Was ist Genozid?

Wir versuchen, einen komplizierten Begriff zu entwirren.

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Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Genozid wurde 1948 als Strafbestand des Völkerrechts eingeführt. Er beschreibt die gezielte Zerstörung einer bestimmten Gruppe – doch bei den Details wird es wichtig.
  • Die Anforderungen für einen “verurteilbaren” Genozid sind äußerst hoch, obwohl der Begriff zugleich recht breit interpretierbar ist.
  • Wohl auch deswegen wird er im sozialwissenschaftlichen Diskurs breiter ausgelegt: Die Pflicht, Intention zu beweisen, fällt etwas beiseite; die “Gruppe” lässt sich weiter interpretieren und auch “Zerstörung” kann vieles bedeuten.
  • Im populären Sprachgebrauch ist Genozid gleich noch vager und unbestimmter.
  • Historisch gab es eine Reihe breit akzeptierter Völkermorde, doch nur in drei Fällen fand eine Verurteilung statt: RuandaSrebrenica und Kambodscha. Dazu kommt der Holocaust als jener Genozid, welcher den Begriff entstehen ließ.
  • Und der aktuelle Nahostkrieg? Für den “rechtlichen” Genozid stehen die Vorwürfe wacklig dar. Forscher diskutieren kontrovers; ehrliche Wissenschaft ist derzeit schwierig von politisierten Meinungen zu trennen.

Was ist Genozid?_

(4,5 Minuten Lesezeit)

Ein Genozid ist ein Superlativ. Wenn etwas Schlimmes geschieht, das die Tötung von vielen Menschen umfasst, ist der Vorwurf des Genozids selten fern. Er ist ein Versuch, die empfundene Schwere einer Tat in den extremsten erdenklichen Worten auszudrücken: Kein Kollateralschaden, kein Anschlag, kein Massenmord – Genozid. Schließlich handle es sich um das “Verbrechen aller Verbrechen”, wie im Verfahren zum Ruanda-Völkermord erklärt wurde. In der Realität ist die Zahl der Genozide kleiner als die Zahl der Verdachte. Allerdings kommt es ein wenig auf die Definition an. Also, was ist ein Genozid?

Genozid, oder Völkermord, ist definitiv ein Strafbestand des Völkerrechts. Geschaffen wurde er in der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes aus dem Jahr 1948, nach dem englischen Namen CPPCG abgekürzt. Maßgeblich vorangetrieben wurde die Aufnahme des Genozids durch Raphael Lemkin, einen polnisch-jüdischen Juristen, welcher diese Arbeit als Beitrag zur Aufarbeitung des Holocausts und des Genozids an den Armeniern verstand.

Definiert ist ein Genozid in der CPPCG als die gezielte vollständige oder teilweise Zerstörung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe, auf direktem oder indirektem Wege. Das umfasst die…

  • Tötung
  • schwere körperliche oder seelische Verletzung
  • Auferlegung von Lebensbedingungen, welche zur vollständigen oder teilweisen körperlichen Zerstörung geeignet sind
  • Verhinderung von Geburten, und
  • gewaltsame Überführung von Kindern

… von Mitgliedern der Gruppe

Die Schwierigkeit des Begriffs ist offenkundig. “Vollständig oder teilweise” kann vieles bedeuten. Ab wann beginnen “schwere seelische Verletzungen”? Welche Lebensbedingungen führen zu “körperlicher Zerstörung”? Und welcher Anteil der Kinder einer Volksgruppe müsste abtransportiert werden, um Genozid zu konstatieren? Die Fragen lassen sich nicht sauber klären, doch sind notwendig, um im Einzelfall zwischen schuldig oder unschuldig entscheiden zu können. Mehr noch als vieles andere im oftmals vagen Völkerrecht ist auch Genozid eine interpretationsbedürftige Kategorie.

Das Völkerrecht

Das Völkerrecht ist das Kollektiv an Prinzipien und Regeln, welche sich die Staatengemeinschaft oder Teile von ihr auferlegt haben. Einen einzigen klaren Kodex, wie er in Staaten existiert, gibt es dabei nicht. Stattdessen speist sich das Völkerrecht aus zwischenstaatlichen Verträgen, z.B. der UN-Charta 1945 und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 – das wird Völkervertragsrecht genannt. Etwas diffuser, aber auch aus innerstaatlichem Recht nicht ganz unbekannt, ist das Völkergewohnheitsrecht, wobei im Prinzip bestehende Rechtssprechung oder staatliche Praxis als Teil des Völkerrechts gewertet wird.

Die dritte Quelle ist “ius cogens” (lateinisch für “zwingendes Recht”). Es beschreibt Normen, welche gewissermaßen als moralisch unbestreitbar gewertet werden. Damit steht ius cogens über dem Völkervertrags- und Gewohnheitsrecht; gilt auch, falls es nicht kodifiziert ist; und kann von Parteien nicht etwa per Einigung ausgehebelt werden. Das ist insofern bemerkenswert, als sich Staaten theoretisch zu nichts zwingen lassen: Anders als im innerstaatlichen Recht fehlt es an einer Exekutive, welche die Einhaltung von Gesetzen forciert. Nur wenn sich Staaten dem Völkerrecht unterwerfen, gilt es für sie – außer bei ius cogens, zu welchem Staaten auch gegen ihren Willen von den internationalen Gerichten verpflichtet werden können (wobei das Gericht sie natürlich nicht zur Umsetzung zwingen kann). Was genau unter ius cogens fällt, ist umstritten. Nicht umstritten ist, dass, insofern ius cogens überhaupt existiert, Völkermord darunter fällt.

Eine extrem hohe Hürde

So interpretationsbedürftig der Strafbestand des Genozids ist, so streng ist er auch. Eine Intention muss sich jenseits ernsthafter Zweifel beweisen lassen, damit eine Verurteilung aufgrund von Genozid erfolgen kann. Daran scheitern die allermeisten Genozidanschuldigungen: Ein spontaner Massenmord, welcher eine bestimmte Gruppe mehrheitlich trifft, ist nicht ausreichend, insofern im Hintergrund kein Plan zur Auslöschung eben dieser Gruppe – und aufgrund ihrer Existenz als solcher – stand. Auch die “Gruppe” spielt eine Rolle, denn um rechtlich von Genozid zu sprechen, muss es eine der obigen Kategorien sein.

Der Begriff des Genozids ist nicht versehentlich so eng gefasst. Einerseits, weil er als schwerer Strafbestand nun einmal eine hohe Spezifikation verdient. Doch auch, weil die USA und die Sowjetunion bei der Aufsetzung des CPPCG auf eigene Interessen achteten: Der Fokus auf bestimmte Gruppen und nicht etwa Klassen war von der Sowjetunion gewünscht, welche in den Jahrzehnten zuvor zahlreiche Massenmorde an politischen Feinden in der eigenen Bevölkerung verübt hatte. Die USA wiederum stellten laut dem Forscher Alexander Hinton die “physische Zerstörung” ins Zentrum, damit die Behandlung der schwarzen Amerikaner unter den drakonischen “Jim Crow”-Gesetzen bis 1965 nicht darunter fallen könnte.

Die drei Dimensionen des Genozids

Wie sich Worte eben entwickeln, so hat auch der Genozid als Begriff ein Eigenleben jenseits des Völkerrechts angenommen und existiert heute wohl in dreifacher Form. Einmal als extrem streng gefasster Rechtsbegriff, wie eben vorgestellt. Zweitens im “Volksmund”, wo im Zweifelsfall all das als Genozid bezeichnet wird, was als tragisch und von hoher Tragweite empfunden wird.

Drittens und zu guter Letzt in den Sozialwissenschaften und in der Politik, wo er irgendwo zwischen diesen zwei Polen existiert. Damit ein Genozidforscher, Sozialwissenschaftler, Politiker oder eine (über-)staatliche Institution von Genozid spricht, muss die Intention nicht über jeden Zweifel bewiesen sein, es genügt, wenn ein begründeter Verdacht empfunden wird. Auch wird die Intention mitunter komplett als Kriterium aufgegeben: Im Zweifelsfall reicht es schon, wenn der “Täter” die Vernichtung vieler Mitglieder einer speziellen Gruppe hätte antizipieren können und hinnahm. Die Frage, an welchen Gruppen ein Genozid überhaupt verübt werden kann, wird ebenfalls deutlich weiter gefasst. Und neben der “Zerstörung” können auch Sklaverei, Vertreibung, kulturelle Zerstörung oder andere Dynamiken unterhalb der Tötung als “Genozid” beschrieben werden. Der “sozialwissenschaftliche” Genozid kann damit vieles sein und benötigt mit Sicherheit keinen Richterspruch.

Diese Einteilung ist nicht von der whathappened-Redaktion erfunden, sondern wird so auch von vielen Genozidforschern erkannt. Die Konsequenz ist, dass Gespräche über Genozid damit teilweise völlig aneinander vorbei laufen können. Im Folgenden werden wir immer anzeigen, in welcher “Dimension” wir den Begriff verwenden und beleuchten.

Doch zuerst einmal: Welche Genozide hat die Welt erlebt?

Genozide in der Geschichte_

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John Hocking, ein Mitarbeiter des Jugoslawien-Tribunals, besucht 2010 das
Camp in Kigali, Ruanda, in welchem 10 UN-Friedenssoldaten ermordet wurden, 1997.
Quelle: ictyphotos, flickr

Die klaren Fälle

Nur in drei Katastrophen in der Geschichte wurden bislang Urteile aufgrund von Genozid ausgesprochen. Die erste Anwendung war in Ruanda 1994: Nach der Tötung des ruandischen Präsidenten durch einen bis heute ungeklärten Flugzeugabschuss, begannen Angehörige der Hutu-Mehrheit einen Massenmord: Sie töteten binnen 100 Tagen bis zu 1 Million Tutsi – rund 75 Prozent der gesamten Ethnie – sowie Hutu, welche sich nicht beteiligten. 1998 verurteilte der speziell eingerichtete Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) mehrere Menschen aufgrund von Genozid.

Gut zu wissen: Die USA verweigerten lange die Einstufung des Ruanda-Genozids als solchen, obwohl sie von ihm früh wussten und ihn intern auch als Genozid bezeichneten. Grund war, dass die Clinton-Regierung im Falle einer Einstufung eine Intervention hätte vornehmen müssen, diese aber bereits für sich ausgeschlossen hatte.

Die zweite Anwendung war im Massaker von Srebrenica im Bosnienkrieg 1995. Sechs Jahre später urteilte ein Sondertribunal, dass die Ermordung von 8.000 muslimischen Bosniaken durch bosnische Serben ein Genozid war. Zwei der höchstrangigen serbischen Politiker in Bosnien-Herzegowina wurden verurteilt.

Der dritte Fall war der Genozid in Kambodscha zwischen 1975 und 1979. Die maoistischen Roten Khmer verübten einen Massenmord, welchem ein Viertel (!) der Gesamtbevölkerung zum Opfer fallen sollte. Besonders betroffen waren religiöse und ethnische Minderheiten, etwa Muslime, Christen, Vietnamesen und Cham. Erst eine Invasion Vietnams beendete die Gewalt. 2003 richtete die UN ein Sondertribunal ein, welches 2010 mehrere Urteile wegen Genozid aussprach.

Gut zu wissen: Der Genozid in Kambodscha wird mitunter “Autogenozid” genannt, da ein Großteil der Opfer derselben ethnischen, nationalen und religiösen Gruppe wie die Täter angehörten. Die Genozid-Urteile bezogen sich allerdings konkret auf die Taten gegen Vietnamesen und Cham.

Die ersten Genozid

Zwei weitere Genozide haben ihren Status wohl sicher, auch wenn es für sie niemals ein Urteil gab und beim zweiten ein Addendum vonnöten ist. Der Holocaust ist unbestritten: Die Ermordung von 6 Millionen Juden in industriellem Maßstab war ein einzigartiges Verbrechen und das Beispiel schlechthin für den Versuch, ein Volk auszulöschen. Die Vernichtungsmaschinerie der Nazis jagte Juden in und durch ganz Europa; die Intention war eindeutig und in einer fast beeindruckenden Mordlogistik verwirklicht. Nicht umsonst war es der Holocaust, welcher Raphael Lemkin und die UN überhaupt zur Schaffung des Strafbestands des “Genozid” bewegte. Für die Verfahren zum Zweiten Weltkrieg war es etwas zu spät: Der Begriff fand in Nürnberg zwar bereits Erwähnung, tauchte allerdings nicht als Strafbestand auf.

Der zweite “urteilslose” Fall, welcher es wert ist, gesondert erwähnt zu werden, ist der armenische Genozid 1915-16. So wie der Holocaust wurde er nie vor Gericht entschieden – dafür kam er zu früh -, doch anders als der Holocaust werden die Todesmärsche des Osmanischen Reichs, welchen zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen, nur von 31 Staaten als Genozid anerkannt. In der Geschichtsforschung außerhalb der Türkei ist die Einstufung als Völkermord allerdings praktisch überhaupt nicht umstritten. Und das Leid der Armenier war für Lemkin der zweite große Genozid in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich war es dieser Völkermord, welcher Lemkins Interesse an der Fragestellung weckte und ihn dazu bewegte, Anwalt zu werden.

Die richterlosen Fälle

Viele weitere Katastrophen wurden im Verlaufe der Jahrzehnte als Genozid eingestuft, ohne jemals einen Richterspruch erhalten zu haben. Es handelt sich also um die “sozialwissenschaftliche” Variante des Wortes, in welchem Völkermord mehr als nur ein reiner Strafbestand ist, allerdings auch weiter ausgelegt und damit diffuser und umstrittener ist. Die Liste hier ist sehr lang: Sie reicht von Namibia 1904-08, Darfur 2003 und Guatemala 1962-1996, über die Massaker des Islamischen Staats an der ethnoreligiösen Jesiden-Minderheit 2014, bis hin zum chinesischen Vorgehen gegen die muslimischen Uiguren seit 2009 und jenem Myanmars gegen die Rohingya 2016-17. Einer der jüngsten Einträge ist die russische Invasion der Ukraine, welche einen Genozid darstellen könnte.

In all diesen Fällen sind es Forscher, Politiker, staatliche Einrichtungen (darunter auch das EU-Parlament) oder UN-Stellen, welche einen Völkermord erkennen. In manchen Fällen ist das von sehr vielen Akteuren anerkannt, zum Beispiel in Darfur; in anderen ist es kontroverser, zum Beispiel im Fall der Uiguren, wo Beobachter den Genozidbegriff mitunter weiter strecken und von “kulturellem Genozid” sprechen.

Ausgestattet mit einem Verständnis der Definition(en) von Genozid und einigen Beispielen können wir versuchen, den Genozidbegriff auf die aktuelle Lage in Israel und Palästina zu übertragen.

Gut zu wissen: Öffnet man auch die Zeit vor dem 20. Jahrhundert für die Genozidforschung, dürfte die Zahl an Völkermorden regelrecht explodieren. Prominente Einträge dürften die europäischen Kolonialbestrebungen gewesen sein, welche in vielen Fällen sicherlich auch die sehr hohen Anforderungen für ein richterliches Genozidurteil erfüllt hätten.

Der Genozidbegriff in Nahost_

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Dieses Kapitel ist heikel genug, zumindest beim Bild erlauben wir uns ein Symbolbild.
Quelle: rawpixel.com

Die Vorwürfe

Im Krieg zwischen Israel und der Terrormiliz Hamas wird der Genozidvorwurf in beide Richtungen erhoben. Rund 800 Akademiker warnten Mitte Oktober in einem offenen Brief vor einem “potenziellen Genozid” gegen die Palästinenser, bezogen auf die Kampagne im Gazastreifen und die Gewaltausbrüche im Westjordanland. Der UN-Offizielle Craig Mokhiber sorgte im Oktober für Aufsehen, als er Israel öffentlichkeitswirksam einen “Lehrbuch-Völkermord” vorwarf und seinen Posten niederlegte (Mokhiber nannte Israel früher ein “siedlerkoloniales Projekt”, welches “zerlegt” gehöre). Beobachter und Akademiker aus der israelischen Linken sprechen ebenfalls von Genozid. Der Vatikan muss Berichte abwehren, wonach der Papst die Lage in Gaza als Genozid beschrieben habe.

Andere Experten, darunter David Simon, Direktor der Genozidstudien an der Yale University und Ben Kiernan, Direktor des Cambodian Genocide Program, weisen das zurück oder bezweifeln, dass ein Genozid stattfinde (doch geben sich auffällig oft Mühe, zu betonen, dass andere Verbrechen erfolgt seien). Parallel wird der Hamas vorgeworfen, mit ihrem Terrorangriff am 7. Oktober einen Genozid begangen zu haben, darunter von jüdischen Medien und internationalen Medien wie dem Economist. Auch 240 Rechtsexperten äußerten sich in einem offenen Brief so.

Akademiker hin, Rechtsexperten her: Größtenteils sprechen sie hier aus der “sozialwissenschaftlichen” Sicht. Geht es um Genozid als Rechtsbegriff, ist es wichtig, sich zu erinnern, wie hoch die Bedingungen für eine Verurteilung sind. Beide Vorwürfe könnten daran scheitern, wobei jener gegen Israel auf wackligeren Füßen zu stehen scheint.

Begeht Israel einen Genozid?

Zuerst zum Vorwurf eines Genozids gegen die Palästinenser. Sie wären als Gruppe recht eindeutig definiert und die im Verhältnis zum Holocaust oder Ruanda geringe Zahl an Opfern spielt für die Beurteilung keine Rolle. Doch die Intention zu ihrer Vernichtung nachzuweisen, wird äußerst schwierig. Es genügt nicht, dass Israel den Tod von Zivilisten hinnimmt, es muss ihn anstreben. Radikale, jingoistische Aussagen ultrarechter israelischer Abgeordneter oder sogar niedrigrangiger Minister genügen sehr wahrscheinlich nicht, um die Intention herzustellen; ebenso wenig die (später teilweise kassierte) Erklärung von Präsident Yitzhak Herzog, wonach sich die Zivilisten im Gazastreifen ebenfalls für den 7. Oktober schuldig gemacht hätten oder jene von Verteidigungsminister Yoav Gallant, wonach Israel “Tiere, nicht Menschen” (human animals) bekämpfe, was sich auf die Palästinenser insgesamt oder aber nur auf die Hamas bezogen haben könnte. Keines dieser Vorkommnisse allein würde eine Intention zur Zerstörung der Palästinenser der Zerstörung willen beweisen können und auch im Kollektiv tun sie es vermutlich nicht.

Gut zu wissen: Völkermord ist nicht per se an Opferzahlen gebunden, doch historisch waren manche so schwerwiegend, dass sich die Bevölkerungen bis heute nicht oder kaum erholt haben. Die Bevölkerung Armeniens betrug 1911, vor dem Genozid durch das Osmanische Reich, knapp 3,5 Millionen – und auf ihrem Hoch 1991 nur 3,6 Millionen; eine Wachstumsrate von 3 Prozent binnen 80 Jahre. Die Zahl der Juden betrug vor dem Holocaust nahezu 16 Millionen und lag 2022 knapp über 15 Millionen.

Zudem würden Indizien gegen eine Intention widerlegt werden müssen. Da wäre einmal, dass Israel ausdrücklich den Kampf gegen die Hamas zum Kriegsziel ernennt und nicht die Vernichtung der Palästinenser – das mag trivial klingen, doch oft genug in der Geschichte wurde das Bestreben nach einer Auslöschung völlig offen kommuniziert. Die israelische Praxis, Zivilisten durch Flugblätter, Anrufe oder “roof-knocking” (also Warnbeschuss) zu warnen, zur Flucht aufzurufen, humanitäre Korridore einzurichten und Feuerpausen zu akzeptieren, mag als unzureichend kritisiert werden, doch ist erst einmal inkompatibel mit einer genozidalen Absicht. Ein Gegenargument mag sein, dass der Staat die Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung lediglich kommunikativ vorschiebe, doch selbst wenn sich dieser Verdacht erhärten ließe, würde ja noch immer ein Beweis für eine klare Intention fehlen.

Der Vorwurf, dass die israelische Belagerung von Gazastreifen oder die Besatzung des Westjordanlands als “langfristiger” Genozid zu werten seien – bezogen auf den Aspekt der “Lebensbedingungen, welche zur vollständigen oder teilweisen Zerstörung” führten -, wird dadurch verkompliziert, dass Israel in beide Gebiete Versorgungsgüter zuließ sowie teilweise selbst lieferte. Zudem ist die Zahl der Palästinenser in beiden Gebieten über die Jahrzehnte gestiegen, obwohl Israel sehr weitreichende Zugriffsmöglichkeiten besaß.

Dass der Vorwurf des Genozids gegen Israel vor Gericht Schwierigkeiten bekäme, erkennen die meisten ernstzunehmenden Beobachter an. Sie belassen es beim vageren, “sozialwissenschaftlichen” Vorwurf. Dort könnten sich Aussagen der israelischen Führung, die überproportional wirkenden Opferzahlen im Gazastreifen und die strenge Blockade der Region als Indizien für einen (tolerierten) Völkermord werten. Bei vielen Forschern ist davon die Rede, dass es das “Risiko” einer genozidalen Entwicklung gäbe, sie also noch nicht vorläge, aber bestimmte Bausteine bereits existieren würden und eine Eskalation stattfinden könne. Wieder einige Beobachter wagen sich selbstbewusst an die These des rechtskräftigen Genozids, etwa der linke israelische Holocaust-Historiker Raz Segal, welcher Israel einen “rassistischen Apartheidsstaat” nennt. Israels Ankündigung einer Belagerung von Gaza und Gallants “Tiere”-Kommentare seien ausreichend, um Intention zu beweisen, so Segal, was andere Forscher jedoch zurückwiesen. Genau die Kontroverse, welche man erwartet hätte.

Beging die Hamas einen Genozid?

Und die Hamas? Sie trägt eine ausdrückliche genozidale Absicht in ihrer Charta. “Der Tag des jüngsten Gerichts wird nicht erfolgen, bis die Muslime die Juden nicht bekämpfen und sie töten”, so Artikel 7 der Gründungscharta, “Die Juden werden sich hinter Steinen und Bäumen verstecken. Die Steine und Bäume werden rufen: O Moslem […] da ist ein Jude hinter mir, komm und töte ihn”. Ähnliche Aussagen bot die Führung der Gruppe regelmäßig, etwa als Mitgründer Abdel Aziz al-Rantisi 2001 schwor, dass “kein einziger Jude in Palästina” verbleiben würde. Und einige Wochen nach dem Terrorangriff des 7. Oktobers erklärte die politische Führung der Hamas, die Tat “ein zweites Mal, drittes Mal, viertes Mal” wiederholen zu wollen.

Womöglich genügt das, um einen Genozid vor Gericht zu konstatierenGarantiert ist das aber nicht: Die Anforderungen liegen dermaßen hoch, dass ein Massaker, welches Trauma und Angst in einer Gruppe schaffen soll, nicht per se genug ist, um die Intention zur Auslöschung der Gruppe zu belegen. Entlang dieser Argumentation galten beispielsweise auch die 9/11-Attacken nicht als Genozid. Vielleicht spielt sogar eine Rolle, dass die Hamas-Charta aus 2017 moderater ausfiel, wobei das Dokument nie offiziell die Gründungscharta ersetzte.

Eine Mini-Bewertung

Letzten Endes sind die Genozidvorwürfe im aktuellen Krieg nicht der richtige Fokus. Anders als der Spruch des “Verbrechens aller Verbrechen” andeutet, gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen einem Urteil wegen Genozid und einem wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dass diese auf beiden Seiten verübt worden sind, betonen fast alle Forscher. Was nun aber genau vorgefallen ist – bis hin zum möglichen Genozid – erfahren wir erst, wenn sich der Staub gelegt hat und die Aufarbeitung beginnen kann. Bis dahin ist (fast) alles nur Lärm.

Die Fokussierung auf “Genozid” ist mit Sicherheit dem Wunsch geschuldet, eine Tragödie in das allerdramatischste Gewand zu kleiden. Das verwässert allerdings den Begriff des Genozids, welcher plötzlich gleichzeitig und nur unsauber getrennt in einer juristischen, einer sozialwissenschaftlichen und einer “populären” Variante existiert – und somit immer weniger bedeutet. Doch eine Tragödie wird nicht weniger Tragödie, nur weil sie kein Völkermord ist.

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