Was Frankreichs Populisten planen

Die Pläne der Linken und Rechten für das Land, mit einem Fokus auf die Wirtschaft
30. Juni 2024

Macrons Wahlmanöver | Das Linksbündnis | Die Rechtsaußen

(12 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Frankreich wählt heute in einer kurzfristig von Präsident Macron angesetzten Neuwahl.
  • Der rechte Rassemblement National (RN) dürfte stärkste Partei werden, doch ein Linksblock (NFP) besitzt ebenfalls Chancen. Eine absolute Mehrheit wirkt unwahrscheinlich. Macrons Parteienbündnis ist abgeschlagen auf Platz 3.
  • Macrons Neuwahl-Manöver war damit ausgesprochen riskant. Womöglich hoffte er auf eine vorteilhafte Dynamik, will den RN “entzaubern” oder wollte einfach absehbaren Krisen im weiteren Jahresverlauf zuvorkommen.
  • Sowohl die NFP als auch der RN haben weitreichende Pläne, gerade in der Wirtschaft. Die NFP hat detaillierte, doch teils radikale und riskante Vorschläge vorgelegt; der RN verspricht viel, doch bleibt extrem vage.
  • Beim RN kommen Pläne für eine kräftige Abänderung des gesellschaftlichen Vertrags hinzu, entlang Dimensionen wie Migration, “Französischsein” und Autorität.
  • Kritiker der NFP stören sich neben den Wirtschaftsplänen besonders an Bündnischef Jean-Luc Mélenchon mit dessen NATO- und EU-kritischen Haltung, Sympathien für Autokratien und viel Machtbewusstsein – was selbst Bündnispartner verunsichert.
  • Beim RN vertrauen derweil längst nicht alle Beobachter der starken Mäßigung der Partei in den letzten Jahren. Sie trägt ihre früheren pro-russischen, xenophoben und EU-feindlichen Positionen nicht mehr offen aus, doch die Hälfte des Landes sieht sie weiterhin als “Gefahr für die Demokratie“.

Macrons Wahlmanöver_

(3,5 Minuten Lesezeit)

Das Experiment wagen

Emmanuel Macron ist kein Präsident für halbe SachenIl faut prendre son risque, sage er gerne, “man muss Risiken eingehen”. Mit einer neuen Drittpartei 2017 gegen das Establishment aus Konservativen und Sozialisten anzutreten, das war ein Risiko. Die Gelbwestenproteste 2018/19 auszusitzen. Die Rentenreform 2023 zu forcieren, teils am Parlament vorbei. Das womöglich größte Risiko seiner Karriere ging Macron aber nach der Europawahl im Juni 2024 ein: Er löste das Parlament auf und setzte Neuwahlen an. Sie beginnen heute, am 30. Juni, mit einer zweiten Wahlrunde am 7. Juli.

Die Wahl dürfte vom rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) gewonnen werden. Er liegt derzeit bei 35 Prozent Zustimmung in Wahlumfragen, Tendenz steigend. Hinter ihm folgt mit 28 Prozent ein dezent instabiles Linksbündnis namens Nouveau Front populaire (NFP), auf deutsch “Neue Volksfront”, an dessen Spitze die linkspopulistische La France Insoumise (LFI) steht. Der Name ist angelehnt an die Volksfront, ein Linksbündnis aus den 1930ern, welches 1936 kurz Regierungsverantwortung in Frankreich hielt.

Erst mit reichlich Abstand, nämlich mit 20 Prozent, findet sich “Ensemble”, das Wahlbündnis der liberalen und zentristischen Parteien um Emmanuel Macron und seine (häufig umbenannte) Renaissance (RE). Die einst so stolzen Konservativen laufen mit 7 Prozent unter “ferner liefen”; die nicht minder stolzen Sozialisten haben sich der LFI in der Neuen Volksfront untergeordnet. Frankreich wird nach links und rechts gerissen. Eine Rechtsregierung ist dabei nicht völlig selbstverständlich: Der RN könnte die absolute Mehrheit verfehlen, womit eine noch paralysiertere Minderheitsregierung und ein noch dysfunktionaleres Parlament bevorstünden. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass die NFP doch noch stärkste Kraft wird.

Was Frankreich wählt

Konkret wird Frankreich die 577 Abgeordneten der Nationalversammlung wählen. Dafür setzt es in seinen ebenso 577 Wahlbezirken ein zweistufiges Mehrheitswahlrecht ein: Gewinnt ein Kandidat die erste Runde mit über 50 Prozent der Stimmen (und bilden diese mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten), siegt er sofort. Andernfalls zieht er mit dem Zweitplatzierten in die Stichwahl. Auch sämtliche Kandidaten, welche mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten auf sich vereinen, ziehen in die zweite Runde ein. Dort genügt dann eine einfache Mehrheit. Ungewöhnlicherweise könnte es dieses Jahr viele Zweitrunden mit drei Kandidaten geben: Das Umfrageinstitut Ipsos prognostiziert 250 “triangulaires“, nach lediglich 8 im Jahr 2022 und einem Durchschnitt von 25 in allen Wahlen seit 1988. Die Dreier-Zweitrunden kommen dem Rassemblement National zugute: Wenn sowohl ein Links- als auch Zentristenkandidat in der Stichwahl antreten, ist eine “Brandmauer” gegen den RN ineffektiv.

Siegt der RN, würde er die aktuelle Minderheitsregierung unter Macrons Renaissance ersetzen, welche 2022 aus einem polarisierten Parlament hervorging. Premier würde anstelle des erst 35-jährigen Gabriel Attal der noch jüngere, 28-jährige RN-Parteichef Jordan Bardella werden. Zum ersten Mal seit 1958 hätten der Präsident (Macron) und seine Regierung (Bardella) eine derartige ideologische Distanz. Sie würden “kohabitieren”, also sich die Macht teilen. Wenn Macron unter seiner Minderheitsregierung bereits Schwierigkeiten hatte, seine Agenda durchzusetzen, so wäre es in der Kohabitation geradezu unmöglich.

Warum das Risiko?

Macrons Gründe für die Neuwahl könnten mehrere sein. Womöglich hatte er gehofft, dass der Schock nach dem RN-Wahlerfolg in der Europawahl (mit 33 Prozent stärkste Partei) die Wahlbeteiligung zu Ungunsten der Rechtspopulisten steigern würde. Oder er möchte den bislang ungetesteten RN mittels einer Regierungsbeteiligung bis zur Präsidentschaftswahl 2027 bloßstellen, um eine Präsidentin Marine Le Pen zu verhindern. Viele Franzosen sind längst unzufrieden mit den etablierten Parteien; das Gefühl, “alles schon einmal probiert zu haben”, dürfte die Stärke des RN in durchaus hohem Maße erklären.

Oder Macron folgt einfach seinem institutionellen Herz: Die Europawahl ließ sich durchaus als Misstrauensvotum der Bevölkerung an der Regierung und dem seit 2022 sehr chaotischen Parlament verstehen. Warum das Volk also nicht in einer Neuwahl entscheiden lassen? Es sei eine mutige, “gaullistische” Entscheidung, so einige Macron-Unterstützer, mit Bezug auf die Werte des Republikgründers Charles de Gaulle.

Zu guter Letzt ein pragmatischerer Grund: Insbesondere die Linken hatten im Parlament für reichlich Chaos gesorgt und, oft zusammen mit den Rechten, Druck auf die Regierung ausgeübt. Sie drohten Macrons Regierung mit einem Misstrauensvotum, um einen relativ sparsamen Haushalt zu kippen, welcher in den kommenden Monaten erstellt werden musste. Einige Macron-Verbündete erwarteten gar Straßenproteste. Mit seinem Manöver könnte er der Opposition zuvorgekommen sein und wirkt nun immerhin nicht wie ein Getriebener.

Was auch immer die Motivation sein mag: Entweder der rechte RN oder die linke NFP wird stärkste Kraft werden. Wofür stehen sie?

Das Linksbündnis_

(4,5 Minuten Lesezeit)

Eine völlig neue Wirtschaft

Die “Neue Volksfront” wird vom Parteichef der linkspopulistischen LFI angeführt: Jean-Luc Mélenchon. Er bringt sich auch als Premierminister-Kandidat in Stellung. Das Programm der NFP fokussiert sich auf geradezu klassische linke Wirtschaftsthemen:

  • Der Mindestlohn soll um 14 Prozent auf 1.600 EUR im Monat steigen. In Deutschland sind es 2.151 EUR, wobei es vor dem großen Sprung durch die Ampelregierung 2022 noch 1.803 EUR waren.
  • Beamte sollen 10 Prozent mehr Lohn erhalten und die Zahl der Beamten gesteigert werden.
  • Sie will mehr Sozialleistungen einführen, etwa für Mieter.
  • Auf Nahrungsmittel, Strom, Gas und Treibstoff sollen Preisdeckel verhängt werden.
  • Macrons Rentenreform soll umgekehrt und das Eintrittsalter wieder von 64 auf 62 Jahre herabgesenkt werden, perspektivisch auf 60 Jahre. Die Renten sollen an die Inflation gekoppelt werden.
  • Höhere Steuern auf nicht genauer definierte “Superprofite” von Unternehmen und die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer sollen die Pläne finanzieren.
  • Außerdem wird das Einkommenssteuersystem mit 14 anstelle von 5 Stufen granularer gemacht und für Einkommen oberhalb 4.000 EUR monatlich erhöht; in der höchsten Klasse (welche womöglich bei rund 412.000 EUR liegt) wären es 90 Prozent Steuerrate
  • Die Sozialabgaben werden progressiv erhoben und eine Maximalerbschaft eingeführt.
  • Die Wasserversorgung soll vollständig verstaatlicht werden.

Diese Vorschläge sind in ihrer Gesamtheit weitreichende Experimente in Umverteilung. Preisdeckel können kolossal scheitern, indem sie Mangelangebot kreieren, wie etwa Lateinamerika mehrfach bewiesen hat; sie belasten die Staatskasse (mit 24 Milliarden EUR jährlich, so das Institut Montaigne) und lassen sich politisch in der Zukunft kaum umkehren. Einige könnten nicht konform mit EU-Recht sein. Der frühere Renteneinstieg trifft ebenfalls den Haushalt, ist eine Generationenumverteilung zugunsten der Alten und vertieft den Arbeitskraftmangel. Die kräftige Mindestlohnerhöhung ist im Vergleich fast schon harmlos und kommt Arbeitern zugute, doch wird Druck auf die Firmen ausüben – ausgerechnet zu einer Zeit, in welcher Frankreich erstmals seit Jahrzehnten als wirtschaftlich recht dynamisch gilt. Das weiß das Bündnis durchaus: “Für viele Unternehmen wird es ein Schock”, so der LFI-Abgeordnete Eric Coquerel.

Und die Finanzierungspläne? Höhere Einkommens- und Gewinnsteuern bringen zwar Geld ein, doch haben negative Auswirkungen auf Konsum, Angebot und Arbeitsmarkt. Hier kommt es auf die Höhe und Ausgestaltung der Steuern an. Eine 90-Prozent-Spitzensteuer wird allerdings mit hoher Sicherheit die Standortattraktivität für Spitzenmanager, einkommensstarke Branchen und Unternehmer schwächen. Vermögenssteuern waren historisch nicht einmal immer ihren bürokratischen Aufwand wert, schließlich ist es teuer, den Vermögenswert zu bestimmen und das mobile Kapital kann im Zweifel schnell das Land verlassen, womit die Umsätze überschaubar bleiben (ausgerechnet Hauseigentümer, Rentner und Familienunternehmen lassen sich am besten besteuern). Von Europas zwölf Vermögenssteuern im Jahr 1990 gibt es heute nur noch drei; Frankreich selbst gab seine nach Vermögenssteuer 2012 auf, nachdem sie dem Staat netto Kosten verursacht hatte – auch, da so viele Millionäre das Land verließen. Die Maximalerbschaft wäre derweil ein neuartiger Eingriff in den gesellschaftlichen “Vertrag” Frankreichs, welchen einige Beobachter äußerst fair, andere anmaßend unfair finden werden.

Das Bündnis hofft außerdem auf mehr Wirtschaftswachstum, welches für die Pläne mitzahlen soll. Die Prognosen sind dabei äußerst ambitioniert: 3 Prozent BIP-Wachstum im Jahr 2025 und 2026 wäre knapp doppelt so viel, wie andere Analysten bislang erwarten, und mehr als dreimal so viel wie 2023. Die hohen Staatsausgaben würden der Wirtschaft zwar sicherlich einen Schub verpassen, doch die Belastung der Angebotsseite – sprich, Unternehmen – und höhere Besteuerung lassen ein derart starkes Wachstum unrealistisch wirken.

Abseits der Wirtschaft

Darüber hinaus hat die NFP eine Reihe von Plänen, welche relativ typisch für eine progressive, linke europäische Partei sind, gepaart mit ungewohnt viel Kollisionskurs mit der EU, um die eigenen Ausgabenpläne durchsetzen zu können:

  • die Migrationspolitik deutlich lockern, “Klimaflüchtlinge” als Kategorie einführen und Seenotrettungen unterstützen
  • Europaweit eine strengere Klimapolitik verfolgen (wobei sich ihre Vorschläge nah an bereits existierenden EU-Initiativen bewegen) und stärker in erneuerbare Energien investieren
  • Die Ukraine mit “notwendigen Waffen” unterstützen sowie ihre Auslandsschulden vergeben.
  • Den EU-Stabilitätspakt aufkündigen, Freihandelsabkommen aufkündigen und EU-Schuldenregeln nicht mehr einhalten.

Der kontroverse Mélenchon

Das Linksbündnis hat selbst für viele eher linke Beobachter allerdings einen Schönheitsfehler, ausgerechnet in Form ihres Anführers. Mélenchon lässt insbesondere das Bekenntnis der NFP zur Ukraine und den Pragmatismus gegenüber der NATO zweifelhaft erscheinen: Er erklärte vor der russischen Invasion 2022, dass die USA die Ukraine in die NATO “annektieren” wollten und die NATO der Aggressor sei. Putin sei dagegen ein “Patriot”, welcher russische Interessen “legitim” verteidige. Das war kaum überraschend, schließlich lehnt der Linkspopulist die NATO seit Jahrzehnten als imperialistisches Projekt und Verletzung der französischen nationalen Souveränität ab (was lange auch die Linie des rechten RN war). Heute kritisiert er zwar Russlands Invasion, doch fordert noch immer einen NATO-Austritt, nur “nicht umgehend”.

Zu Russland und anderen autoritären Staaten wie Venezuela bewies Mélenchon früher regelmäßig Sympathien. Er lobte ausdrücklich die Besatzung der Krim, schien Russlands Vorgehen in Syrien zu unterstützen und nannte Kritik an Russland “amerikanische Propaganda”. Die Galionsfigur der französischen Linken ähnelt damit weniger einem Bernie Sanders als einer Sahra Wagenknecht. Französische Juden irritiert Mélenchon damit, dass er sich weigert, die Hamas als Terrororganisation zu bezeichnen. Deutsche wundern sich womöglich über sein Buch “Das Deutsche Gift” aus dem Jahr 2015, in welchem er der Bundesrepublik “Expansionismus” und “Imperialismus” vorwarf. Sie habe die DDR 1990 “annektiert” und “deportiere” ihre alten Menschen nach Thailand und Osteuropa. Ein Amazon-Rezensent nennt Mélenchon einen mutigen Europäer, welcher sich traue, die “EU-Oligarchie” zu entlarven.

Mit keiner dieser Positionen ist Mélenchon in seiner LFI isoliert, wie sich fast von selbst versteht. Beispiel Nahostkrieg: Da Raphaël Glucksmann, ein Politiker der Sozialisten und väterlicherseits Jude, die Hamas ausdrücklich als “terroristisch” bezeichnet, wird er in der LFI mitunter als “der Zionisten-Kandidat” bezeichnet

Leiser Machtkampf

Nun sind Mélenchon und seine Linkspopulisten im Bündnis nicht alleine. Doch sie nehmen eindeutig die zentrale Rolle ein, vor Grünen und Sozialisten, welche Juniorpartner bilden. Erst vor einigen Wochen verärgerte Mélenchon mit dem Rauswurf einer Reihe moderater Abgeordneter von den Wahllisten, was interne Kritiker als “Säuberung” bezeichneten. Interessanterweise erlaubt das eine Parallele zur Volksfront aus den 1930ern: Sie zerstritt sich binnen eines Jahres und vertrieb die gemäßigteren Parteien; nur ein Jahr später zerfiel sie.

Einige Beobachter spekulieren, ob das Machtgleichgewicht in der NFP doch noch kippen könnte. Die Rückkehr des sozialdemokratischen Ex-Präsidenten François Hollande auf die politische Bühne war einigen dafür ein Indiz. Womöglich könnte es eine Art Große Koalition aus NFP und Macrons Ensemble geben, um die Rechten von der Regierung fernzuhalten und zugleich den Moderaten im Linksbündnis mehr Einfluss zu verschaffen, so eine Theorie. Sie wirkt derzeit eher unwahrscheinlich: Zu riskant wäre es für Macron, sich an die Neue Volksfront als Partner zu binden; und zu machtbewusst ist Mélenchon, um seine LFI abdrängen zu lassen. “Konsens ist nicht mein Ziel”, erklärte er, als er zur Möglichkeit einer Einheitsregierung befragt wurde, “[Konsens] ist nicht einmal eine demokratische Idee”.

Die Rechtsaußen_

(4,5 Minuten Lesezeit)

Jordan Bardella. Quelle: European Parliament, wikimedia

Der Marsch zur Mitte

Der Rassemblement National war früher der Front National (FN) und eine kaum verhohlen antisemitische, xenophobe, geschichtsrevisionistische und EU-feindliche Partei. Unter Marine Le Pen, der Tochter des Parteigründers, mäßigte der FN sich seit 2011 schrittweise und benannte sich 2018 zum RN um. Er forderte keinen EU- und Euro-Austritt mehr, sondern wollte den Block von innen reformieren; auch ein Teilaustritt aus der NATO (genauer ihrer Militärstruktur) steht nicht mehr auf dem Plan. Er verlangt nicht mehr die Todesstrafe, will keine Abschiebung legaler (!) Migranten mehr und Le Pen kritisiert zwar islamischen Fundamentalismus, aber relativ selten den Islam als solchen. Klima sei “keine Priorität” der Partei, doch aus dem Pariser Klimaabkommen würde sie sich nicht zurückziehen. Die freundliche Rhetorik zu Wladimir Putin wurde etwas zurückgeschraubt; eher Distanz gesucht. Die Invasion der Ukraine verurteilte Le Pen.

Heute wirkt der RN damit wie eine zweiteilige Partei: Ein “moderner” Flügel steht für Positionen, welche sich als nationalkonservativ beschreiben ließen: Pragmatisch gegenüber EU und NATO, immigrationsskeptisch, aber nicht per se xenophob, und wirtschaftspopulistisch. Der andere Flügel bleibt zutiefst EU- und NATO-feindlich, prorussisch und vertritt radikale Positionen in der Gesellschafts- und Migrationspolitik. Die Mehrdeutigkeit der Partei und die Unsicherheit über die Authentizität ihrer teilweisen Mäßigung zeigt sich auch in der Meinung der Franzosen: 46 Prozent werteten Marine Le Pen 2022 als “patriotische Rechte, welche für traditionelle Werte einsteht”; 50 Prozent als “Gefahr für die Demokratie”. Womöglich machte sie deswegen 2022 Platz für Jordan Bardella als Parteichef und bleibt als einflussreiche Figur – und intuitive Präsidentschaftskandidatin 2027 – im Hintergrund.

Gut zu wissen: Die Spitze des RN wird manchmal als “Clan” beschrieben. Bardella scheint mit der Tochter seines politischen Ziehvaters Philippe Olivier liiert zu sein. Olivier ist wiederum mit Marine Le Pens älterer Schwester Marie-Caroline verheiratet und gilt als graue Eminenz der Partei.

Bloß nicht zu konkret werden

Vor der Wahl versucht Bardella, sich klar als Vertreter des gemäßigten Flügels zu positionieren. Er will “vernünftig haushalten” und “verantwortungsvoll regieren”; zitiert gelegentlich Republikgründer Charles de Gaulle. In der EU wolle er Frankreichs Interessen verteidigen, aber hat “keine Intention, gegen Brüssel in den Krieg zu ziehen” und respektiere das Verhältnis zu Deutschland. Dennoch besteht das RN-Programm aus einer radikalen Umstrukturierung des Verhältnisses zur EU, vielen wirtschaftlichen Wohltaten, deren Finanzierung die Partei nicht erklären möcht, und einigen scharfen Eingriffen in den französischen Gesellschaftsvertrag. Der RN will…

  • Frankreichs Beiträge in den EU-Haushalt um 2 bis 3 Milliarden EUR reduzieren (aktueller Bruttobeitrag: 21,6 Milliarden EUR) und die Umsetzung von EU-Richtlinien “pausieren”.
  • Neue EU-Freihandelsabkommen blockieren, was wohl auch das Südamerika-Abkommen Mercosur beträfe.
  • Keine neuen Steuern einführen. Stattdessen soll die Mehrwertsteuer auf Treibstoff, Öl und Gas von 20 auf 5,5 Prozent sinken; Steuern für unter-30-Jährige sinken ebenso. 
  • Auf Strom eine Preisbremse verhängen, welche also nicht Preise, aber Preisanstiege deckelt.
  • Bestimmte Industrien verstaatlichen, nur ohne zu nennen, welche.
  • Die Rente auf 60 Jahre herabsenken, allerdings nur in bestimmten Fällen; eine große Umkehr der Macronschen Rentenreform “verschiebt” er.
  • Finanzieren sollen das die genannten Beitragskürzungen an die EU, weniger Steuervorteile für Reedereien und höhere Steuern auf Energiefirmen. Das wirkt allerdings bei Weitem nicht hinreichend und mangels konkreter Zahlen lassen sich die Ausgabenpläne des RN nicht überprüfen.

Das Programm des RN besteht damit aus relativ vagen Wirtschaftsvorschlägen mit quasi inexistenten Finanzierungsansätzen. Allein die Senkung der Mehrwertsteuer dürfte 13,6 Milliarden EUR pro Jahr kosten, so das Institut Montaigne und der Rentenplan 17 Milliarden EUR pro Jahr, so Allianz. Insgesamt scheinen die Ausgabenpläne des RN in Richtung 75 Milliarden EUR zu laufen. Dagegen wirkt die angekündigte EU-Beitragskürzung, welche einen tiefen Streit mit Brüssel bedeuten würden, fast trivial. Ausgerechnet in der Wirtschaftspolitik erhält der RN allerdings so viel Vertrauen wie kein anderes Parteienbündnis – wenn auch nur von einem Viertel der Franzosen.

Den gesellschaftlichen Vertrag umschreiben

Und abseits der Wirtschaft verspricht der RN…

  • Eine strengere Migrationspolitik mit mehr Abschiebungen, Grenzkontrollen und weniger Sozialleistungen für Migranten.
  • Ein Ende des Geburtsortsprinzips, wonach eine Geburt in Frankreich die Staatsbürgerschaft bedeutet – dieses besteht ununterbrochen seit 1515.
  • Doppelstaatsbürger sollen von einigen Beamtenberufen ausgeschlossen werden.
  • An Schulen soll ein Handyverbot, eine Siezpflicht gegenüber Lehrern und eine Schuluniformpflicht gelten.
  • Für den “Kampf gegen Islamismus” sollen Moscheen schneller geschlossen und Imame abgeschoben werden dürfen; bestimmte Kleidung würde verboten.
  • Die Ukraine soll nicht der EU und NATO beitreten, auch wenn der RN sie im Verteidigungskrieg unterstützen will – wie genau, lässt er unbeantwortet.

Außenpolitisch ist die Mäßigung des RN in den letzten Jahren zwar signifikant, doch seine grundlegenden Instinkte bleiben ein scharfer Bruch mit der aktuellen Mehrheitslinie in der EU. Die Partei hat zahlreiche personelle und finanzielle Verbindungen nach Russland, auch wenn sie einen millionenschweren Kredit einer Kreml-nahen Bank inzwischen zurückgezahlt hat. Sie entsandte “Wahlbeobachter” zur jüngsten Präsidentschaftswahl in Russland. Le Pen verteidigte noch im vergangenen Jahr das Pseudo-Referendum, welches Russland nach der Besatzung der Krim 2014 durchführen ließ. Eine RN-Regierung dürfte zwar nicht unmittelbar aus der westlichen Ukraine- und Russlandlinie ausscheren, doch wäre ein permanenter Unsicherheitsfaktor.

Für die meisten Franzosen dürfte aber die Gesellschaftspolitik des RN am schwersten wiegen: Weitaus stärker als die Linken möchte die Partei in den gesellschaftlichen Vertrag eingreifen, sei es mit Benimmregeln an Schulen, mit Regeln für Migranten oder mit einem Ende des 500 Jahre alten Geburtsortsprinzips. Sie nimmt in ihrer Rhetorik eine implizite Unterscheidung zwischen “echten” Franzosen und Franzosen ausländischer Herkunft vor, welche bislang weder in der politischen DNA noch in der Verfassung des Landes existiert. Und, zu guter Letzt, fragen sich viele Franzosen, ob der RN die Institutionen des Landes – Medien, Justiz, Wahlbehörden, etc. – respektieren oder Einflussnahme versuchen würde.

Ein Fazit_

(2 Minuten Lesezeit)

Nicht das beste Jahr für das Zentrum

Frankreich steht vor einer riskanten Wahl. Sowohl das Linksbündnis als auch der RN machen teils radikale Reformvorschläge, welche Hunderte Milliarden EUR kosten könnten. Sie wollen sie wahlweise nicht minder radikal finanzieren (NFP) oder erklären einfach gar nicht, wie sie sie umsetzen (RN). Gemein ist beiden, dass sie eine protektionistische, nationalere Wirtschaft im Sinn haben und die Rolle des Staates kräftig ausbauen möchten. Die NFP plant eine gewaltige, risikoreiche Umverteilung; der RN ist bereit, tief in die Gesellschaft einzugreifen. Beide Parteien bereiten Ratingagenturen und Ökonomen Sorge, immerhin steckt Frankreich gerade mitten in einer hohen Schuldenquote und einem defizitären Haushalt, was der denkbar schlechteste Moment für Wirtschaftspopulismus ist. Beide Parteien bereiten Zentristen Sorge. Und beide Parteien bereiten dem Gegenüber Sorge. Kollektiv dürften sie allerdings fast 60 Prozent der Franzosen für sich gewinnen und das neue Parlament dominieren.

Gut zu wissen:  Der Starökonom Olivier Blanchard, welchen viele VWL-Studenten als Autor ihrer Lehrbücher kennen dürften, nannte das Wirtschaftsprogramm der Linken eine “Katastrophe”; jenes der Rechten wiederum einen “Weihnachtsbaum, ohne Logik und Kohärenz”.

Für die zwei Populisten, insbesondere aber den RN, ist es ein Risiko und zugleich eine historische Chance. Erstmals könnten die Rechten die Regierungsverantwortung erringen. Wirken sie darin erfolgreich, sind sie final in der französischen Parteienlandschaft etabliert und haben 2027 beste Chancen auf das Präsidentenamt. Scheitern sie, wäre es eine Zäsur. Die Linken könnten sich wiederum zerstreiten und zerfallen; als chaotisch und blockierend wahrgenommen werden (und damit dem RN die stete Ausrede bieten, dass er gar nicht vernünftig regieren konnte). Oder sie gerät zur wichtigsten Opposition gegen eine kontroverse Rechtsregierung und stärkt so ihr Profil.

Für das Zentrum rund um Liberale, Konservative und – insofern sie sich von Melenchons LFI lösen – Grüne und Sozialdemokraten wird das neue Parlament somit ebenfalls eine Chance oder ein Risiko. Vielleicht gehen sie gestärkt aus dem Chaos hervor; bereit, wieder ein Wahlvolk in ihren Armen zu empfangen, welches sich an den Rändern verbrannt hatte. Oder eben nicht. Fest steht nur, dass sie ihr Schicksal vorerst nicht so recht in der eigenen Hand haben werden.

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