedia
Klein, aber auf größter Ebene
Volt ist nicht die größte der Kleinparteien in Deutschland, nicht einmal von jenen, welche in den letzten zehn Jahren gegründet worden sind. Die Basisdemokratische Partei Deutschland, Die PARTEI und die Tierschutzpartei erreichten alle 2021 deutlich mehr Stimmen; und bis auf letztere haben sie auch deutlich mehr Mitglieder als Volt Deutschland mit seinen rund 6.500 (europaweit hat Volt laut eigenen Angaben rund 30.000 Mitglieder). Allerdings handelt es sich bei ihnen entweder um Themenparteien oder um Satireparteien. Volt ist insofern ungewöhnlich, als es entlang der Themenbreite großer Parteien operiert und dabei auch noch Positionen besetzt, welche in den letzten Jahren nicht gerade mit jener Mobilisierungsfähigkeit verbunden waren, welche für Kleinparteien überlebenswichtig ist. Auf zwei (drei?) Begriffe heruntergebrochen ließe sich die Partei als europäisch-föderalistisch und sozialliberal bezeichnen.
Um Volt zu verstehen, hilft ein Blick auf den Kontext ihrer Entstehung Anfang 2017. Das Brexit-Referendum war gerade erst ein Jahr alt und hatte die EU erschüttert; zu dem Zeitpunkt war noch nicht klar, ob die Union aus dem britischen Austritt gestärkt, geschwächt oder existenziell gefährdet hervorgehen würde. Die USA hatten ein halbes Jahr zuvor Donald Trump zum Präsidenten gewählt und damit die transatlantischen Beziehungen infrage gestellt. Die Finanzkrise 2008/9 wirkte noch immer nach und hatte eine “Ökonomisierung” der Welt begründet, in welcher ökonomische Fragestellungen und Diskurse dominierten (heute könnte dagegen von einer “Geopolitisierung” die Rede sein). Die Eurokrise ab 2010 hatte die EU wirtschaftlich und politisch in zwei Lager getrennt, mit einem schwachen Süden und starken Norden; in ersterem kritisierten erstarkte Linkspopulisten die EU und schreckten auch vor Austrittsfantasien nicht zurück. Andersherum erwuchs Migration mit der Flüchtlingskrise 2015-17 zum großen Thema und beflügelte rechtspopulistische, EU-kritische Parteien. Auf der globalen Ebene verpasste das Pariser Klimaschutzabkommen 2015 der internationalen Klimapolitik einen Schub, während die russische Invasion der Ukraine 2014 Zweifel an der regelbasierten Ordnung aufgeworfen hatte.
Was Volt will
Volt hat sich von Anfang als Bastion gegen den populären linken und rechten Trend zur EU-Kritik seiner Zeit gesehen. Nicht zufälligerweise wurde die Partei an jenem Tag gegründet, an welchem Großbritannien seinen Austrittsantrag einreichte, damals noch unter dem Namen Vox Europa. Volt war stets als paneuropäisch gedacht, gründete allerdings nationale Parteien, um an Wahlen teilnehmen zu können (heute befinden sich 31 Parteien unter dem Dachverband Volt Europa). Dabei ist Volt nicht einfach nur proeuropäisch, sondern spricht sich ausdrücklich für eine stärkere europäische Integration aus. Auf die Kurzsicht bedeutet das mehr nationale Kompetenzübergabe nach Brüssel; auf die lange Sicht das Zuarbeiten auf die “Vereinigten Staaten von Europa”.
Die Pläne von Volt für Europa sind somit teilweise inkrementell, teilweise weitreichend. So möchte die Partei eine Wahlrechtsreform auf EU-Ebene erreichen, welche transnationale europäische Wahlen ermöglichen würde, statt die nationalen Ergebnisse in das Europaparlament zu aggregieren. Das wäre ein Schritt zu einem “Föderalen Europa”. Volt ruft zu einem Verfassungskongress auf, um eine vollwertige europäische Verfassung zu erstellen; will die EU-Kommission zu einer EU-Regierung mitsamt Premierminister befördern; und möchte das EU-Parlament befähigen, eigens Gesetze vorzuschlagen, statt nur über die Vorschläge der Kommission mitentscheiden zu dürfen. Der Rat der Europäischen Union würde als Senat in eine zweite Parlamentskammer umgewandelt. Der EU-Haushalt soll verdreifacht und durch europäische Steuern gefüllt sowie EU-Schulden flankiert werden. Die Außenpolitik soll künftig einheitlich von einem europäischen Außenminister betrieben werden, statt von den Staaten; und dem Parlament soll eine gemeinsame europäische Armee unterstehen.
Abseits der Europapolitik vertritt die Partei progressive, sozialliberale und zumindest nominell marktfreundliche Positionen, welche sich am ehesten zwischen Grünen und FDP verorten ließen. Das inhaltlich relativ große Zelt, das sich dort spannen lässt, sehen viele Parteifunktionäre und -mitglieder als Qualitätsbeweis: Sie bezeichnen Volt mitunter als überideologisch; als Partei, welche eine “evidenzbasierte” Politik betreibe und nicht auf Emotionalisierung oder Lagerdenken setzen müsse. Einordnungen zwischen links oder rechts vermeiden sie; nutzen aber das Label “progressiv”. Nach den Europawahlen 2019 und 2024 befragte die Führung die Mitglieder, ob Volt im EU-Parlament mit den Grünen oder mit den Liberalen paktieren sollte.
Ziemlich grün
Hier zeigt sich allerdings auch, dass die Schlagseite zu den Grünen weitaus größer ist als zur FDP oder anderswo. 87 Prozent der Mitglieder stimmten 2024 für den Beitritt zur Fraktion Grüne/EFA. Auch im Programm (PDF) wird das deutlich. Wer die Positionen von Volt erraten möchte, läge gar nicht so verkehrt damit, einfach jene der Grünen anzulegen – und manchmal etwas aufzudrehen. EU-weite CO₂-Neutralität möchte Volt bereits 2040, die Grünen erst zehn Jahre später. Die (europäische) Außenpolitik soll ausdrücklich feministisch sein. Die Partei flirtet mit Vermögenssteuern, bedingungslosem Grundeinkommen und Konsumsteuern auf emissionsintensive Güter. Sie will “vorübergehend ‘positive Diskriminierung’ anwenden”, um kulturelle Minderheiten stärker in Unternehmen zu etablieren. In der Flucht- und Asylpolitik betont sie vorrangig die Rechte und Interessen von Flüchtlingen. Sie will “mittelfristig” Abschiebungen beenden und durch die “freiwillige Rückkehr durch Anreize” ersetzen sowie die Seenotrettung juristisch absichern. Volt spricht zwar davon, den Vermögensaufbau für geringere und mittlere Einkommen zu begünstigen, doch inwiefern das Steuererleichterungen und Umverteilungsmaßnahmen bedeutet, erklärt die Partei nicht. Die Kernkraft scheint Volt eher abzulehnen, auch wenn sie der kontroversen Frage in ihrem jüngsten Grundsatzprogramm etwas entgehen konnte, da sie darin lediglich den laufenden Atomausstieg abnicken musste.
Die größten Unterschiede zu den Grünen sind neben dem viel stärkeren Fokus auf EU-Föderalismus auch, dass Volt etwas weniger Berührungsängste zu wirtschaftsfreundlichen Positionen zeigt. Etwa beim (nie gefährlichen) Thema Mittelstand, doch insbesondere, wenn es um eine “moderne” Wirtschaft rund um Startups, Digital- und Klimatechnologien geht. “Innovation” ist ein Begriff, der sich viel durch das Programm und die politische Kommunikation der Partei zieht; in diesem Sinne findet sich auch eine etwas Grünen-untypische Technologieoffenheit: Sei es zu Carbon Capture and Storage (CCS), wo die Grünen erst jüngst von einer maximalistischen Position abrückten, oder zu hochmodernen, bisher nicht kommerzialisierten Atomreaktoren.
Gut zu wissen: Legen wir die Kapitellänge im Grundsatzprogramm als Proxy für die Prioritäten von Volt an, kommt Folgendes heraus:
Nicht alles idyllisch
Auch der Eigenanspruch, eine “evidenzbasierte”, scheuklappenfreie, pragmatische Politik zu betreiben, ist in der Praxis schwieriger als auf dem Papier. Der Aufruf zu Pragmatismus führt in der Partei durchaus zu kontroversen Diskussionen, denn nicht immer ist es ganz klar, wo Evidenz aufhört und Ideologie beginnt; und für manche ist “Pragmatismus” ein Euphemismus für Verrat am Guten. Insbesondere, wenn das eigene Anliegen als sehr wichtig empfunden wird, wie es bei emotionalen Themen meist der Fall ist. Zur Illustration mag das einzige Skandälchen der Partei dienen: Die damalige Kölner Vize-“City Lead” beschwerte sich auf offener Bühne darüber, dass in der Partei “so oft über Pragmatismus” gesprochen werde und das, so impliziert, Frauenrechten und Gleichstellung im Weg stünde. Den skurrilen Holocaustvergleich, den die Rednerin bemühte, beiseite: Es ist ein Signal dafür, dass selbst das rein nominelle Bekenntnis zu “Pragmatismus” in der Partei nicht unangefochten ist.
Am Ende ist Volt also in erster Linie eine recht Grünen-nahe Partei mit dezent wirtschaftsliberaleren und technophileren Elementen – und einem in dieser Form einzigartigen Fokus auf die EU. Das macht sie für eine junge, urbane, gutverdienende, kosmopolitische und europafreundliche Wählerschicht interessant. Diese Wähler finden zwar einige Parteien, die proeuropäisch sind, aber keine, welche das europäische Projekt dermaßen ausdrücklich vertiefen möchte.
Ganz vorne beiden Sonstigen
Wie erfolgreich ist Volt? In der bisher einzigen Bundestagswahl 2021 war die Partei mit 0,4 Prozent tief im Terrain der “Sonstigen”, doch bei der Europawahl gelang mit 2,6 Prozent ein Achtungserfolg: Volt vervierfachte nicht nur beinahe das Ergebnis aus 2019, sondern wurde mit Abstand stärkste Kleinpartei, von den Freien Wählern abgesehen. Bei den 16- bis 24-Jährigen schaffte sie gar 9 Prozent, gleichauf mit der SPD und ganz nahe an den Grünen. Insgesamt erlangte Volt 5 Sitze im Europaparlament, einer mehr, als es maximal erwartet hatte. Damit erhält Parteigründer Damian von Boeselager, welcher 2019 noch als einziger ein Mandat erhielt, Unterstützung.
Der 36-jährige Boeselager, welcher das adlige “von” im Namen meist weglässt, ist kein schlechtes Spiegelbild für seine junge Partei: Er studierte Wirtschaft und Philosophie sowie Public Policy (in etwa: Staatsführung oder öffentliche Verwaltung), arbeitete bei der Strategieberatung McKinsey und gründete Volt mit Freunden aus Italien und Frankreich. Auf den sozialen Medien erklärt er in Stichpunktlisten bestimmte Entscheidungen (etwa das Votum für Ursula von der Leyen), beantwortete zumindest bis April 2024 brav Fragen auf abgeordnetenwatch.de und bietet selbstgemachte Datenanalysen über die Arbeit an Gesetzeswerken (er sei der aktivste Abgeordnete aus ganz Deutschland). Sich selbst bezeichnet er als “Ordoliberalen“, was die Vorstellung beschreibt, dass der Staat einen Ordnungsrahmen für eine freie Marktwirtschaft schafft und ironischerweise anfangs synonym zum Neoliberalismus war. Zugleich kritisiert er die FDP, welche den Begriff ebenfalls für sich einnimmt, dafür, dass sie bloß noch die Interessen von “Großkonzernen” und “Autobranche” verteidige. Er verkörpert damit eben jenes gut gebildete, proeuropäische, progressive, zugleich wirtschaftsaffine und mit der Wirtschaft hadernde Klientel, welches zu Volt passt.
Wie es weiter geht
Die großen Zukunftsziele für Volt sind auf der europäischen Ebene 23 Abgeordnete, damit eine Volt-Fraktion ins Leben gerufen werden kann, und in Deutschland der Schritt über die 5-Prozent-Hürde. Letzteres ist insofern herausfordernd, als Wähler wissen, dass eine Stimme für eine Kleinpartei mit hoher Wahrscheinlichkeit effektlos bleibt – und sogar ihrer größeren Zweitwahl schadet. Wenn Volt bei der Bundestagswahl 2025 allein die 2,6 Prozent aus der Europawahl wiederholen könnte, wäre das bereits ein Erfolg.
Die Nähe zu den Grünen, welche gewöhnlich ein Problem darstellt, könnte hier zum Vorteil geraten: Die Ampelkoalition ist unbeliebt; die Grünen haben nach drei Jahren Regierung sowohl an ihrem linken als auch ihrem rechten Wählerflügel an Rückhalt verloren. Volt kann realistisch an beiden Seiten Wähler anziehen, nicht zuletzt, da auch SPD und FDP angeschlagen sind und die Linke orientierungslos ist. Für viele Wähler ist das kaum getestete Volt, welches irgendwie links, irgendwie grün und irgendwie liberal klingen mag, damit eine Option – insofern sie über den Kleinparteienschatten zu springen bereit sind.
Gut zu wissen: Auch in Europa kommen auf Volt neue Schwierigkeiten zu: Ab 2029 gilt eine Sperrklausel von mindestens 2 Prozent bei Europawahlen. Das verändert die Wahllogik zu Ungunsten von Volt und anderen Kleinparteien.
Das BSW_
(9 Minuten Lesezeit)
Sahra Wagenknecht. Quelle: DIE LINKE, wikimedia
Aus dem Stand heraus
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist in der deutschen Parteiengeschichte schon jetzt einzigartig.Noch nie sprang eine neu gegründete Partei derart rasant in die erste Riege der Politik. Aus dem Stand heraus erreichte sie nach der Gründung im Januar 2024 bundesweit 7 Prozent in den Umfragen. Bis Ende September hat sie diese gehalten und in einigen Umfragen auf 10 Prozent gesteigert bekommen. Bei der Europawahl im Juni schaffte die Partei 6,2 Prozent. Bei der Landtagswahl in Sachsen im September erhielt das BSW 11,8 Prozent, in Brandenburg 13,5 Prozent und in Thüringen 15,8 Prozent. In allen Fällen wurde es damit drittstärkste Kraft. In Thüringen und Brandenburg kommt keine stabile Regierung ohne das BSW aus, falls die AfD herausgehalten werden soll; in Sachsen gäbe es zwar mathematisch, aber vermutlich nicht praktisch eine Alternative. Erste Koalitionsberatungen laufen bereits. Und das alles kein ganzes Jahr nach der Parteigründung.
Das BSW hatte bekanntermaßen gute Startvoraussetzungen. Es ging im Grunde aus einem lange erwarteten Schisma in der Linkspartei heraus. Dort kollidierten seit Jahren ein “modern-linker” Flügel und ein “traditionell-linker” Flügel. Ersterer lehnt sich stark in grüne Klima- und Umweltthemen sowie progressive Identitätspolitik hinein; ist migrations- und tendenziell EU-freundlich; und behält zwar reichlich Skepsis gegenüber den USA und der NATO, doch lehnt zugleich die russische Invasion der Ukraine scharf ab. Der “traditionelle” Flügel fremdelte mit der Klimapolitik und der modernen Identitätspolitik sowie dem Paternalismus, welcher im Verbund mit diesen wahrgenommen wurde. Wirtschaftspopulismus bis hin zum Klassenkampf spielt eine große Rolle, was zwar nicht ganz unähnlich zum “modernen” Flügel ist, doch auch die Migration in den Verteilungskampfgedanken einbezieht und somit ablehnt. Und der deutlich stärkere “Antiimperialismus” gegen USA, NATO, EU und den “Westen” allgemein drückt sich in einer ausgesprochenen Freundlichkeit gegenüber Russland aus. Der “moderne” Flügel kontrollierte zwar die Parteiführung bei den Linken, doch der “traditionelle” Flügel besaß offenkundig ein höheres Wählerpotenzial: Die “entschlackte” Linke kommt nur auf rund 3 Prozent in bundesweiten Umfragen und kollabierte in allen drei Landtagswahlen im September 2024.
Die Wagenknecht hinter dem Bündnis
Ein weiterer Vorteil ist die Personalie Sahra Wagenknecht. Sie besitzt nationale Bekanntheit, nicht zuletzt, weil die charismatische Politikerin viele Jahre eine der beliebtesten Talkshowgäste war (auch wenn ihre Frequenz in den Covid-Jahren stark abgenommen hatte). Wagenknecht wuchs in der DDR auf, trat noch 1989 in die SED ein und nannte den Zusammenbruch der DDR eine “Konterrevolution“. Dass sie sich als Kommunistin bezeichnete, überrascht kaum; sie nahm aber sogar das Label der Stalinistin an und lobte den sowjetischen Diktator häufig. So auch die DDR, welche das “menschenfreundlichste Gemeinwesen” in der deutschen Geschichte gewesen sei. Etwa ab den 2010ern begann sie, sich umzuerfinden: Von Sozialismus und Stalin war nur noch selten die Rede, stattdessen vertrat sie klassische Linksaußenpositionen innerhalb der Ideenwelt einer sozialen Marktwirtschaft.
Dabei ist das BSW nicht der erste Anlauf von Wagenknecht, Eigenständigkeit zu erlangen und die “Linksliberalen”, wie sie das andere Lager bei den Linken nannte, loszuwerden. Ihre Bewegung “Aufstehen“, 2018 gegründet, scheiterte binnen einiger Monate. Wagenknecht war eine bessere Rhetorikerin und Populistin als Organisatorin. Das Scheitern schien auf sie Eindruck zu machen; sie zog sich danach von Ämtern der Linken und auch in auffälligem Maße aus den Talkshows zurück. Selbst das extreme Mobilisierungspotenzial der Covid-Phase nutzte sie nicht.
Der “Stammbaum” der linken Parteien in Deutschland. Quelle: “Bündnis Sahra Wagenknecht” (en), wikimedia
Linkskonservativ, Linksnational, populistisch?
So wie wir die Gründung von Volt in den Kontext ihrer Zeit setzten, so erklärt das auch beim BSW viel darüber, worum es der Partei geht und warum sie erfolgreich ist. Auf die Flüchtlingskrise 2015-17 folgte nun eine zweite heftige Fluchtbewegung seit 2022. Die Covid-Jahre hatten in Teilen der Bevölkerung das Vertrauen in staatliche Institutionen massiv beschädigt. Die russische Invasion der Ukraine und die westliche Unterstützung der Verteidiger schufen Sorgen über eine Kriegsverwicklung; dazu kommt bei einigen Deutschen einfach eine Präferenz für das autoritär-traditionelle russische Gesellschafts- und Politikmodell gegenüber dem liberaleren westlichen Modell. Die Energie- und Inflationskrisen machten klassisch-linke Wirtschaftsthemen wieder akuter, auch auf Kosten der Klimapolitik, welche von den existierenden linken Parteien kräftig besetzt war. Parallel blick(t)en viele Deutsche mit Unverständnis auf neue linke Themen der Identitätspolitik, von normativ aufgeladenen Sprachformeln über Diversität als Priorität bis hin zu einem Fokus auf die Antidiskriminierung bestimmter Gruppen.
Wagenknecht und ihr BSW bieten damit eine Partei, welche stramm linke Wirtschaftspolitik mit Gesellschaftskonservatismus verbindet. Höherer Mindestlohn, mehr Alterssicherung, keine Zeit für “Gendergaga”, wenig Lust auf Klimapolitik und sehr kritisch gegenüber Migranten, da diese vornehmlich der prekären Arbeitsklasse schaden würden. Um diese Beispiele zu unterstreichen: Im vierseitigen Parteiprogramm (PDF) taucht das Wort “Migration” nur einmal auf: Sie sei “nicht die Lösung für das Problem der Armut auf unserer Welt”. Interkulturelles Miteinander “kann eine Bereicherung sein”, aber nur, solange der Zuzug begrenzt und “Konkurrenz” um Ressourcen vermieden werde (im 20-seitigen Programm zur Europawahl wird öfter über Migration gesprochen, aber ziemlich genau entlang der obigen Linie). Weiterhin kritisiert das Programm: Die Politik schreibe den Bürgern auf “autoritäre” Art und Weise vor, wie sie “zu leben, zu heizen, zu denken und zu sprechen” hätten. Die Klimapolitik sei zwar wichtig, doch in aktueller Form unehrlich: Nur erneuerbare Energien könnten die deutsche Energieversorgung nicht sicherstellen, “blinder Aktivismus” gefährde die wirtschaftliche Substanz und es brauche die “Entwicklung innovativer Schlüsseltechnologien”. Jeder dieser Punkte ließe sich, von gewissen Formulierungen abgesehen, auch in einem CDU-Programm antreffen.
Präferenz Russland
Ganz anders bei der Außenpolitik. Das BSW sieht sich als “Friedenspartei”, was es als Russlandnähe und NATO-Kritik interpretiert. Deutschland solle seine militärisch-materielle Unterstützung der Ukraine umgehend einstellen, damit der Ukrainekrieg durch “Diplomatie und Interessenausgleich” gelöst werden könne – eine Worthülse, welche die Partei nicht konkretisiert. Eine weitere lautet, dass der Krieg “schnellstens mit einem Waffenstillstand und der Aufnahme konstruktiver Friedensverhandlungen beendet” werden solle. Warum die westlichen Hilfen und nicht etwa die diffusen, kommunikativ häufig gewechselten Kriegsziele Moskaus dafür die größere Hürde darstellen, erklärt die Partei nicht. Interessant ist, dass sie Russland den “sofortigen Stopp” von Ukrainehilfen “anbieten” will, um es an den Verhandlungstisch zu locken; die Ukraine hingegen dazu zwingen möchte, indem sie Finanzhilfen an die Aufnahme von Verhandlungen knüpfen würde (“Vorbedingung”).
Gut zu wissen: Ironischerweise wertet das BSW seine Außenpolitik in der “Tradition […] des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow”, obwohl dieser vor seinem Tod 2022 offenbar schockiert und angewidert auf den Angriffskrieg seines Landes gegen die Ukraine blickte.
Die Russlandnähe des BSW ist auffällig und nicht allzu subtil. Sie ringt sich nicht einmal für eine klare Kritik an Moskau für den Ukrainekrieg durch: Dieser sei “militärisch von Russland begonnen” worden, was sich längst nicht als Schuldzuweisung lesen muss, vor allem, wenn die Partei direkt darauf einwendet: “aber er wäre vom Westen verhinderbar gewesen und hätte längst beendet werden können”. Russlands Invasion wird implizit mit “Bedrohungsgefühlen” und “Abwehrreaktionen” begründet, welche die NATO geschürt habe. In einer fragwürdigen Interpretation der jüngeren Vergangenheit beklagt das BSW, dass die russisch-sprachige Minderheit in der Ukraine vor 2022 “massiv diskriminiert” worden sei, was der Kommunikation des Kremls entspricht. Den intensivierten Autoritarismus in Russland, wo jegliche Opposition, unabhängige Presse und Zivilgesellschaft seit 2022 effektiv zerschlagen worden ist, kritisiert das BSW nicht, dafür aber ausdrücklich jenen in Deutschland, welcher sich anmaße, “Menschen zu erziehen und ihren Lebensstil oder ihre Sprache zu reglementieren”.
Die Sanktionen gegen Russland nennt das BSW einen Fehler, welcher den Ukrainekrieg nicht beende, dafür aber Deutschland schade. Sie sollten komplett abgeschafft und Gas und Öl wieder aus Russland importiert werden. Moskau müsse in eine “stabile Sicherheitsarchitektur” Europas eingebunden werden. Diese Position ist seit 2022 in Europa äußerst exotisch, auch wenn sie vorher etwa von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron vertreten worden war. Das BSW macht keinen Hehl daraus, dass es Europa in einem geostrategischen Machtkampf zwischen den USA und einem chinesisch-russischen Block sieht, und es Nähe zu Moskau gegenüber jener zu Washington bevorzugt. Europa ordne sich derzeit den Interessen der USA unter und gerate zu deren “digitaler Kolonie”, so die Partei scharf.
Die Alternative zur Alternative
Mit seinem bislang so einzigartigen Mix aus Positionen spricht das BSW eine große Zahl an Deutschen an. Die Erfolge der Partei führten wir ja bereits eingangs auf. Ihr kommt besonders zugute, dass sie eine Alternative zu der für viele Wähler doch vergifteten AfD bietet, mit deren populistischen Stil und vielen grundlegenden Positionen: Sei es die Russlandnähe, die Migrationsfeindlichkeit, die Klimaskepsis, die Kritik an nicht immer näher genannten “Eliten” oder die Einschätzung, dass Deutschland in keiner guten Verfassung sei – genau mit diesen Worten beginnt immerhin das Parteiprogramm.
Zugleich ist das BSW keine exakte Kopie der AfD. Die AfD hadert noch stärker mit den staatlichen und demokratischen Institutionen; verfolgt eine diffuse, doch im Vergleich zum BSW weniger auf Staatsinterventionen und soziale Gerechtigkeit basierende Wirtschaftspolitik; begibt sich stärker in Ressentiments gegenüber konkreten Bevölkerungsgruppen; und ist skandalbehaftet sowie intern zerstritten, mit einem starken rechtsextremen Flügel. Das macht das BSW nicht nur für manche AfD-Wähler interessant, sondern auch für solche, welche mit der Marke AfD haderten, aber Stil und Positionen (latent) attraktiv fanden.
Gut zu wissen: Wie finanziert sich das BSW? Über einen gleichnamigen Verein sammelte das BSW bereits 2023, also vor der Parteigründung, Spenden in Höhe von 1,6 Millionen EUR ein, darunter von sechs Großspendern. Zwei davon sind der IT-Millionär Ralph Suikat, welcher als Schatzmeister des BSW fungiert und für linke Wirtschaftspositionen bekannt ist, und der Elektronikunternehmer Thomas Stanger, welcher später mit 4 Millionen EUR eine der größten Parteispenden aller Zeiten in Deutschland leistete. Ihn überzeugte offenbar vor allem die Haltung des BSW zum Ukrainekrieg. Die übrigen vier Großspender sind bislang unbekannt.
An der Struktur mit einem Pseudo-Verein, welcher im Grunde als Fundraisingprojekt für die Partei fungierte, erwächst Kritik; Politiker anderer Parteien rufen etwa die Bundestagsverwaltung auf, aktiv zu werden. Diese prüft noch, erklärte aber vorläufig, dass es “Anhaltspunkte” gäbe, dass Transparenzanforderungen des Parteiengesetzes umgangen werden sollten.
Auch die BSW-Hausbank Volksbank Pirna ist kontrovers, da sie Geschäfte mit der linksradikalen MLPD, mit der rechten Pegida-Bewegung, dem Umfeld des Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen und mit Firmen aus dem russischen Propagandanetzwerk RT betreibe. Der Chef der Volksbank Pirna vertritt im Ukrainekrieg und in der Russlandpolitik eine sehr ähnliche Einstellung zum BSW.
Wie es weiter geht
Steht dem BSW also eine glorreiche Zukunft bevor? Schwierig zu sagen. Die Partei vermied das schnelle Scheitern, welches Wagenknechts “Aufstehen” erlitt, doch mit genügend Zeit sind Flügel- und Richtungskämpfe vorprogrammiert. Wie sich diese äußern und wie die Partei sie handhabt, wird entscheidend werden. Dazu ließe sich ähnlich wie bei Volt das Argument machen, dass das BSW bereits nahe an seinem Wählerpotenzial sein könnte: Linke Alternativen sind derzeit so schwach wie noch nie. Ob das BSW hier noch stärker hinzugewinnen kann, ist fraglich. Dazu wird das Thema Lebenshaltungskosten mit steigenden Reallöhnen an Bedeutung verlieren und die Migrationspolitik wird von sämtlichen Parteien, insbesondere aber der Union stärker bespielt (und könnte ebenfalls ihren Bedeutungshöhepunkt erreicht haben). Doch selbst wenn das BSW mittelfristig bei seinen heutigen 7 bis 10 Prozent bundesweit bliebe, wäre es kräftig etabliert.
Das BSW hat darüber hinaus einen Trumpf in der Hand: In den ostdeutschen Ländern wird es vermutlich eine Chance bekommen, in der Regierung zu sein. Das ist ein Hochrisikoakt. Eine so junge Partei mit vermutlich unausgereiften Strukturen könnte in der Regierungsverantwortung noch schwerer mit Machtkämpfen und Strukturbildung zu ringen haben. Und sie könnte sich bloßstellen, wahlweise als inkompetent oder als destruktiv. Andersherum könnte sie sich als regierungsfähige Option beweisen, was ihr gegenüber der ungetesteten, chaotisch wirkenden AfD einen weiteren Vorteil verpassen würde.
Die Partei nutzt ihren Moment der Stärke jedenfalls bereits, um ihre wichtigste Priorität durchzusetzen. Eine Koalition in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg gäbe es mit ihr nur, so Wagenknecht, wenn sich die Landesregierung ausdrücklich gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland positioniere. Das hat zwar sehr wenig mit der Landespolitik zu tun, doch Wagenknecht und das BSW denken offenbar bereits deutlich weiter.
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