Wie Orbanisierung funktioniert

Und wie Demokratien verschwinden
10.11.2024


Orbanisierung | Ungarn | USA
(15 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Orbanisierung” bezeichnet es, wenn eine Regierung nach und nach die Kontrolle über staatliche Institutionen an sich reißt und damit zugunsten des eigenen Machterhalts die Demokratie aushöhlt.
  • Benannt ist es nach Viktor Orbán, welchem das äußerst erfolgreich in Ungarn seit 2010 (sowie 1998-2002) gelingt.
  • Orbán, seine Partei Fidesz und ein Netzwerk aus befreundeten Unternehmern kontrollieren die Justiz, die Medien und die Zivilgesellschaft.
  • Auch in den USA deutet sich eine Orbanisierung an: Einflussreiche Trumpisten und der wiedergewählte Präsident selbst machen aus ihrer Nähe zu Orbán und ihrer Sympathie zu dessen “Playbook” keinen Hehl.

Orbanisierung_

(3,5 Minuten Lesezeit)

“Orbanisierung” ist ein Begriff, welcher nicht einmal eine Wikipedia-Seite besitzt. Beliebt ist er im medialen, politischen und Thinktank-Betrieb und auch die whathappened-Redaktion nutzt ihn gelegentlich. Zeit, den Begriff zu erklären; zu zeigen, warum er kein reiner politischer Kampfbegriff ist, sondern ein reales und relevantes Phänomen beschreibt; und wieso er auf die USA von morgen zutreffen könnte.

L’État, c’est moi

In aller Kürze bezeichnet Orbanisierung es, wenn eine Regierung die Kontrolle über die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen ergreift, mit dem Ziel, ihren Machterhalt zu sichern. “Institutionen” sind dabei allerlei unterschiedliche Dinge, welche das Zusammenspiel einer Gesellschaft und all ihrer Teile regeln. Das Parlament ist eine Institution, die Justiz ebenfalls; außerdem die Ministerien, die Medien, das Militär, die Wahlbehörde, Regulierungsbehörden und vieles mehr. Institutionen können auch abstrakt sein: Das Wahlsystem als solches (und nicht nur die Wahlbehörde) lässt sich als Institution verstehen, auch wenn es sich nicht auf einen oder einige konkrete Akteure herunterbrechen lässt.

In einer Demokratie besitzt die Regierung Zugriff auf gewisse Institutionen – und sie selbst stellt auch eine dar –, aber ganz gezielt nicht auf alle. Das stellt die Gewaltenteilung sicher, ermöglicht faire und freie Wahlen und erlaubt eine funktionierende Zivilgesellschaft – alles drei notwendige Bedingungen für eine Demokratie. Selbst die Ministerien und ihnen unterstellte Behörden steuert eine Regierung selten vollständig: In Deutschland findet sich unterhalb der Minister und ihrer aus der Partei mitgebrachten Parlamentarischen Staatssekretäre ein gigantischer Kader aus Berufsbeamten. Sie stellen eine gewisse Kontinuität im Behördenbetrieb sicher und bieten dank ideologischer Diversität eventuell Widerstand zu den Plänen einer Regierung oder zumindest Außenperspektiven.

Das Stichwort lautet “checks and balances“, wofür es keine optimale deutsche Übersetzung gibt. “Kontrollen und Gegenkontrollen” wäre ein Versuch. Eine Regierung besitzt bereits viel Macht, also sorgen andere Institutionen dafür, dass sie nicht noch mehr davon besitzt. Damit sie innehalten muss, damit sie Kompromisse eingehen muss, damit sie Minderheiten berücksichtigen muss, damit sie nicht korrupt agiert.

Eine Regierung, welche Orbanisierung betreibt, versucht, diese checks and balances zu schwächen oder abzuschaffen. Sie besetzt die Wahlbehörde und Ministerien mit Loyalisten, drangsaliert unabhängige Medien, beeinflusst die Zentralbank und macht die Justiz wirkungslos. Damit kann sie künftig frei handeln.

Gut zu wissen: Ein technischerer Begriff für das, was wir in diesem Explainer Orbanisierung nennen, ist “democratic backsliding“, also in etwa demokratischer Verfall.

Die Zahl der Länder, welche sich demokratisieren (orange), sowie jene, welche autoritärer werden (blau). Die gestrichelte Linie zeigt demokratische Länder, welche autoritärer werden. Quelle: Vanessa A. Boese

Fast in Zeitlupe

Orbanisierung ist nicht dasselbe wie ein Putsch. Sie beschreibt einen graduellen Prozess. Die Demokratie wird nicht plötzlich abgeschafft, doch ihre “Bausubstanz” allmählich abgetragen. Wahlen werden weiterhin abgehalten und können sogar kompetitiv, also für die Opposition gewinnbar sein. Doch die Kontrolle der Regierung über Medien und Gerichte macht das Spielfeld unfair. Die Kontrolle über die Wahlbehörde erlaubt ihr, im Zweifelsfall direkt zu manipulieren, sollte sie so weit gehen wollen. Und selbst, falls sie verliert und das einräumt, behält die Partei tiefe Wurzeln in Staat und Gesellschaft, welche dem Sieger die Regierungsarbeit erschweren werden und der Partei eine baldige Rückkehr an die Macht vorbereiten.

Oft mischt sich der Prozess der Orbanisierung mit Populismus als Legitimationsvehikel: Ein integres “Wir”, ausgestattet mit gesundem Menschenverstand, wird von einem feindseligen, niederträchtigen “Sie” bedroht. Dieses ist zugleich verachtenswert-unterlegenen wie auch existenzgefährdend-überlegenen, was Dominanz- und Angstgefühle fördern soll. Es kann sich um liberale Eliten, ausbeuterische Kapitalisten oder barbarische Migranten handeln. Gemein ist ihnen, dass sie strategisch und nahezu verschwörerisch gegen das “Wir” handeln; versuchen, dessen Lebensstil und Werte zu zerstören.

Die populistische Analyse muss nicht immer falsch sein: In gewissen Situationen, insbesondere in Staaten mit schwachen Institutionen, zentralisierter Macht und hoher Korruption kann der Eindruck einer kleinen Gruppe, welche Partikularinteressen gegen ein irgendwie definiertes Bevölkerungskollektiv verfolge, im Kern zutreffen. Es ist allerdings fast immer eine unterkomplexe Analyse, welche in erster Linie dazu dient, zu emotionalisieren und Massenbewegungen in Gang zu setzen. Dem “Orbanisierer” dient Populismus dazu, zu erklären, warum die Institutionen kontrolliert werden müssen: Um sie der liberalen Elite zu entziehen oder vor dem hinterhältigen “Globalisten” zu schützen – zum Wohle des bedrohten guten “Wir”.

Orbanisierung ist so relevant, weil sie einen Vorgang zeigt, wie eine Demokratie sterben kann. Nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern. Zu keinem Zeitpunkt wurden Wahlen verboten und auch Oppositionsparteien existieren weiterhin. Die zentralen Elemente der Demokratie funktionieren nominell weiter. Der Schaden entsteht unterschwellig. Eine Demokratie verkommt ohne klaren Meilenstein zur instabilen Demokratie und dann zur Wahlautokratie.

Die ungarische Erfahrung_

(5,5 Minuten Lesezeit)

Viktor Orbán, rechts, hier mit Oppositionsführer Péter Magyar (2024). Quelle: EU2017EE Estonian Presidency, wikimedia

Ein junger Liberaler

Namensgeber der Orbanisierung ist selbstverständlich Viktor Orbán, Premierminister UngarnsOrbáns heutige Rolle ist bemerkenswert, wenn man seinen Werdegang betrachtet. Er war ursprünglich Teil der liberalen, antikommunistischen Opposition in Ungarn, beschäftigte sich mit westeuropäischer Politphilosophie und nahm ein Forschungsstipendium von George Soros für ein Zivilgesellschafts-Studium in Oxford an – jener Milliardär und Philanthrop George Soros, welcher zum zentralen antisemitischen Feindbild des Orbanschen Populismus avanciert ist. 1988 gründete Orbán mit mehreren Mitstreitern Fidesz – “Allianz junger Demokraten” –, welches damals ausgerechnet eine liberale Partei war, unterstützt ausgerechnet von George Soros. Orbán verteidigte Soros damals gegen Nationalisten, welche dessen philanthropisches Engagement in Ungarn attackierten. Heute führt er selbst ebendiese Attacken durch.

Orbán und Fidesz bewegten sich binnen einiger Jahre scharf nach rechts im politischen Spektrum. Das geriet zum Erfolgsrezept: Die Partei siegte in den Wahlen 1998 und Orbán wurde zum Premierminister. Bereits damals bewies Orbán den Wunsch, die Hebel der Macht eng im Griff zu behalten: Er reduzierte die Frequenz der Sitzungen des Parlaments; versuchte vergeblich, die Mehrheitsregeln zu senken; besetzte wichtige Stellen wie den Vorsitz der Nationalbank, den Chefankläger in Budapest und das nationale Radio mit Loyalisten; und attackierte die Presse. Im Großen und Ganzen war Orbán damit allerdings nur bedingt erfolgreich. Bei der nächsten Wahl 2002 monierten die Wahlbeobachter der OSZE lediglich, dass das Staatsfernsehen parteiisch sei, ansonsten lief die Wahl frei und fair ab.

Gut zu wissen: Warum der Rechtsruck seitens Orbáns und Fidesz? Politischer Opportunismus mag das genügend erklären, doch einige Beobachter vermuten, dass Orbán sich nie zu einer liberalen Bildungselite dazugehörig gefühlt habe. In Ungarn existiert eine Anekdote (sogar in Gedichtsform), wonach ein wichtiger Liberaler bei einem Empfang die Fliege des jungen Orbán 1994 vor versammelten Gästen korrigierte – eine herablassende Geste, welche dieser nicht verzeiht habe. 

Orbán, die Zweite

Orbán verlor die Wahl im Jahr 2002, akzeptierte das Ergebnis und gab die Macht ab, allerdings nicht ohne Zweifel am Wahlergebnis zu rühren. Die nächsten acht Jahre verbrachte er in der Opposition, bevor er 2010 wieder demokratisch legitimiert an die Macht zurückkehrte. Er und seine Berater waren zu dem Schluss gekommen, dass die fehlende Stärke der Exekutive ein Grund für die Probleme des Landes gewesen sei. Also entwarfen sie das “Nationale Kooperationssystem” (NER): Ein neuer sozialer Kontrakt, welcher laut Fidesz “Frieden, Freiheit und Wohlstand” kreieren solle und dafür die staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen stärker unter die Kontrolle der Partei bringen musste. Die Idee dahinter formulierte Orbán vor seinem Wahlsieg 2010 folgendermaßen: “Wir müssen nur einmal gewinnen, aber dann deutlich”.

Das gelang. Orbáns Wahlsieg 2010 brachte ihm eine Supermehrheit ein, mit welcher er fast nach Belieben regieren konnte. Er setzte ohne Rücksprache mit der Opposition oder der Bevölkerung eine neue Verfassung durch, welche das traditionelle Familienbild, das Christentum und andere sozialkonservative Elemente festhielt. Im Folgenden übernahmen Orbán und seine Fidesz immer weitere Teile des Staates. Um das zu legitimieren, setzten sie auf den oben erwähnten Populismus, welcher sich häufig gegen diffuse “Globalisten”, die EU, Feinde im Inneren und – kaum verhohlen antisemitisch – George Soros richtete. Daneben fuhr Orbán eine Politik, welche unpopuläre Maßnahmen möglichst vermied und mit Geldgeschenken sowie vorzeigbaren Investitionsprojekten aufwartete.

Justiz

Die Justiz war eines der ersten Ziele der Orbán-Regierung. Er übertrug seiner Regierung mehr Kontrolle bei der Auswahl von Verfassungsrichtern und nahm dem Gericht die Kompetenz, Gesetze mit Haushaltsbezug zu überprüfen. Er ersetzte eine unabhängige Aufsichtsbehörde für das Justizsystem mit einer neuen Stelle, welche eine Loyalistin – die Ehefrau eines Fidesz-Abgeordneten – anführte. Nachdem er 274 Richter in den Ruhestand geschickt hatte, durfte dieselbe Stelle die Vakanzen neu besetzen – was der Europäische Gerichtshof als illegal bewertete. 2020 stärkte die Regierung das Oberste Gericht, die Curia, und 2021 besetzte es deren Führung mit dem Orbán-Loyalisten Zsolt Andras Varga.

Medien

Die Medien eroberte Orbán früh: Gleich 2010 führte er eine Aufsichtsbehörde ein, welche von einem Fidesz-Mitglied geleitet wurde. Sie durfte Inhalte regulieren, Strafen aussprechen und sogar Medien verbieten, falls sie “unausgeglichene” oder “amoralische” Inhalte produzierten. Die Staatsmedien wurden derweil unter einem Konstrukt namens MTVA zentralisiert und effektiv der Kontrolle der Regierung unterstellt. Auf nicht-staatliche Medien nahm Fidesz mittels befreundeter Unternehmer Einfluss. Sie gründeten neue Medien und kauften bestehende auf.

Die sogenannte Central European Press and Media Foundation (CEPMF), 2018 gegründet, fusionierte 28 Firmen mit rund 500 Zeitungen. Angeführt wird sie von Fidesz-Unterstützern und Orbán-Loyalisten. Die Transaktion wurde dadurch ermöglicht, dass die Orbán-Regierung die CEPMF vom Wettbewerbsrecht ausnahm, da sie von “nationaler strategischer Bedeutung” sei. Eine Klage dagegen scheiterte vor dem Verfassungsgericht. Die wenigen verbleibenden unabhängigen Journalisten werden von den Behörden drangsaliert, etwa durch Lizenzentzug, oder operieren nur noch online.

Gut zu wissen:  2021 fanden Investigativjournalisten heraus, dass rund 300 ungarische Journalisten und Aktivisten durch die israelische Spionagesoftware Pegasus beschattet worden waren. Die Recherche verdächtigt dahinter die ungarische Regierung. Die ließ die nationale Datenschutzbehörde prüfen, doch die ebenfalls von Orbán-Loyalisten kontrollierte Institution erkannte kein Fehlvergehen.

Wahlen

Im Umgang mit dem Wahlprozess war Orbán bislang verhältnismäßig vorsichtig. Direkte Manipulation scheint es nicht zu geben und die Wahlen sind frei, wenn auch unfair. Die Regierung änderte allerdings mehrfach das Wahlrecht, passte Wahldistrikte an und verschob das Wahlsystem stärker hin zu einem Mehrheitswahlrecht, welches der größten Partei – meist Fidesz – zugutekam. Plötzliche Änderungen direkt vor den Wahlen 2018 und 2022 dienten offenbar dazu, die Strategie der Opposition zu stören.

NGOs

Gegen die ungarische Zivilgesellschaft und NGOs geht Fidesz spätestens seit 2017 legislativ vor. Damals zwang ein Gesetz sämtliche NGOs mit Geldern aus dem Ausland, sich als “ausländisch finanzierte Organisationen” zu registrieren – durchaus ähnlich zum russischen “Ausländische Agenten”-Gesetz. Das “Stop Soros”-Gesetz 2018, bezogen auf George Soros, kriminalisierte es, Asylbewerber zu unterstützen. 2021 verpasste die Regierung sich (genauer: der nationalen Auditbehörde) mehr Macht, NGOs und ihre Ausgabentätigkeiten genauer prüfen zu dürfen. 2023 verabschiedete Fidesz dann das “Souveränitätsschutzgesetz” (SPA), welches noch weitreichendere Zugriffsmöglichkeiten gegen NGOs und vermeintliche “ausländische Akteure” bietet. Es bleibt in entscheidenden Stellen sehr vage, was viel Rechtsunsicherheit kreiert, da es sehr weitreichend einsetzen ließe. Es wurde etwa bereits gegen Transparency International eingesetzt.

Aus Ungarn in den Rest der Welt

Die ungarische Erfahrung ist eine Blaupause für andere Länder. Nun ist es nicht so, dass aufstrebende Autokraten ohne Orbán nicht gewusst hätten, was sie tun müssen. Ungarn ist allerdings insofern besonders, als es tatsächlich eine recht funktionierende, ernsthafte Demokratie war – weitaus konsolidierter als Länder wie Russland, El Salvador oder Venezuela. Am besten geeignet ist der Vergleich mit der Türkei, Polen oder Indien. Drei ernsthaft demokratische Länder, in welchen die Regierungen ihre Kontrolle über relevante Institutionen vertief(t)en. Es wäre keine Überraschung, wenn sie sich darin auch von Orbáns Erfolg in Ungarn inspirieren ließen.

Um den Freedom House-Index heranzuziehen: Ungarn erreichte 1990 nach Jahrzehnten an sowjetischer Hegemonie den Status “Frei”. Seit 2019 ist es wieder auf “Teilweise Frei” zurückgefallen. Unter den EU-Staaten ist Ungarn der mit Abstand am schlechtesten bewertete Staat und der einzige, welcher nicht als “Frei” gilt. Dabei bezieht sich der Freedom House-Index speziell auf politische Rechte und zivilgesellschaftliche Freiheiten, erfasst also noch nicht einmal das gesamte Ausmaß der Orbanisierung.

Orbanisierung in den USA_

(6 Minuten Lesezeit)

Trump trifft Leiter konservativer Thinktanks, 2017. Quelle: Official White House Photo, wikimedia

Die USA stehen womöglich vor ihrer eigenen Orbanisierung. Die Ähnlichkeiten beginnen schon beim “Vorspiel”: Wie auch Orbán stand Trump einst eher der liberalen Fraktion des Landes nahe; wie auch Orbán hatte Trump eine kontroverse erste Amtszeit, welche Anzeichen eines demokratischen Verfalls bot, aber wenig davon tatsächlich einleitete; und wie auch Orbán kehrt Trump mit einer deutlich klareren ideologischen Basis und mehr institutioneller Erfahrung ins Amt zurück.

Die Trumpisten

Wenn in den USA von “Trumpisten” die Rede ist, so meint das nicht einfach die Wähler des baldigen Präsidenten oder seinen engsten Beraterzirkel. Die Trumpisten sind ein Kosmos aus Personen und Einrichtungen, welche bei aller Diversität in der Regel für einen isolationistischen bzw. außenpolitisch transaktionalen, nationalistischen, religiös-sozialkonservativen und mitunter autoritären Kurs stehen. Sie schließen die Reihen hinter Trump, doch benötigen ihn vermutlich nicht mehr zwingend zur Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit.

Gemein ist den Trumpisten, dass sie die Mission erkennen, die USA vor einer “liberalen Agenda” bewahren zu müssen. Diese kontrolliere derzeit wichtige Institutionen wie die Regierungsbehörden, die Medien, Universitäten und Regulierungsbehörden. Unter die “liberale Agenda” fallen dabei Themen wie Migration, Klimapolitik und Waffengesetze, aber am stärksten progressive gesellschaftspolitischen Prioritäten, oftmals entlang identitätspolitischer Achsen: LGBTQ, Rassismus, Sexismus, Islamophobie, Transrechte, etc. Daran entbrennt sich ein oftmals beschworener, empirisch schwierig zu prüfender “Kulturkrieg”, in welchem sich zwei sehr unterschiedliche Gesellschaftsvisionen für Amerika zunehmend kompromisslos und moralisierend gegenüberstehen.

Nach Ansicht der Trumpisten ist die liberale Kontrolle über wichtige Institutionen nicht nur der Grund für die meisten Übel im modernen Amerika, sondern auch, warum Trump in seiner ersten Amtszeit abseits einer Steuersenkung kaum etwas Relevantes innenpolitisch bewegt bekam. In den Worten der konservativen Heritage Foundation, welche inzwischen tief im Lager der Trumpisten steht: “Der lange Marsch des kulturellen Marxismus durch unsere Institutionen ist vollzogen. Die Regierung ist ein Ungetüm, das sich gegen die amerikanischen Bürger und konservative Werte richtet, und die Freiheit ist so stark bedroht wie noch nie“.

Project 2025

Die Worte der Heritage Foundation sind übrigens Teil des Vorworts von “Project 2025”. Das Konzeptpapier hat im US-Wahlkampf einen dezent mythologischen Charakter angenommen, da es von Kritikern und der Demokratischen Partei als Beweis für autoritäre Umsturzpläne des Trump-Lagers interpretiert wurde. Im Kern plädiert das Project 2025, aufgesetzt von der Heritage Foundation und Dutzenden konservativen Organisationen, dafür, die nationale Regierung umzustrukturieren und deutlich mehr Macht unter Donald Trump zu konsolidieren. 

So soll die neue Regierung etwa Zehntausende Beamten zu “political appointees” umklassifizieren und daraufhin durch Loyalisten ersetzen. Das soll den Einfluss des Präsidenten und der Trumpisten durch einen als feindselig empfundenen Beamtenapparat hindurch festigen und auch gegen künftige Regierungswechsel verteidigen. “Personnel is policy“, erklärt das Vorwort zur Prämisse, also “Personal ist Politik”. Mehrere einflussreiche, bislang weitestgehend unabhängige Behörden wie das Justizministerium, das FBI, der Grenzschutz, die Telekommunikationsbehörde FCC, die Wettbewerbsbehörde FTC und das Nationale Gesundheitsinstitut NIH sollen stärker parteilich kontrolliert werden. Das Bildungsministerium soll komplett abgeschafft werden. 

Die neu gewonnene Kontrolle soll, wenig überraschend, für das Vorantreiben christlich-konservativer, wirtschaftsliberaler und nationalistischer Prioritäten genutzt werden. Und zum Zurückdrängen linker, progressiver Interessen. Das reicht von relativ trockenen Themen wie Steuersenkungen und weniger Sozialstaat über den Abbau von Klimaregularien bis hin zu exotischen Forderungen: Pornografie müsse verboten werden, da sie nur von “Kinderschändern” und “Frauenfeinden” genutzt werde.

Trump dementierte öffentlich, das Konzeptpapier zu kennen (was eine Falschaussage war) und distanzierte sich ausdrücklich von dessen Forderungen. Letzteres mag authentisch sein. Die auffällig hohe personelle Nähe zwischen dem Trump-Zirkel und Project 2025 deutet allerdings an, dass Prioritäten und Methoden des Papiers es auch so in die Regierungspolitik schaffen werden. Project-2025-Präsident Kevin Roberts nimmt Trump die öffentliche Distanzierung jedenfalls nicht übel: Diese sei eine “politische taktische Entscheidung”.

Schon in seiner ersten Amtszeit hatte Trump erkennen lassen, dass er sich ein machtvolleres Präsidentenamt wünscht. Damals war er allerdings unerfahren, ohne Basis und im Weißen Haus umgeben von Berufspolitikern sowie klassischen Konservativen. In seine zweite Amtszeit geht er nicht nur mit einem viel stärkeren demokratischen Mandat, sondern auch mit einem deutlich erfahreneren Beraterstab und einer starken Basis aus überzeugten Ideologen. Sowohl für Trump als auch diesen Zirkel sind Anreiz und Befähigung, die Hebel des Staates stärker zu ergreifen, gestiegen.

Gut zu wissen: Der ideologische Unterbau von Project 2025 und anderen Trumpisten lautet “unitary executive theory“, oder Theorie der unteilbaren Exekutive. Diese stipuliert, dass der Präsident inzwischen zu stark durch die Justiz, den Kongress, den Beamtenapparat und weitestgehend unabhängige Regulierungsbehörden eingeschränkt sei, um sein demokratisches Mandat zu erfüllen. Also müsse er sich diese Institutionen unterordnen. Die unitary executive theory ist kontrovers; viele Rechtsgelehrte sehen sie als verfassungswidrig. Trump widerspricht: Seine “Agenda 47” (bezogen darauf, dass er als 47. Präsident ins Amt zurückkehrt) spricht offen davon, sich Regulierungsbehörden unterordnen zu wollen, “wie es die Verfassung verlangt”.

Droht eine Orbanisierung?

Was das genau für die USA bedeutet, ist nicht einfach vorherzusagen. Die USA sind nicht Ungarn, El Salvador oder Georgien. Sie sind weitaus weniger zentralisiert – viel Macht liegt bei den Bundesstaaten – und sie besitzen stärkere Institutionen. Auch die stärksten Institutionen lassen sich allerdings attackieren, schwächen und final erobern.

Klar ist, dass Trump und die Republikaner keinen Hehl daraus machen, dass Orbán für sie ein großes Vorbild ist. Er gilt ihnen als Verteidiger christlich-konservativer Werte gegen einen Ansturm liberaler Dekadenz; der demokratische Verfall wird wahlweise ignoriert, als notwendiges Übel abgetan oder als erstrebenswert bezeichnet. Trumps Vizepräsident, J.D. Vance, erklärte, dass Orbán “smarte Entscheidungen, von denen wir in den USA lernen können” gemacht habe. Und Trump selbst lobte den Premier überschwänglich: “Es gibt niemanden, der besser, schlauer oder ein besserer Anführer als Viktor Orbán ist. Er ist fantastisch”. Und die Heritage Foundation spricht davon, dass das moderne Ungarn nicht einfach irgendein Modell für konservative Staatsführung sei, sondern das Modell.

Der ungarische Premier ist Stargast bei konservativen Konferenzen und im Gegenzug pilgern amerikanische Konservative regelrecht nach Budapest, um Orbán zu lauschen oder von seinem “Playbook” zu lernen. Bei der CPAC-Konferenz 2022 bot er amerikanischen Konservativen etwa unter Jubel einen 12-Punkte-Plan zur Konsolidierung der Macht. “Habt eure eigenen Medien”, so Orbán unter anderem, “das ist der einzige Weg den Wahnsinn der progressiven Linken aufzuzeigen”. Er sprach außerdem davon, dass man die gemeinsamen “Truppen” koordinieren müsse, um Washington und Brüssel zu “erobern”. Eine Metapher, selbstverständlich, aber eine, welche das antagonistische Verhältnis zu verachteten “liberalen Eliten” darstellt.

Gut zu wissen: Empfangen werden die Republikaner in Ungarn meist vom Donau-Institut, praktisch das Pendant zur Heritage Foundation. Es pflegt die ideologischen Kontakte der Orbán-Regierung zum Rest der Welt.

Die Partei Orbáns

Nur wenige Republikaner äußern sich öffentlich kritisch über den neuen Polarstern der amerikanischen Konservativen mit seinem demokratischen Verfall und der offenen Nähe zu Russland und China. Darunter ist Mitch McConnell, langjähriger Spitzenrepublikaner, welcher als Architekt der modernen republikanischen Partei gelten würde, wenn es Trump nicht gäbe. Er warnt: “Ich habe schon früher über Ungarns jahrzehntelanges Abdriften in die Umlaufbahn der entschlossensten Gegner des Westens gesprochen. Das ist ein alarmierender Trend. Und niemand – schon gar nicht die amerikanischen Konservativen, die zunehmend einen Personenkult um Ministerpräsident Viktor Orbán betreiben – kann so tun, als ob er das nicht sähe.

Eine Realität der Orbanisierung ist, dass sie selbstverstärkend wirkt. Denn wer erst einmal damit anfängt, die Exekutive zu stärken, der kann sie umso schlechter im Anschluss an den politischen Gegner zurückgeben. In den Worten eines polnischen Politikers vor der Wahl 2023, zitiert vom europäischen Thinktank ECFR: “In dieser Wahl geht es darum, ob wir ins Gefängnis gehen oder sie ins Gefängnis gehen”. Und bekanntermaßen mag es niemand, ins Gefängnis zu gehen.

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