Wie es um Europas Verteidigungsfähigkeit steht

Ein Kontinent lernt, sich an den Krieg zu erinnern.
24.11.2024


Herausforderungen | Beschaffung | Truppenstärke | Logistik | Ausblick 
(14 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Europas Verteidigung ist seit Februar 2022 wieder in den Fokus gerückt. Viele Beobachter erkennen eine realistische Gefahr für einen Krieg mit Russland – oder zumindest die Notwendigkeit, Abschreckung zu leisten.
  • Damit enden 30 Jahre einer “Friedensdividende“, welche lukrativ war, doch die Verfassung vieler europäischer Armeen verschlechtert hat.
  • Europas Verteidigungsfähigkeit leidet unter mangelnder militärischer Erfahrung, zu wenig Einheitlichkeit und Kompatibilität sowie Schwächen bei der personellen und materiellen Ausstattung.
  • Wichtig ist etwa die Beschaffung, welche oft noch ineffizient, zu national und mit fragwürdigen Prioritäten stattfindet. Die Produktion leidet derweil unter Flaschenhalsen im Privatsektor und staatlicher Zurückhaltung bei der Auftragsvergabe.
  • Immerhin zeigt sich etwas Bewegung: Mehr Geld wird mobilisiert, die EU startet neuartige Initiativen und die Produktionskapazität zieht bereits spürbar an.

Das neue Paradigma_

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Der neue Konflikt

Viele Jahrzehnte lang befand Europa sich in einer Nachkriegsordnung. Nun erlebt es eine Vorkriegsordnung. So in etwa beschrieb es der frühere britische Verteidigungsminister Grant Shapps, als Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine.
 
Tatsächlich ist zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Gefahr eines kontinentweiten Krieges zwischen großen staatlichen Akteuren denkbar – mehr noch, eine Auseinandersetzung zwischen nuklear bewaffneten Staaten. Die Gefahr eines Krieges zwischen Russland und der NATO bleibt bislang hypothetisch und die Wahrscheinlichkeit eines Kriegsausbruchs ist in Anbetracht der jeweiligen Anreizfunktionen eher gering. Doch sie ist zum ersten Mal seit 80 Jahren hoch genug, um den Diskurs, die Politik und die Strategie zu beeinflussen.
 
Bereits jetzt bereitet die Bundeswehr Unternehmen auf das Verhalten im Kriegsfall vor. In den nordischen Ländern werden große Kriegsbroschüren ausgegeben. Die Regierung Schwedens warnt die Bevölkerung, dass ein Krieg mit Russland denkbar sei. Unterschwellig läuft dieser bereits: Die Fülle an mutmaßlichen Sabotageakten in europäischen Lagerhallen, Flughäfen, Wasseraufbereitungsanlagen und in der Ostsee lässt sich kaum noch als zufällig bezeichnen; die gehäufte Zahl der mutmaßlichen Spionageakte gegen NATO-Militäranlagen ebenso wenig. Dazu kommen Cyberattacken, teils strategisch andeutende Verhaftungen westlicher Staatsbürger in Russland und die gezielte Einschleusung von Migranten aus dem Nahen Osten nach Polen und Finnland. Zwischen der NATO und Russland läuft damit ein „Schattenkrieg“, auch wenn von etwaigen NATO-Aktionen gegen Russland zumindest öffentlich deutlich weniger bekannt ist.

Kann Europa sich verteidigen?

Die angespannte Lage wirft die Frage nach Europas Verteidigungsfähigkeit auf. Eine Frage, welche vor 2022 eher Interessierten vorbehalten war und insbesondere in Deutschland von einem Lager verpönt, vom anderen desinteressiert beachtet worden war. Der Ausbruch der vollwertigen Ukraine-Invasion hat das verändert. Dazu kommt die Wiederwahl von Donald Trump in den USA. Der Ex- und Bald-Präsident hat in der Vergangenheit Zweifel an der NATO aufgeworfen und selbst einen Austritt seines Landes in Aussicht gestellt. Für Europa würde bereits eine Schwächung des Bündnisses die verteidigungspolitische Realität völlig umwerfen.
 
Noch am 15. Oktober erklärte Trump in einem Interview mit Bloomberg: „Unsere Verbündete haben uns mehr ausgenutzt als unsere Feinde. Das ist nicht nachhaltig“. Er bezog sich auf seine Drohung, im Zweifelsfall nur Länder zu unterstützen, welche das 2-Prozent-Ziel der NATO erfüllen. Trumps grundlegende Analyse, dass andere NATO-Staaten vergleichsweise wenig zum Militärpakt beitrugen, ist weitestgehend korrekt. Vor allem Europa profitierte von drei Jahrzehnten an „Friedensdividende“: Der Tatsache, dass nach dem Ende der Sowjetunion kein realistischer Krieg auf dem Kontinent drohte und der Sicherheitsschirm der USA zuverlässig gespannt war. Das erlaubte es, auf teure Rüstungsausgaben zu verzichten und Human- sowie Kapitalressourcen in zivile Funktionen zu lenken. Die USA, deren Doktrin es ist, zwei Kriege gleichzeitig führen zu können, gestatteten sich dieselbe „Friedensdividende“ nie im selben Maße.
 
Dabei geht es für Europa und die NATO nicht nur um die reine Fähigkeit, einen russischen Angriff zurückzuschlagen. Es geht auch um Abschreckung, damit dieser Angriff gar nicht erst passiert.

Die Herausforderungen_

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Ein deutscher Eurofighter Typhoon. Quelle: Krasimir Grozev, wikimedia

Den Krieg verlernt

Europas Herausforderungen in der Verteidigungspolitik lassen sich zu drei zusammenschmelzenDie erste ist, dass es sehr wenig direkte militärische Erfahrung besitzt. Die USA hatten im Nahen Osten und in Afghanistan gleich mehrere Gelegenheiten, ihre Doktrinen, Offiziere und Ausrüstungen zu erproben. Europa war meist eher in unterstützender Rolle beteiligt. Selbst dort, wo die Europäer eine stärkere Rolle einnahmen, war es selten im „klassischen“ Krieg. Öfter ging es um den Umgang mit feindseligen Milizen, Terrorgruppen oder der Zivilbevölkerung. Andersherum konnte Russland im Tschetschenienkrieg, im Georgienkrieg und in seinen zahlreichen Missionen im Ausland Erfahrungen sammeln; zuletzt kamen vor allem in Syrien und im Ukrainekonflikt 2014-22 große Teile des eigenen Arsenals zum Einsatz. Und der Ukrainekrieg ab 2022 ist für das Land zur militärischen Feuertaufe geraten. Militärische Versagen – davon sehr viele an der Zahl –, welche im Westen für Häme sorgten, waren Lerngelegenheiten für die russische Armeeführung. Viele davon scheint sie genutzt zu haben.

Viele Europas

Die zweite große Herausforderung ist, dass Europa so dezentral ist und nationale Interessen oft überwiegen. Viele verschiedene Staaten, auch innerhalb der EU, bedeuten viele unterschiedliche militärische Verwaltungs- und Beschaffungsapparate, Ausrüstungsstandards, Kommando- und Kommunikationssysteme, Logistiken und militärische Kulturen. Die Mitgliedschaft in der NATO zentralisiert gewisse Aspekte davon, doch insgesamt bleibt Europa ein verteidigungspolitischer Flickenteppich. Das spielt auch in die mangelnde Erfahrung hinein: Die Europäer müssen nicht einfach nur den Kriegsfall üben, sie müssen die Koordination von zwei Dutzend nationalen Armeen darin üben.

Kein Material

Die dritte große Herausforderung ist die Ausstattung der Armeen, personell und materiell. Die europäischen Armeen haben ihre Größe in den letzten drei Jahrzehnten deutlich reduziert. Die reinen Zahlen verstecken dabei auch noch, dass das bestehende Material teilweise in schlechter Verfassung ist und es an Munition mangelt. Gemessen an der Intensität des Ukrainekriegs besitzen einige europäische Armeen nur ausreichend Munition für Stunden oder wenige Tage. Ex-Heeresinspekteur Alfons Mais nannte die Bundeswehr kurz nach Beginn des Ukrainekriegs „mehr oder weniger blank“. Die Wehrbeauftragte Eva Högl erklärte, dass die Bundeswehr „von allem zu wenig“ habe – nicht nur Panzer, sondern auch Nachtsichtgeräte und Funkgeräte. Dort, wo Equipment unterschiedlicher nationaler Armeen zusammenarbeiten muss, fehlt es auch noch mitunter an Kompatibilität. Und die Beschaffung neuen Materials wird mal durch ineffiziente Beschaffungsapparate, mal durch fehlende Produktionskapazitäten ausgebremst.

Wenn es um die materielle Ausstattung geht, ist auch mangelnde Erfahrung wieder ein Faktor. Für ihre Beteiligung an der Afghanistan-Mission musste die Bundesregierung zwei Verbände in Bataillonsstärke bereithalten, also rund 600 bis 2.000 Soldaten. In der neuen Bedrohungslage sind der NATO drei Divisionen mit acht Brigaden und knapp 50.000 Soldaten zugesagt. Das ist eine völlig neue Dimension an Militärlogistik, Ausstattung und entsprechender Beschaffungskomplexität.

(Ein bisschen) Geld auf das Problem werfen

Europa macht sich allmählich daran, diese Herausforderungen zu bewältigen. Der erste Hebel ist Geld: 2023 erreichten nur 10 der 32 NATO-Staaten das 2-Prozent-Ziel, wonach mindestens 2 Prozent des BIP für die Verteidigung ausgegeben werden sollten. Staaten wie Deutschland argumentierten jahrelang, dass ihre Investitionen in Entwicklungshilfe und ähnliche „soft power“ ebenfalls zur Sicherheit der NATO beitrügen – oder ignorierten das verfehlte Versprechen einfach. 2024 dürften dagegen 24 von 32 Mitgliedern die Marke übertreffen. In Deutschland besorgte das Sondervermögen Bundeswehr mit einmaligen 100 Milliarden EUR einen Sprung in den Verteidigungsausgaben.

Beschaffung_

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155mm Artilleriegeschosse. Quelle: National Archives & DVIDS

Das BAAINBw im Weg

Das zusätzliche Geld wird dem Zustand des europäischen Militärs guttun, doch ist alleine nicht ausreichend. Es kommt auch darauf an, wie es eingesetzt wird. In Deutschland geht es dabei in erster Linie um das umständlich benannte Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) mit knapp 12.000 Angestellten, davon 7.000 in der Zentrale in Koblenz. Es kümmert sich um die Beschaffung von allem von Feldflaschen für Soldaten bis hin zu ganzen Waffensystemen wie Panzern und Kriegsschiffen. Das Amt gilt als träge und ineffizient. Es gibt unter Medien eine Tendenz, solche Probleme mitunter zu übertreiben, doch anekdotische Berichte im Zusammenhang mit dem BAAINBw (auch solche, welche die whathappened-Redaktion persönlich kennt) deuten an, dass sie allermindestens in den Grundzügen stimmen. Wehrbeauftragte Högl berichtete 2023, dass einige Hubschrauberpiloten seit 10 Jahren auf einen Fliegerhelm warten würden – ein Helm, welcher am freien Markt verfügbar sei.

Das BAAINBw versucht sich an Reform. Mit dem Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz – ein zur Behörde passender Name – wurden Bürokratieabbau und beschleunigte Prozesse eingeführt. Unter anderem wurden mehrere innerbehördliche Abstimmungs- und Mitzeichnungsrunden abgeschafft und über die Hälfte der rund 160 Regelungen für das BAAINBw ausgesetzt. Rahmenverträge mit Rüstungsfirmen erlauben es, nicht für jedes neue Projekt einen neuen Vergabeprozess starten zu müssen, sondern auf den einst ausgehandelten Rahmenvertrag zurückzugreifen. Einige „nicht-komplexe“ Beschaffungen wurden zudem an eine andere Behörde und per „Handgeld“ direkt an Kommandeure delegiert, was die Behörde entlastet und das Beschaffungstempo erhöht. Bis 5.000 EUR Auftragswert ist kein Vergabeverfahren mehr nötig, zuvor waren es 1.000 EUR.

Einige Fortschritte sind erkennbar: Die Zahl der Großverträge über 25 Millionen EUR erreichte 2023 mit 55 einen Rekordwert und die Zahl der laufenden Projekte stieg um 5 Prozent auf rund 1.700. Das berichtet zumindest das BAAINBw selbst.

Markt statt Goldrand

Das andere Problem beim Einsatz des Geldes, neben der Effizienz, waren die Beschaffungsziele. Längste Zeit konzentrierten sich die europäischen Armeen auf großes, auffälliges Gerät, etwa neue Kampfjets. Der Ukrainekrieg hat gezeigt, dass es im Kriegsfall auf viel simpleres Material ankommen kann: Munition, Artilleriemunition, Drohnen und Landminen. Die Luft- und Marinekapazitäten der NATO sind wichtig, da Luft- und Seeüberlegenheit einen Krieg entscheiden können, doch die Anforderungen eines langwierigen Landkriegs wurden offenbar unterschätzt. Dazu kommt, dass mitunter zu spezialisiertes Gerät eingekauft wurde. Im deutschen BAAINBw wurde das als „Goldrandlösung“ bezeichnet: Individuelle Wünsche, welche entsprechend aufwändig individuell verhandelt und produziert werden mussten. Heute wird stattdessen mehr auf marktverfügbare Systeme gesetzt. Das trifft nicht jede Forderung der Armee, doch geht deutlich schneller.

Gut zu wissen: Laut NATO-Schätzungen aus März 2024 produziert Russland dieses Jahr circa 3 Millionen Artilleriegeschosse, dreimal so viele wie die USA und Europa zusammen.

Denkt denn niemand an die Jobs

Ein weiterer Fehler bei der Verwendung von Geldern ist, dass europäische Staaten in ihrer Beschaffung meist die heimische Rüstungsindustrie und mit ihr heimische Arbeitsplätze bevorzugen wollten. Das war ineffizient, was Preis und Geschwindigkeit anging und verschärfte die „Nationalisierung“ der europäischen Verteidigung, mitsamt inkompatibler Waffensysteme und Designunterschiede, welche die gemeinsame Koordination erschweren. Beispielsweise passen die 155-Milimeter-Artilleriegeschosse einiger NATO-Staaten nicht in die Artillerierohre anderer; und deutsche Funkgeräte aus den 1980ern können nicht mit jenen einiger Verbündeter kommunizieren. Im Angesicht der neuen Herausforderung weicht diese Linie etwas auf und Länder setzen öfter auf „herkunftsagnostische“ Lösungen. Der Anreiz zur Lokalisierung ist allerdings noch immer spürbar.

Truppenstärke_

(2 Minuten Lesezeit)

Eine Armee benötigt nicht nur Waffensysteme und Munition, sondern auch Soldaten – und zwar solche, welche sie rasch mobilisieren kann. Die allermeisten europäischen Staaten haben ihre Truppenanzahl seit dem Ende des Kalten Krieges deutlich reduziert. Großbritanniens Armee könnte 2025 so niedrig liegen wie seit den Napoleonischen Kriegen 1803-15 nicht mehr. In der deutschen Bundeswehr befinden sich 2024 rund 171.000 Berufs- und Zeitsoldaten sowie 8.300 freiwillig Wehrdienstleistende; 1990 waren es noch 459.000 Soldaten. Gelänge es Deutschland, das Versprechen einer Brigade für Litauen mit rund 5.000 Soldaten zu erfüllen, wäre das bereits ein Erfolg. Auch die Mobilisierungsgeschwindigkeit ist fraglich. Frankreichs Armeechef Pierre Schill schätzt, dass das Land binnen einem Monat 20.000 Soldaten mobilisieren könnte. Bei Großbritannien sind es wohl ähnlich viele. Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel, tat es das mit rund 190.000 Soldaten.

Forward Presence

Die NATO reagiert auf die neue Bedrohungslage, indem sie mehr Soldaten in Bereitschaft versetzt. Als sogenannte „Forward Presence“ soll eine Speerspitze an Truppen mögliche Angriffe umgehend stoppen und schnell verlagerbar sein. Vor 2022 betrug die entsprechende Soldatenanzahl knapp 5.000, inzwischen ist sie auf über 10.000 verdoppelt worden. Insgesamt 300.000 Soldaten werden in höhere Bereitschaft versetzt und sollen schneller als bislang bewegbar sein. Die Geschwindigkeit ist allerdings das eine, das andere ist die „Mobilisierungstiefe“. Es fehlt insgesamt an Soldaten und Reservisten, was auch eine Folge davon ist, dass 30 Jahre an Frieden die gesellschaftliche Rolle des Militärs ausgehöhlt haben. Russland füllt seine Armeen mit Zwang, Druck oder großzügigen Zahlungen an einkommensschwache Männer auf – alles drei Maßnahmen, welche in Europa schwierig werden. Die Bundesregierung beschloss etwa jüngst eine Reform der Wehrfähigenerfassung, welche keine Pflicht einführt, sondern lediglich einen Fragebogen verpflichtend macht.

Nicht, dass eine Wehrpflicht unbedingt alle Probleme lösen würde: Soldaten müssen immer noch ausgestattet und ausgebildet werden. Sie wäre aber eine relativ simple Antwort auf das grundlegende „manpower“-Problem Europas. Andere Lösungen wären es, den Soldatenberuf attraktiver zu machen, etwa durch finanzielle Anreize. Und in Ländern wie Deutschland auch durch eine bessere gesellschaftliche Rolle für einen Beruf, welcher manchen Beobachtern bislang als Auffangbecken für Gescheiterte galt.

Logistik_

(1 Minute Lesezeit)

Brücken und Panzer


Die Logistik entscheidet, wie effektiv und schnell eine Kriegspartei ihre Soldaten bewegen und versorgen kann. Die größte, modernste Truppe der Welt nützt nichts, wenn sie nicht eingesetzt oder aufrechterhalten werden kann. Die Kriegslogistik stellt dabei besonders komplexe Herausforderungen an ihre Planer: Was ist zu tun, wenn Eisenbahnstrecken sabotiert oder Flughäfen bombardiert werden? Halten Brücken und Autobahnen es aus, wenn Hunderte Panzer und Artilleriegeschütze über sie fahren?
 
Erneut machen sich die eingangs benannten Probleme bemerkbar. Zu wenig Geld wurde über die Jahre in teils marode Infrastruktur gesteckt, nicht zuletzt in Deutschland, welches durch seine Lage eine zentrale Rolle einnimmt. Redundanzen, welche wegen feindseliger Aktionen notwendig sind, wurden in Anbetracht von 30 Jahren Frieden nicht geschaffen. Erneut gibt es Inkompatibilitäten zwischen europäischen Ländern, etwa was Eisenbahnstrecken angeht. Ein dediziertes NATO-Ölpipeline-System wurde nie mit der Osterweiterung gen Osten ausgebaut.
 
Die große NATO-Übung Steadfast Defender 2024 versuchte, diese Probleme zu beleuchten. Die Wirksamkeit der Logistik und ihre Engpässe war eine der Prioritäten in der diesjährigen Übung.

Der Ausblick_

(4 Minuten Lesezeit)

Vieles zu tun

Europa steht vor vielen Herausforderungen in seiner Verteidigung. Der Kontinent muss mehr Geld mobilisieren, es intelligenter einsetzen, die Koordination untereinander vertiefen und sicherstellen, dass Truppenanzahl, Mobilisierungsfähigkeit und Logistik den Anforderungen eines modernen Krieges entsprechen.
 
Selbst in Kategorien, in welchen Europa einen größeren Vorteil gegenüber Russland geltend machen könnte, etwa bei der Marine und in der Luftwaffe, ist es fraglich, ob das bereits genügt. Russlands Luftabwehrkapazitäten sind ernstzunehmend und würden das Erringen einer womöglich kriegsentscheidenden Luftüberlegenheit erschweren. Nur die USA scheinen die Kapazitäten zu besitzen, russische Luftabwehrsysteme zuverlässig zu zerstören. Andersherum besitzt Europa nicht allzu viele eigene Luftabwehrsysteme, obwohl der Ukrainekrieg gezeigt hat, wie wichtig sie sind, um die Front und das zivile Hinterland zu beschützen.
 
Es gibt noch deutlich mehr verteidigungspolitische Dimensionen, welche unser Explainer nicht abdeckt. Da wäre die politische Zerstrittenheit der NATO, in welcher Staaten wie Ungarn, Bulgarien und die Türkei andere Interessen als der Rest des Blocks verfolgen. Eine Diskussion läuft, ob sich Europa in seiner Verteidigung eher autonom aufstellen oder doch eher auf die NATO verlassen sollte. Die kritische Infrastruktur würde eine eigene Erwähnung verdienen, immerhin ist sie in den letzten zwei Jahren auffällig häufig zum Angriffsziel geraten. Zu guter Letzt ließe sich ein noch genauerer Blick auf das Verhältnis von Kampfstärke und Produktionskapazität zwischen Russland und der NATO werfen.

Ein wenig geschieht bereits

Bei allen Problemen gibt es für Unterstützer einer aktiveren Verteidigungspolitik gewissen Grund zum Optimismus. Ein gesellschaftliches, mediales und politisches Umdenken hat in Europa eingesetzt. Es zeigt sich in deutlich erhöhten Verteidigungsbudgets, einem reformierten Beschaffungswesen und mehr Fokus auf gemeinsamen Operationen. So sind die Militärausgaben allein in Zentral- und Westeuropa zwischen 2014 und 2023 um 43 Prozent auf 391 Milliarden EUR gestiegen (die Inflationsrate betrug im selben Zeitraum knapp 25 Prozent).
 
In der Beschaffung gibt es jenseits nationaler Reformansätze – siehe unsere Passage zum BAAINBw – auch Versuche, mehr europäische Koordination herzustellen. Bislang handelt es sich eher um vereinzelte Initiativen als um ein großes gemeinsames Framework, doch das ist schon einmal mehr als es zuvor gab. Der „European Defense Industry Reinforcement Through Common Procurement Act“ (EDIRPA) ist darin eines von zwei Kronjuwelen. Er stellt einen Fonds mit 310 Millionen EUR her, welcher Mitgliedsstaaten zur gemeinsamen Beschaffung motivieren soll, indem er Kosten übernimmt. Und der 1,1 Milliarden EUR schwere European Defense Fund regt Mitgliedsstaaten zur gemeinsamen Militärforschung an. Unterhalb der EU-Ebene wäre da etwa die „European Sky Shield Initiative“, in welcher sich 15 Länder zusammengeschlossen haben, um die Beschaffung und den Einsatz von Luftabwehrsystemen zu koordinieren. Die nordischen Staaten haben ihrerseits eine Initiative gestartet, welche auch eine enger untereinander verbundene Luftwaffe vorsieht.
 
Auch in der bislang schleppenden Rüstungsproduktion, praktisch der Stufe nach der Beschaffung, scheint sich einiges zu ändern. Russlands weitaus stärker vom Staat gesteuerte Wirtschaft war zwar imstande, deutlich schneller die Produktion anzukurbeln, doch das langfristige Produktionspotenzial wirtschaftsstarker westlicher Länder dürfte höher sein – insofern Regierungen entsprechend einkaufen und die Rüstungsindustrie die Kapazitäten hochschraubt. Beides zeichnet sich derzeit ein wenig ab. Der „Act in Support of Ammunition Production“ (ASAP, sicherlich nicht zufällig auch die Abkürzung für „as soon as possble“) stellt 500 Millionen EUR zur Verfügung, um die Industrie zum Kapazitätsausbau anzuregen, auch für den Fall, dass noch keine konkrete Order vorliegt – er ist das zweite Kronjuwel der neuen EU-Verteidigungsbemühungen. Nicht, dass Auftrge für viele der Waffenhersteller derzeit ein Problem seien: Die Orderbücher für Rheinmetall und Rivalen waren noch nie so voll; die Bundesregierung und andere Regierungen schließen milliardenschwere Rahmenverträge ab.

Die höheren Kapazitäten lassen sich in den Daten erkennen. Und zwar nicht nur in den Umsatzzahlen und Auftragsbüchern der Konzerne. Kam eine Analyse des International Institute for Strategic Studies (IISS) 2023 noch zu dem Schluss, dass nur 22 Prozent der europäischen Rüstungsaufträge zwischen Juni 2022 und Juni 2023 an europäische Hersteller gingen, so erkennt eine ausgeweitete Analyse bis September 2024 ganze 52 Prozent „zu Hause“. Das deutet an, dass die Hersteller in der Zwischenzeit ihre Produktion erhöht haben.

Die neue Realität

Nichtsdestotrotz: Noch geschehen die Initiativen nicht in ausreichendem Rahmen und zu national. EDIRPA und ASAP sind im Grunde Testballons, auf welche größere, längerfristige Programme folgen müssten. Mit jedem Schritt vorwärts gibt es außerdem einen halben rückwärts. So liefen in der NATO Diskussionen, ob sich auch die Hilfen an die Ukraine an das 2-Prozent-Ziel anrechnen lassen sollten – Buchhaltung statt Aufrüstung.

Klar ist, dass die neue Ära Europas keine Vorteile für den Kontinent bringt, nur die Vermeidung von Nachteilen. Die „Friedensdividende“ war für Europa ein Geschenk. Einige Beobachter schätzen, dass Verteidigungsausgaben in Höhe von 4 Prozent des NATO-BIP vonnöten wären, um sich ausreichend kampfstark aufzustellen. Das Geld wird an anderer Stelle fehlen und Verteilungskonflikte auslösen. Es sich zu sparen, könnte in der Zukunft allerdings noch deutlich teurer werden.

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