Wie es um den Ukrainekrieg steht

Ein Blick auf das Bisher und das unerwartete Heute
18.08.2024

Das vergangene Jahr | Kursk-Offensive | Implikationen
(15 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Die vergangenen 12 Monate waren für die Ukraine schwierig: Inmitten von Munitions- und Personalmängeln wurde sie von Russland nach und nach zurückgedrängt.
  • Insbesondere im Donbass gelangen Moskau inkrementelle, aber stetige Gebietsgewinne, darunter mindestens eine wichtige Hochburg.
  • Die Kursk-Offensive Anfang August bringt eine bemerkenswerte neue Dynamik in den Krieg.
  • Sie ist bislang ein großer Erfolg für die Ukraine. Sie gelang, weil Kiew auf seine Stärke setzte: den asymmetrischen Krieg.
  • Zugleich hält Russland an seiner Offensive im Donbass fest und verbucht weiterhin Fortschritte.
  • Damit wird die nächste Kriegsphase von schwierigen Fragen für beide Parteien gezeichnet sein: Was sind ihre Prioritäten?

Das vergangene Jahr_

(4,5 Minuten Lesezeit)

Auch in seinem dritten Jahr bleibt der Ukrainekrieg der wichtigste Konflikt der Welt. Mehr noch als die intensiven Mischkonflikte in Nahost und die zahlreichen aktiven Bürgerkriege beeinflusst er die Weltwirtschaft und Weltpolitik. Mit wenig Aufwand lässt er sich als Determinante der Wahrscheinlichkeit eines Taiwankriegs in den kommenden Jahren beschreiben; mit ähnlich wenig Aufwand als Teilursache der wirtschaftlichen und politischen Krisen in Sri Lanka, Bangladesch, Nigeria und anderswo in den vergangenen Jahren. Dabei schien er zuletzt ein wenig in den Hintergrund zu geraten.

Rund ein Jahr lang veränderte sich wenig im Ukrainekrieg, zumindest, wenn man auf die Oberfläche blickt, also den Wechsel von Territorium. Vor etwas mehr als einem Jahr, Anfang Juli 2023, bot die whathappend-Redaktion eine militärische Lageanalyse. Das war zu Beginn einer ukrainischen Sommer- und Herbstoffensive gegen die russischen Besatzungen im südlichen Saporischschja und beim einige Monate zuvor verlorenen Bakhmut. Mit ihr wollte die Ukraine an ihre spektakulären Erfolge im Herbst 2022 ansetzen, als sie handstreichartig Charkiw befreite und einige Wochen später den westlichen Teil Chersons.

Die ukrainische Sommer-/Herbstoffensive 2023

Ein Jahr später wissen wir, dass die Offensive wenig erreicht hat. Territorial konnte die Ukraine Bakhmut ein wenig in die Zange nehmen – also von drei Seiten annähernd umkreisen –, aber nie wirklich in Gefahr bringen. Im Süden gelang kein Durchbruch bis zum Asowschen Meer oder der Krim, stattdessen erlangte die Ukraine nur kleine Ortschaften. Robotyne, ein Dorf mit kaum 500 Einwohnern, geriet zum größten Erfolg. Für den Versuch, russische Verteidigungseinrichtungen und Minenfelder zu überwinden, zahlte die Ukraine einen hohen materiellen und personellen Preis. Bis Oktober war klar, dass die Offensive zum Fehlschlag geraten war.

Russland übernahm nach dem Ende der ukrainischen Offensive allmählich die Initiative. Die Ukraine musste sich wieder konsolidieren, erschöpfte Verbände und Munitionsbestände auffüllen und überließ es Russland, die Kriegsdynamik zu bestimmen. Moskau fuhr dort fort, wo es ein halbes Jahr vorher im Frühjahr 2023 aufgehört hatte: Mit heftigen Angriffen in Donezk und Luhansk, welche gemeinsam die östliche Region Donbass bilden.

Russlands Offensive seit November 2023

Die russische Strategie blieb jene, welche sich im Ukrainekrieg bis dahin bewährt hatte: Ein langsames Herausdrücken der Verteidiger aus ihren Stellungen durch unnachgiebige Bombardements (vorzugsweise aus der Luft) und Bodenangriffe im “Menschenwellen”-Format. Es war ein Mix daraus, eigene Stärken einzusetzen und eigene Schwächen anzuerkennen: Russland besitzt ein materielles und personelles Übergewicht, kann es sich also zu einem vergleichsweise hohen Grad leisten, Bomben, Drohnen und Soldaten als Brechstange einzusetzen. Zugleich ist es der Ukraine in mehreren Hinsichten qualitativ unterlegen und besitzt nach wie vor keine Luftkontrolle über das Schlachtfeld. Entsprechend kann sich Artillerie nur spärlich an die Front trauen, da sie schnell selbst zum Ziel der präzisen ukrainischen Artillerie gerät. Luftgeschosse, vorzugsweise Gleitbomben, feuert Russland in der Regel weit von der Front entfernt aus dem eigenen Staatsgebiet ab: Kommt ein Kampfjet zu nah an die Front, läuft er Gefahr, abgeschossen zu werden. Anstelle eines taktisch anspruchsvollen Manövrierkampfs versucht es Russland mit überlegener Masse, was auch von den eigenen Soldaten und Militärbloggern völlig offen als “Fleischwolf” bezeichnet wird.

Das Resultat der russischen Strategie waren inkrementelle Fortschritte. Die Formulierung geriet das zur Lieblingsbeschreibung der whathappened-Redaktion über das vergangene Jahr. Russland eroberte seit November 2023 schätzungsweise insgesamt 772 km² ukrainischen Territoriums, was bei 9 Monaten Offensive einen monatlichen Fortschritt von 86 km² ausmacht. Das entspricht etwa einem Drittel von Frankfurt am Main, nur dass es in der Ukraine eben meistens um kraterübersäte Felder, Wälder und Dörfer ging, welche den Besitz wechselten.

Ein weiterer Vergleich: Die gemeinhin als gescheitert interpretierte Sommer- und Herbstoffensive der Ukraine befreite schätzungsweise 545 km² Territorium in 6 Monaten, bzw. 90 km² pro Monat. Beide Länder taten sich also ähnlich schwer, die Verteidigungsstrukturen des Gegenübers zu überwinden, nur besaß Russland die Masse, um sich länger auf den Abnutzungskrieg einzulassen. Genaugenommen tut es das ohne Abbruch bis heute, im August 2024. Die Ukraine litt dagegen unter einem schweren Mangel an Munition, vor allem, da die USA aus innenpolitischen Gründen mehrere Monate lang keine Hilfen mehr leisteten und Europa noch seine Rüstungsinitiativen am Hochziehen war. 

Wenig, doch stetig

Russlands Offensive eroberte allerdings nicht nur besagte Felder und Dörfer. Es gab einige namhafte Ausnahmen: Im Februar gab die Ukraine Awdiiwka auf, eine der am schwersten befestigten Städte überhaupt, welche seit 2014 eine Frontstadt im (Schatten-)Krieg mit Russland gewesen ist. Es war ein teuer erkaufter, doch signifikanter Erfolg für Russland.

Mit der Überwindung der Bastion konnte es tiefer in den Donbass vordringen und traf auf vergleichsweise weniger schwer verteidigte Stellungen. Es schob sich in schnellerem Tempo als zuvor durch ländliche Gebiete und erreichte das Umland der Hochburgen Toretsk und Niu-York, wobei zweiteres heute fast erobert zu sein scheint, und nähert sich Pokrowsk, durch welches wichtige Versorgungswege laufen. Etwas weiter nördlich attackiert es seit Monaten Chasiv-Yar, nahe Bakhmuts.

Perspektivisch gelangt Russland an den Punkt, die zwei Donbass-Festungen Kramatorsk und Slowjansk von zwei Seiten (und, sollte eine Front im nördlichen Luhansk nachgeben, sogar drei Seiten) attackieren zu können. Fallen sie, kontrolliert Russland de facto den Donbass. Spielt sich dieser Plan im aktuellen Tempo ab, würde es allerdings noch Jahre dauern, bis das erreicht ist. Und eine Garantie, dass es so gelänge, gibt es selbstverständlich nicht.

Das war der modus operandi des Ukrainekriegs seit Herbst 2022, als die letzten großen Veränderungen geschehen waren. Mal die Ukraine, dann Russland, verbuchten inkrementelle Gebietsgewinne. Russland hielt das Spiel dabei meist länger durch. Hin und wieder quetschte es seinen Gegner aus einem namhaften oder strategisch bedeutsamen Ort, was einen greifbaren Moment in einer ansonsten in Zeitlupe ablaufenden Offensive bildete. Für Beobachter im Rest der Welt schwand der Krieg ein wenig aus den Schlagzeilen und Gedächtnissen und rutschte damit auch in den politischen Prioritäten herunter. In den deutschen Haushalt schafften es etwa gar keine neuen Ukraine-Militärhilfen mehr.

Die Kursk-Offensive_

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Der Stand in Kursk, 17. August. Quelle: Ecrusized, wikimedia

Die Invasion

Am 6. August dann der unerwartete Paukenschlag. Die whathappened-Redaktion berichtete in ihrer ersten Ausgabe danach fast schon beiläufig unter “Was noch geschehen ist” folgendermaßen:

Russland berichtet von ukrainischem Einbruchsversuch in Staatsgebiet. Wenige Hundert ukrainische Truppen hätten versucht, in der Region Kursk durchzubrechen.

Zu diesem Zeitpunkt war das Ausmaß der Situation noch nicht bekannt, vielleicht nicht einmal den russischen Behörden, Militärbloggern und sogar Soldaten vor Ort. Es schien außerdem wie die Wiederholung von früheren Aktionen: Russland und die Ukraine testen regelmäßig ihre internationale Grenze ab oder entsenden Späheinheiten. Die Ukraine hatte mehrfach symbolische Grenzeinbrüche versucht, sogar einige Male geschafft. Pro-ukrainische russische Freischärler, welche recht offensichtlich mit Unterstützung Kiews agierten, waren beispielsweise im März 2024 in Kursk und Belgorod eingebrochen. Sie lieferten sich Gefechte mit russischen Einheiten, sorgten für Chaos und zogen sich wieder zurück. Es gab Grund zur Annahme, dass die jetzige Aktion ein ähnlicher limitierter Einbruch sei.

Was als Scharmützel und Einbruch begann, weitete sich rasch zur vollwertigen Invasion aus. Es sollte das erste Mal seit 1944, inmitten des Zweiten Weltkriegs, sein, dass russisches Staatsgebiet einer ausländischen Invasion zum Opfer fiel. Vor dem Hintergrund von Moskaus Angriffskriegs und dem nationalen Anti-Faschismus-Mythos in Russland, welcher auch im Ukrainekrieg eine zentrale Rolle im Eigenverständnis einnimmt, ist das eine fast bemerkenswerte historische Ironie.

Gut zu wissen: Es gibt noch mehr – durchaus ironische – historische Verbindungen der Kursk-Offensive. Die whathappened-Redaktion wird sie womöglich als Anlass für den Explainer zur Geschichte der Ukraine und Russlands, welchen sie nie geschrieben hatte, nutzen.

Keine Gegenwehr

Die Ukraine brach offenbar praktisch ohne Gegenwehr über die Grenze und überrollte auch die dahintergelagerten Verteidigungsstellungen. Russland hatte es überhaupt nicht mitbekommen (oder beachtet), dass die Ukraine in Sumy, also auf ihrer Seite der Grenze, Tausende Soldaten zusammengezogen hatte. Es wurde völlig überrascht. Direkt vor dem Angriff konzentrierte sich die Ukraine darauf, die russischen Aufklärungskapazitäten (v.a. in Form von Drohnen) auszuschalten, um auch auf den letzten Metern den vollen Überraschungseffekt behalten zu können.

Kaum hatte sie die Grenze unter Kontrolle gebracht, strömte die ukrainische Armee aus. Russische Verbände, oftmals schlecht ausgebildete Wehrpflichtige, wurden häufig völlig überwältigt. Die Ukraine drang binnen weniger Tage rund 20 Kilometer tief in russisches Territorium vor und umzingelte die Kleinstadt Sudscha, das regionale Zentrum in nützlicher Hügellage. Russland zog rasch Truppen zusammen, welche den Vormarsch manchmal stoppen konnten, manchmal in Hinterhalte gerieten. Erst nach einigen Tagen stabilisierte sich die Lage und zu diesem Zeitpunkt hatte die Ukraine bereits rund 1.000 km² an russischem Territorium und schätzungsweise 75 Ortschaften besetzt. Stand 18. August verbucht die Offensive weiterhin Gebietsgewinne – wenn auch verlangsamt – und ist kurz davor, in ihre zweite Woche zu gehen.

Gut zu wissen: Die Kursk-Offensive ist moralisch und rechtlich vertretbar. Die Ukraine wurde aus der Oblast Kursk heraus aktiv bombardiert, zudem war sie ein Sammlungsplatz für Truppen für mögliche Offensiven gegen Sumy sowie Versorgungsknoten für russische Truppen in der Ukraine. Die “aktive Verteidigung” in das Gebiet des Invasoren ist völkerrechtlich gedeckt. Russland selbst hat damit reichlich Erfahrung, immerhin trieb es das nationalsozialistische Deutschland bis in dessen Kerngebiet zurück – und behielt im Anschluss das deutsche Königsberg (Kaliningrad) als Reparationszahlung. Die deutschen Ostgebiete (z.B. das heutige Wrocław und Gdansk) tauschte es außerdem für den polnischen Osten, welchen es sich einverleibte, verschob also die Grenze Polens nach Westen.

Überraschung und Mobilität

In Kursk setzte die Ukraine auf zwei Dinge, in welchen sie besonders viel Erfolg bewiesen hat. Das Überraschungsmoment einzusetzen und schnellen Manövrierkampf durchzuführen. Bereits in der Charkiw-Offensive im Sommer 2022 hatte die Ukraine Russland völlig überrascht und damit einen schwerwiegenden Einbruch ermöglicht, welcher den Krieg in eine völlig andere Richtung brachte (andernfalls dürfte die Situation im Donbass heute weitaus kritischer für Kiew sein).

Und in Charkiw, wie auch in der Anfangsphase der russischen Invasion, setzte die Ukraine auf eine hochmobile Kriegsführung. Sie nutzt darin das weitläufige Terrain, um den Gegner taktisch unter Druck zu setzen, etwa, hinter seine Linien zu gelangen und Versorgungswege zu bedrohen. Direkte Konfrontationen vermied sie oft. Das irritiert den Gegner, überfordert ihn, lässt ihn Fehler machen oder zwingt ihn zum Rückzug in sicherere Stellungen. Ein solcher Manövrierkampf ist anspruchsvoll, denn die Einheiten bringen sich selbst in größere Gefahr und müssen eigenständig schnelle Entscheidungen treffen. Mit der alten Sowjetdoktrin eines allmächtigen Zentralkommandos, welches alle Entscheidungen fällt, ist das nicht vereinbar; doch die Ukraine wird seit 2014 in der NATO-Doktrin mit sogenannten “ermächtigten” Offizieren, welche eigens Schlachtfeldentscheidungen treffen, trainiert. Dazu kommt das zahlreich gelieferte mobile und gepanzerte Gerät des Westens (Schützenpanzer, Kampfpanzer, etc.), welches sich gut dafür eignet, an schnellem Manövrierkampf teilzunehmen.

Beides lässt sich als Bestandteil einer asymmetrischen Kriegsführung beschreiben. Lässt man im Stile der frühen Neuzeit zwei Armeen aufeinander prallen (oder, im Stile des Ersten Weltkriegs, sie in trägem Stellungskrieg agieren), hat die größere Armee hohe Vorteile. Für die kleinere Armee muss es also um den Überraschungseffekt, hohe Mobilität und taktische Finesse gehen.

In der Sommer- und Herbstoffensive 2023 gab die Ukraine ihre Stärken auf. Dass die Achse Saporischschja-bis-zum-Asowschen-Meer das Angriffsziel sein würde, hatten sämtliche Beobachter erwartet; Kiew kommunizierte es sogar völlig offen im Vorhinein. Dass parallel auch Offensiven bei Bakhmut stattfanden, war zwar überraschend, doch es handelte sich eher um eine Nebenachse. Und ein Manövrierkampf war undenkbar, schließlich trafen die Ukrainer auf intensive, weitläufige, mehrstufige Verteidigungsanlagen entlang der gesamten Front und einige der größten Minenfelder, welche bisher in Kriegen eingesetzt wurden. Drohnen überwachten das Schlachtfeld zu jeder Minute und machten fast jedes überraschende Manöver zwecklos.

Exzellenz oder Schlampigkeit?

In Kursk konnte Kiew also wieder seine Stärken ausspielenDass Russland das überhaupt ermöglichte, ist nicht per se überraschend. Auch Kiew konnte einen russischen Einbruch nahe Charkiw im Mai 2024 nicht verhindern, obwohl seit Wochen bekannt war, dass auf der Gegenseite Truppen zusammengezogen wurden. Geplante Befestigungsanlagen waren kaum errichtet worden, dazu fehlte es einfach an Material und Personal, um die Grenze hinreichend zu schützen.

Bei Russland könnte das ebenfalls ein wichtiger Grund gewesen sein: Vielleicht war es nicht nur reine Hybris oder korruptionsgetränkte Inkompetenz, vielleicht fehlten Russland einfach die Kapazitäten, um die Grenze “überraschungsfest” zu verteidigen. Das könnte auch erklären, warum es bislang in Kursk vor allem Wehrpflichtige aus anderen Landesteilen zusammenzieht, darunter Sankt Petersburg und der exponierten Ostsee-Exklave Kaliningrad. Vielleicht will es andere, erfahrenere Reserven aus der Nähe für etwas anderes zurückhalten – oder es hat einfach keine anderen Reserven?

Dazu kommt, dass die Ukraine ihr Blatt offenbar exzellent gespielt hat. Die Geheimhaltung gelang wie bereits in der Charkiw-Offensive äußerst gut; selbst Kommandeure hätten erst wenige Tage vorher vom Plan erfahren. Die Truppenansammlungen in Sumy sahen wie Übungen oder Verstärkungen zur Verteidigung aus, so CNN mit Bezug auf Satellitenbilder. Zudem hätte die ukrainische Armee die Zahl und Kampfstärke der russischen Verbände auf der Gegenseite sowie deren Verteidigungsanlagen genau studiert. Schnelle westliche Schützenpanzer wie Stryker und Marder sowie kleine Gruppen an Spezialeinheiten brachen in hohem Tempo über die Grenze und erste Verteidigungslinien; Luftangriffe, Artillerie und elektronische Störaktionen wurden auf das Gebiet konzentriert. Dazu kommt, dass die Ukraine sich hatte ausstatten können: Westliche Waffenlieferungen flossen seit einigen Wochen wieder; die Mobilisierungskampagne der Ukraine hatte Früchte getragen und neue Verbände hervorgebracht. Sie füllten anderswo die Lücken und erlaubten es Kiew, erfahrene Verbände für die Kursk-Offensive abzuziehen.

Gut zu wissen: Selbst die USA, der engste Verbündete der Ukraine, wurden von der Kursk-Offensive offenbar völlig überrascht. Womöglich nahm Kiew die Geheimhaltung dermaßen ernst – oder es war besorgt, dass Washington versuchen würde, den Angriff zu verhindern.

Die Implikationen_

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Wladimir Putin in einer Videokonferenz mit dem Gouverneur von Kursk Oblast. Quelle: Kreml, wikimedia

Ein großer Erfolg

Für die Ukraine ist die Offensive ein voller Erfolg. Die Gründe, aus welchen sie sie durchgeführt haben könnte, bilden in hohem Maße auch eine Liste der Vorteile, welche sie bereits jetzt aus ihr schlägt:

  • Die erfolgreiche Invasion russischen Territoriums ist ein großer Moralschub für die eigenen Soldaten, welche sich seit Monaten im “Fleischwolf” des Donbass zurückdrängen lassen mussten, sowie für die eigene Bevölkerung. In dieser wuchs in den letzten Monaten die Kriegsmüdigkeit: Mit 44% sprach sich im Juni eine Pluralität für Verhandlungen mit Russland aus (35% dagegen) und die 84%, welche sich gegen die Aufgabe jeglichen Territoriums aussprachen, waren weniger als bei früheren Befragungen (Umfrage von Dzerkalo Tyzhnia).
  • Die Ukraine verändert das Narrativ des Krieges damit im Inland sowie im verbündeten Ausland, wo Erfolgs- oder Katastrophenmeldungen für das meiste politische Momentum sorgen. Dabei ist die Invasion gegen Russland ein noch bemerkenswerteres und wagnisreicheres Manöver als eine erneute Gegenoffensive auf eigenem Gebiet.
  • Die Ukraine übernimmt wieder die (Teil-)Initiative im Krieg. Sie diktiert damit in Teilen, wo Russland was für Ressourcen einsetzen oder Abwägungen treffen muss. Das äußert sich auch darin, dass Moskau Reservisten aus dem ganzen Land und offenbar einige Verbände aus der übrigen Ukraine nach Kursk abzieht; perspektivisch könnte die Operation die russische Donbass-Offensive stören. Da Moskau derzeit noch an ihr festhält und das Tempo nicht zu reduzieren scheint, geht der Krieg erstmals in eine Phase von “Doppelinitiative“, in welcher die beiden Seiten an unterschiedlichen Frontabschnitten in die Offensive gehen.
  • Sie schafft eine Pufferzone vor ihrer Region Sumy, welche bis unlängst Ziel regelmäßiger Luft- und Artillerieattacken war. Zudem häuften sich die Vermutungen, dass Russland in Kürze einen Einbruch bei Sumy versuchen würde, wie er bereits im Mai bei Charkiw gelungen war. Mit ihrem Angriff kam die Ukraine dem Plan zuvor, er dürfte auf absehbare Zeit nicht relevant sein.
  • Kann die Ukraine das Territorium lange genug halten, könnte sie es in Friedensverhandlungen gegen eigenes Territorium tauschen. Die Kriegsgefangenen, welche sie unter den überwältigten russischen Verbänden machte, kann sie für eigene Soldaten eintauschen.
  • Die Besetzung russischen Territoriums schafft einen neuen Destabilisierungsfaktor für den Kreml. Präsident Wladimir Putin präsentiert sich seit jeher als Garant für Sicherheit, tatsächlich ist das seit 24 Jahren sein zentrales Legitimationsversprechen. Zudem agiert er, was seinen internen Machterhalt angeht, oft risikoavers. Den Ukrainekrieg versucht er in hohem Maße von seiner Bevölkerung fernzuhalten, etwa, indem er auf eine Generalmobilmachung verzichtet. Beides wird durch die Besatzung strapaziert. Dass Putin das anerkennt, zeigte er dadurch, dass er die Invasion als “Provokation” beschrieb, welche lediglich eine “Anti-Terror-Maßnahme” erfordere. Das fällt nicht zuletzt deswegen auf, dass der Kreml ansonsten recht schnell zu eskalativer Rhetorik greift und die eigene Sicherheit, bis hin zur Existenz, als gefährdet beschreibt. Der Ukrainekrieg sei ein Defensivkrieg, so das Narrativ – nun, wo tatsächlich auf eigenem Territorium ausgefochten wird, ist der Kreml still.

    Dass die ukrainische Invasion tatsächlich eine Gefahr für Putins Präsidentschaft darstellt, wertet die whathappened-Redaktion als unwahrscheinlich. Zu konsolidiert ist seine Position seit dem kurzlebigen Wagner-Aufstand 2023. Ein Destabilisierungsfaktor ist sie jedoch – und darüber hinaus einer, welcher womöglich über Wochen, Monate oder Jahre existieren wird. 

Die Sache mit dem Risikorne Hand

Ist die Kursk-Offensive aus ukrainischer Sicht also ein vollständiger Erfolg? Wer sie medial verfolgt hat, mag Zweifel bekommen haben. Leser von Spiegel Online bekamen für ein Interview mit dem Militärexperten Gustav Gressel etwa die Schlagzeile zu lesen: “Das Kursk-Manöver könnte das militärische Ende der Ukraine einleiten”. Das war zwar nur eine Möglichkeit von vielen (SPON hatte nach dem Worst-Case-Szenario gefragt), doch es mag dennoch für Eindruck gesorgt haben.

Der Zweifel lautet folgendermaßen: Die Truppen, welche die Ukraine in Kursk einsetzt, fehlen ihr zur Landesverteidigung im Donbass. Vor allem, da es sich um einige der kampfstärksten Verbände des Landes zu handeln scheint. Gleichermaßen läuft Kiew Gefahr, dass seine Soldaten in Kursk in eine unangenehme Position gedrängt, vielleicht gar eingekesselt werden könnten; die Invasion geriete zum Himmelfahrtskommando. Letzteres zeichnet sich derzeit nicht ab; die Ukraine scheint ihre besetzten Gebiete sicher zu kontrollieren. In anderen Worten: Selbst wenn sie in Kursk in Schwierigkeiten geriete, könnte sie ihre Einheiten geordnet zurückziehen – so zumindest bislang der Eindruck.

Ersteres, die Frage nach der strategischen Sinnhaftigkeit, ist schwieriger zu beantworten. Womöglich wird die Kursk-Offensive über alle oben genannten Vorteile der Schlag sein, welcher den Krieg für die Ukraine auf einen weitaus günstigeren Pfad gehievt hat. Oder es wird die Ablenkung darstellen, welche mittelfristig zum Verlust des Donbass führt. Falls das nach einer etwas witzlosen “Alles könnte sein”-Aussage klingt, dann weil es genau das ist. Die strategische Abwägung zweier (oder mehrerer) Optionen im Krieg ist hochkomplex. Selbst Entscheider, mit geheimen Informationen ausgestattet, treffen sie mit viel Unsicherheit; externe Beobachter, welche auf öffentliche Informationen angewiesen sind, können im Grunde nur spekulieren.

Denselben Moment gab es im Krieg bereits dutzende Male: Hätte die Ukraine Bakhmut so lange verteidigen sollen, wie sie es tat, oder die Stadt früher aufgeben sollen? Das eine band russische Truppen, ließ sie gegen ausgebaute urbane Verteidigungsstellungen laufen und bot ein kämpferisches Signal; das andere hätte wichtiges Personal und Material gespart. Die Ukraine wählte Ersteres; Beobachter diskutierten intensiv, ob das richtig war. Ebenso in der Sommer- und Herbstoffensive 2023: Hätte die Ukraine sich komplett auf die Achse Saporischschja konzentrieren sollen oder war es richtig, zugleich weiter im Norden zu attackieren? Selbst Washington kritisierte Kiew offenbar für seine Doppelstrategie; das Institute for the Study of War (ISW) lobte sie dagegen als fundiert.

Selbst das Konzept “Risiko”, welches derzeit in der medialen Analyse oft bemüht wird, ist ein wenig inhaltsleer. Jede Entscheidung trägt ein Risiko in sich. Die erfahrensten, wieder aufgefüllten und ausgerüsteten Truppen in den Donbass statt nach Kursk zu schicken, wäre ebenfalls ein Risiko gewesen. Dort hat Russland seinen “Rhythmus” immerhin längst gefunden und walzt seinen materiell unterlegenen Gegner in einem symmetrischen Abnutzungskrieg nieder. Sich bereitwillig dort hinein zu begeben, Moskau weiterhin das Kriegsgeschehen diktieren zu lassen, gedämpfte Moral in der Armee und ein gewisses Desinteresse des Westens hinzunehmen, klingt nach jeder Definition nach einem Risiko. 

Im Nachhinein ist man schlauer

Eine wahre Komplexitätsexplosion entsteht in der Bewertung eines militärischen Vorgangs, weil sich so vieles unterschwellig abspielt. Die relativ einfach und eindeutig festzustellenden Territorialverschiebungen sind zwar das endgültige Ziel des russischen Eroberungskrieges sowie des ukrainischen Befreiungskrieges. Um dorthin zu kommen, geht es jedoch um Soldatenanzahl, Reservenverfügbarkeit und Mobilisierungsfähigkeit; um Munitionsbestände, Produktionszyklen und Waffenqualität, um Luftübermacht, Aufklärungsfähigkeiten und taktische Fähigkeiten; um Versorgung, Moral, Logistik und die langfristige Kriegswirtschaft; und um vieles mehr. All das sind Dinge, welche wechselwirken, maßgeblich den Kriegsausgang beeinflussen und sich von außen schwierig einstufen lassen. Territorialverschiebungen können Ausdruck dieser “holistischen” Militärmacht sein, aber auch täuschen, wenn sie etwa zu teuer erkauft sind. Wie sich die Kursk-Offensive dahingehend bewerten lässt, wissen wir nicht, da wir in die obigen “unterschwelligen” Faktoren nur unvollständig hineinschauen können. Das bedeutet, dass wir die Bedeutung der Offensive erst im Nachhinein, wenn der Krieg bereits beendet ist, vollends verstehen werden.

Klar ist, dass der Streich der Ukraine dem Krieg ein neues Gesicht und viel neue Dynamik verpasst hat. In Anbetracht der letzten Monate wirkt das für die Ukraine in jedem Fall wie eine gute Nachricht.

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