Wie steht es um die Adoption von KI?

Generative AI hat derzeit einen nur leichten Fußabdruck in der Weltwirtschaft. Die Geschichte gibt Grund zur Annahme, dass sich das ändern dürfte.
14.05.2024

Stand der Adoption | Transformative Technologien
(15 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Die Adoption von Generative AI und KI im Allgemeinen verläuft derzeit eher schleppend.
  • Eine relativ kleine Zahl von Firmen scheint vorzupreschen, der Rest bleibt zurückhaltend, experimentiert höchstens. Ein Grund: Qualitätsmängel.
  • Auch makroökonomisch ist Generative AI derzeit im Grunde irrelevant.
  • Eine wichtige Metrik für Technologien: Ihr Effekt auf das Produktivitätswachstum, als Proxy für zukünftige Lebensstandards.
  • Transformative Technologien zeigen ihr Produktivitätspotenzial allerdings meist erst nach Jahrzehnten: So lange dauert es, bis sie durch die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft hindurchwirken und mit anderen Technologien interagieren konnten.
  • Beispiele dafür boten sowohl die Industrialisierung als auch die Computerära und das Internet.
  • Es gibt trotz der schleppenden Adoption von Generative AI und KI im Allgemeinen also noch immer Anlass, langfristig transformative Effekte zu erwarten – wenn auch natürlich keine Garantie dafür.

Der Stand der Adoption_ 

(8 Minuten Lesezeit)

Viel Aufsehen

Seit Ende 2022 ist Künstliche Intelligenz in aller Munde. Damals stellte OpenAI seinen Chatbot ChatGPT vor und injizierte damit Adrenalin in das Forschungsfeld der Generative AI, welche bis dahin keiner der bekannteren Teilbereiche der KI-Forschung gewesen war. Große Sprachmodelle (LLMs), welche die Basis für Generative-AI-Anwendungen bildeten, wurden zum begehrten Investmentobjekt. Sämtliche große Techkonzerne bauten ihre eigenen Modelle oder investierten in Produkte kleinerer Hersteller. Das Feld belebte die Aktienmärkte und stoppte eine Dürre bei Startup-Finanzierungen. Nicht nur der “Leuchtturm” OpenAI profitierte, sondern auch bis dahin fast völlig unbekannte Entwickler von LLMs wie Antrophic, Mistral AI und Aleph Alpha.

Abseits der Techwelt sorgte Generative AI für viel Aufregung in Medien, Gesellschaft und Politik. KI selbst ist zwar bereits sieben Jahrzehnte alt und macht seit mindestens 12 Jahren bemerkenswerte Fortschritte, doch nie zuvor bekam die Öffentlichkeit ein dermaßen einfach zugängliches, derart leistungsfähiges Produkt vorgesetzt. ChatGPT stellte den Rekord darin auf, wie schnell eine Software 1 Million Nutzer erreichte und dürfte heute nahe an der 200-Millionen-Marke sein. 

Doch wie steht es Mitte 2024 um die Adoption von Generative AI im Unternehmensbereich und ihre Effekte auf die Volkswirtschaft? In aller Kürze: Die kurzfristigen Effekte wirken bislang verhalten, doch das bedeutet nicht, dass die Technologie nicht als transformativ einzustufen wäre.

Gut zu wissen: Dieser Explainer wird seine späteren Diskussionen zu den Produktivitätseffekten von Technologie vor allem auf den US-Kontext beziehen. Der Grund: Die Datenverfügbarkeit dort ist deutlich besser, außerdem wirkten moderne Technologien oft früher in den USA als in Deutschland und Europa, womit ein längerer Verlauf beobachtbar ist.

In früheren Explainern erklärten wir außerdem Künstliche Intelligenz grundlegend und die KI-Schmiede OpenAI sowie die existenziellen Risiken rund um KI. Beide Links findest du ganz am Ende noch einmal.

Sehr viel KI, nicht so viel KI

Welcher Anteil der globalen Firmen auf Generative AI setzt, ist nicht ganz einfach einzuschätzen. In einer globalen Umfrage der Strategieberatung McKinsey aus Frühjahr 2024 berichten 65 Prozent der Befragten, dass ihre Unternehmen regelmäßig Generative AI einsetzen. Allerdings kann das schnell zur Fehlinterpretation einladen: In derselben Umfrage berichten 72 Prozent der Befragten von einem regelmäßigen Einsatz von KI allgemein (also nicht nur Generative AI). Dass keineswegs drei Viertel aller globalen Firmen KI in einem produktivitätsrelevanten Maße einsetzen, versteht sich fast von selbst: Weder der durchschnittliche Handwerksbetrieb noch ein Pflegedienst oder eine Anwaltskanzlei dürften KI nutzen, weder in Industrieländern und schon gar nicht in Entwicklungsländern.

Ein Erklärungsansatz ist, dass McKinsey sich in seiner Umfrage auf digitalaffine “knowledge workers” in entsprechenden Industrien konzentriert hatte, auch wenn es in der Methodologie heißt, dass die “volle Spanne” von Sparten abgedeckt worden sei. Oder Befragte wählten eine sehr breite Interpretation von KI: Auch der Spotify-Algorithmus und die Google-Suche sind schließlich Anwendungsfälle für künstliche Intelligenz. Dasselbe Problem hat eine IBM-Studie, nach welcher 32 Prozent aller deutschen und 44 Prozent aller globalen Unternehmen “aktiv” KI einsetzen würden – ebenfalls eine unplausibel hohe Zahl. Eine Studie von Microsoft und LinkedIn ist dagegen ausdrücklicher: Sie findet unter “knowledge workers” eine Adoptionsrate von Generative AI von 75 Prozent. Das ist realistischer.

Versuche, sich der volkswirtschaftsweiten Zahl anzunähern, gibt es etwa seitens des US-Zensusbüros. Es erkannte im Frühjahr 2024 bei 5,4 Prozent der amerikanischen Firmen die Nutzung von künstlicher Intelligenz. In Kanada kommen die Behörden auf 6 Prozent. In Großbritannien liegt der Wert mit 20 Prozent deutlich höher, allerdings interpretiert die Frage die “Nutzung” von KI auch breiter. Gewichtet man die US-Zensusdaten nach Beschäftigung, steigt der Anteil etwas. Das liegt daran, dass die Größe der Firmen positiv mit der KI-Nutzung korreliert (mit einer Ausnahme: sehr kleine Firmen mit bis zu 4 Mitarbeitern nutzen ebenfalls überproportional oft KI). So berichten 9 Prozent der Mitarbeiter in großen Firmen mit über 250 Mitarbeitern von einer regelmäßigen KI-Nutzung.

Immerhin: Ein Positivtrend scheint vorzuliegen. Laut McKinsey fluktuierte die Adoption von KI seit 2018 zwischen 47 und 60 Prozent, 2024 wuchs sie auf besagte 72 Prozent. Die Nutzung von Generative AI im Speziellen verdoppelte sich binnen eines Jahres von 33 auf 65 Prozent. Auch die konservativeren Werte des US-Zensus stiegen, nämlich von 3,7 Prozent im Herbst 2023 auf nunmehr 5,4 Prozent.

Nicht ganz so intelligent

Dort, wo Generative AI eingesetzt wird, ist es meist bei Hilfstätigkeiten der Fall. Der Einsatz im Kundensupport erscheint am häufigsten, sei es gegenüber Endkunden oder auf internen Plattformen, sprich als Navigator für das firmeneigene Intranet. Auch im Marketing wird die Technologie eingesetzt, sei es bei der Personalisierung von Angeboten oder der Erstellung von marketingrelevantem Content. Geht es um KI im Allgemeinen, nennt das US-Zensusbüro vier große kommerzielle Einsatzfelder: Marketingautomation, Chatbots, Sprachverarbeitung (Natural Language Processing) und Daten- bzw. Textanalyse. 

Ein Grund für die schleppende Adoption ist, dass Generative AI in vielen Bereichen einfach sehr schwierig anzuwenden ist. Unsere erwähnten Handwerksbetriebe oder Pflegedienste sind dafür gute Beispiele. Doch selbst dort, wo sie funktioniert, tut sie das nicht immer gut genug. Frühe Begeisterung rund um beeindruckende Sprachfähigkeiten von ChatGPT sowie “emergente”, also unerwartete, Fähigkeiten wie Coding und Aktienmarktanalyse ist ein wenig abgeklungen. Immer mehr Firmen beklagen Ungenauigkeiten und technische Limitationen. In der McKinsey-Umfrage nennen 63 Prozent der Firmen diesen Faktor ein “relevantes Risiko”, 7 Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. Andere Faktoren, wie mögliche Urheberrechtsverletzungen oder Cybersecurity, werden als deutlich weniger relevant eingestuft.

Auch anekdotisch wird das unterstrichen. McDonalds Versuche, Generative AI einzusetzen, um Kundenbestellungen entgegenzunehmen, führte zu skurrilen Resultaten. Eine Bestellung wurde von der KI etwa um 222 USD an Chicken-Nuggets ergänzt. Beim Heidelberger Startup Aleph Alpha, Deutschlands größter Hoffnung im Bereich großer Sprachmodelle, berichten Insider, dass die eigene Technologie nicht gut funktioniere und von Kunden kaum eingesetzt werde. Das Techstartup könnte zur Lidl-Tochter geraten, so offenbar einige Sorgen.

Die whathappened-Redaktion hat ihre eigenen Erfahrungen mit Generative AI gemacht: Für inhaltliche Fragen, insbesondere bei komplexen Zusammenhängen, ist ChatGPT selbst in der Bezahlversion viel zu instabil. Beim Korrekturlesen ist es überraschenderweise oft nutzlos, übersieht die allermeisten Fehler. Die Internetsuche des KI-Tools Perplexity ist nützlich, insgesamt jedoch selten einem gekonnten Googeln überlegen. Und für die Datenaufbereitung ist ChatGPT hilfreich, denkt sich jedoch gelegentlich Zahlen oder Formeln aus, die dort eigentlich nichts verloren haben – die inzwischen prominenten “Halluzinationen” der Generative-AI-Systeme. Dass die Tools ihre Fähigkeiten überhaupt in diesem Maße besitzen, ist beeindruckend. Doch für viele Unternehmen sind sie bisher nicht kompetent oder zuverlässig genug, um sie jenseits von Experimenten tatsächlich kommerziell einzusetzen. Das sieht auch die Großbank Goldman Sachs so: Die Technologie sei “noch nirgendwo nahe dessen, wo sie sein müsste, selbst für […] grundlegende Aufgaben”.

Gut zu wissen: Der größte (und derzeit einzige nennenswerte) Einsatzbereich für KI seitens der whathappened-Redaktion bleibt die Datenaufbereitung für ihre selbstgemachten Grafiken. So lässt sie ChatGPT gelegentlich Daten extrahieren, umwandeln und in bestimmten Formaten ausgeben, bevor sie mit ihnen weiterarbeitet. Theoretisch kann ChatGPT auch eigens Grafiken erstellen oder die Daten finden, doch da wären wir wieder bei der Qualitätsfrage: Zu oft halluziniert das Programm bei diesen Schritten, was viel Prüf- und Korrekturarbeit schafft.

Für einige eine Goldgrube

Die Tatsache, dass whathappened noch nicht in der KI-Revolution angekommen ist, bedeutet nicht, dass die Technologie in Einzelfällen nicht bereits eingeschlagen hätte. Nvidia ist auf dem Rücken eines KI-Booms zur zeitweise wertvollsten Firma der Welt aufgestiegen (unser Explainer zur Firma erklärt mehr). Ihr CEO Jensen Huang verzwanzigfachte sein Vermögen von 4 auf 83 Milliarden USD. OpenAI-Gründer Sam Altman ist zu einer der gefragtesten Personen im Tech-Bereich aufgestiegen und diskutiert mit arabischen Staatsfonds über 7 Billionen USD schwere Pläne, den globalen Chipsektor aufzuwirbeln. Der US-Krankenversicherer Anthem hat offenbar 10 Millionen Kundentelefonate automatisieren können. Und das schwedische Fintech Klarna erklärte, dass ein KI-Assistent die Arbeit von 700 Kundendienstmitarbeitern erledige, weswegen die Belegschaft reduziert werde.

Allerdings geht es hier eben um Einzelfälle, welche meist mit Zukunftserwartungen zusammenhängen: Die Erwartung, dass der KI-Sektor groß wird, treibt Kunden zu Nvidia. Dieselbe Erwartung lässt die Aktienkurse sowie das Wagniskapital im Bereich KI steigen (und damit auch das Vermögen ihrer Akteure). Und Adoption-Erfolgsstorys wie Klarna sind manchmal mehr Schein als Sein: Das Fintech litt in den letzten 2 Jahren massiv unter der Zinswende; die sich lange abgezeichneten Stellenkürzungen als vorwärtsblickende Technologiekonsequenz zu präsentieren macht sich besser, als sie als Folge eines schwachen Geschäfts zu benennen.

…doch auf Makroebene kaum erkennbar

Zoomen wir hoch auf die makroökonomische Ebene, gibt es bislang wenig zu sehen. Wie der Economist resümiert, schlägt sich Generative AI bislang kaum auf dieser Flughöhe nieder: Produktionsoutput pro Arbeiter, Firmenumsätze, Arbeitskosten pro Stunde, Jobfluktuation – ein KI-Boom lässt sich hier nicht entdecken. Selbst die Dynamik bei Investitionen ist debattierbar: Während die großen Techkonzern derzeit Hunderte Milliarden USD in künstliche Intelligenz investieren, dürften die Anlageinvestitionen der Firmen im US-Leitindex S&P500 dieses Jahr fallen. Nur auf IT- und Software-Investitionen bezogen, steigen sie um relativ schwache 5 Prozent. Eine kleine Vorhut treibt die KI voran, der Rest hält derzeit Distanz.

Womöglich kein 10-Jahres-Wunder

Noch ist der Effekt von Generative AI auf die Wirtschaft also limitiert. In Anbetracht der kurzen Zeit, welche seit der Markteinführung von ChatGPT Ende 2022 vergangen ist, darf das nicht überraschen. 1,5 Jahre sind nicht genug, damit eine neue Technologie in nennenswertem Maße durch die Wirtschaft wirken kann, geschweige denn “transformativ” wirken könne. Doch auch für die Effekte über ein Jahrzehnt melden sich Skeptiker zu Wort.

Daron Acemoglu, praktisch ein Prophet für das interdisziplinäre Feld der Institutionenökonomik, zweifelt, dass KI unser Leben bis in die mittleren 2030er maßgeblich verändern wird. Er erwartet, dass KI binnen zehn Jahren 4,6 Prozent aller Aufgaben übernehmen und die Produktionskosten um durchschnittlich 14,4 Prozent senken könne. Das bedeute einen Anstieg der Gesamtproduktivität (total factor productivity) um 0,66 Prozent über zehn Jahre oder 0,06 Prozent jährlich. Da KI mit einem Investmentboom einherginge, läge der Effekt auf das globale BIP bei bis zu 1,5 Prozent. Das ist nicht viel. Und laut Acemoglu womöglich sogar bereits auf der optimistischeren Seite: Die aktuelle Qualität von Generative AI speise sich aus der Erfahrung in Feldern, in welchen sie sich relativ gut einsetzen lässt; viele der “4,6-Prozent-Aufgaben” eigneten sich jedoch weniger gut für KI-Automatisierung, womit der Produktivitätsanstieg geringer ausfallen könnte.

Gut zu wissen: Warum interessiert uns Produktivitätswachstum so sehr? Es beschreibt unsere Fähigkeit, aus gleichem Input mehr Güter und Dienstleistungen zu kreieren bzw. für gleichen Output weniger Ressourcen zu benötigen. Das korreliert langfristig mit dem Gehaltspotenzial und ist ein guter Proxy für das Lebensstandardpotenzial, also wie viel von beidem in einer Volkswirtschaft nachhaltig möglich ist (das tatsächliche Gehaltswachstum hing in den letzten Jahrzehnten in fast allen Industrieländern meist hinterher). Produktivitätswachstum ist damit keine verstaubte Ökonomenmetrik, sondern gerade auf lange Sicht ein Indikator für das potenzielle Wohlergehen einer Gesellschaft – umso mehr, wenn sie altert und an Erwerbsbevölkerung verliert.

Wie transformative Technologien funktionieren_

(7,5 Minuten Lesezeit)

Ist GPT eine GPT?

Acemoglus Skepsis, wie übrigens auch jene vieler anderer, hat jedoch einen wichtigen Haken: Sie bezieht sich auf die Kurz- und Mittelfrist und sie trennt nicht immer sauber zwischen Generative AI und KI im Allgemeinen. Klar ist, dass Generative AI heute einen kaum messbaren Effekt auf die Volkswirtschaft hat. Ihr Effekt in den nächsten zehn Jahren wird zu hohem Maße eine Funktion der heutigen Technologie sein, schließlich bedingt diese, wie wir KI einsetzen können. Doch jeder Zeitrahmen darüber hinaus ist deutlich schwieriger einschätzbar. Dabei ist gerade dieser wichtig, um zu verstehen, wie “transformativ” eine Technologie tatsächlich ist.

Es braucht oft mehrere Jahrzehnte, bevor sich die Effekte einer “general-purpose technology” (Querschnittstechnologie) vollends zeigen. Solche Technologien, ironischerweise GPT abgekürzt, wirken radikal auf die gesamte Wirtschaft ein (und nicht nur einzelne Produkte oder Sektoren) und verändern Gesellschaften nachhaltig. Selbst die Industrialisierung sorgte erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts für einen kräftigen, nachhaltigen Anstieg der Realeinkommen in Westeuropa und den USA – mehrere Jahrzehnte nach der zweiten industriellen Revolution (ab ca. 1870) und fast anderthalb Jahrhunderte nach der ersten industriellen Revolution (ab ca. 1760).

Ein paar Jahrzehnte Geduld mitnehmen

Die Dampfmaschine, eines der zentralen Produkte der Industrialisierung, wurde 1712 erfunden. Es sollte 82 Jahre dauern, bis sie erstmals eine Eisenbahn antrieb. Diese Eisenbahn war anfangs etwas, das nur wenigen Sektoren zugutekam, vor allem Rohstofffirmen und den Eisenbahnbetreibern selbst. Mit dem Transport von Gütern, Post und auch Menschen nahm die Technologie schnell eine sichtbare, transformative Rolle in der Gesellschaft ein. Und doch blieb der direkte wirtschaftliche Effekt lange klein, ein Produktivitätssprung war nicht erkennbar. Im Hintergrund half die Eisenbahn allerdings, zugleich die Urbanisierung voranzutreiben, als auch die Dezentralisierung von Industrien in entferntere Landesteile, welche zuvor nicht optimal in die Volkswirtschaft eingebunden waren. Diese Effekte würden Jahrzehnte benötigen, bis sie sich völlig entfaltet hatten und die industrialisierte Welt hervorbrachten.

Querschnittstechnologien werfen ein weites Netz. Das dauert allerdings ein Weilchen – und mittendrin erkennt man nicht einmal unbedingt, welcher transformative Prozess gerade im Hintergrund stattfindet.

Das Produktivitätsparadox

Ein jüngeres Beispiel ist die Automatisierungswelle in den 1970ern und 80ern, welche mitunter mit dem “Produktivitätsparadox” umschrieben wurde. In den USA wurde damals massiv in die relativ neuartige Computertechnologie investiert, doch das Produktivitätswachstum stieg nicht etwa, sondern sank. Der Nobelpreis-prämierte Ökonom Robert Solow, welcher Ende 2023 verstarb, bot ein passendes Zitat: “Man kann das Computerzeitalter überall sehen, außer in den Produktivitätsstatistiken”. Tatsächlich schien die IT-Revolution die Gesellschaft gehörig umzukrempeln, doch sie veränderte nicht, wie effektiv wir laut Statistik darin waren, Güter und Dienstleistungen herzustellen.

Wie ließ sich das erklären? Eine der besten Erklärungen ist und war die Verzögerungshypothese. Technologien, vor allem transformative Querschnittstechnologien benötigen nun einmal Jahrzehnte, bevor sie sich großflächig bemerkbar machen. Wer in den 80ern nach Produktivitätssprüngen durch eine Technologie der 80er suchte, wurde nicht fündig. Wer allerdings ab den späten 90ern und frühen 2000ern maß, fand die Sprünge durchaus: Die Produktivität der Gesamtwirtschaft wuchs zwischen 1996 und 2000 mit 2,75 Prozent fast doppelt so schnell wie in den 25 Jahren davor und kaum ein großer Sektor erlebte so viel Produktivitätswachstum wie der IT-Sektor. Ein Zusammenhang zu den Computerinvestitionen der Vorjahrzehnte ist, gelinde gesagt, intuitiv.

Gut zu wissen: Jedes bisschen Produktivitätswachstum hat auf ein paar Jahre gerechnet einen hohen Effekt. Bei 1,5 Prozent Wachstum verdoppelt sich das Produktionspotenzial binnen 48 Jahren, bei 2,75 Prozent Wachstum bereits binnen 26 Jahren. Nimmt man proportional steigende Reallöhne an, was sowohl in den USA als auch in Europa bis vor einigen Jahrzehnten zutraf, würden diese Zeiträume auch eine Verdopplung der Lebensstandards signalisieren. In den letzten Jahrzehnten stiegen die Löhne allerdings deutlich unterproportional. Dafür gibt es mehrere Erklärungsansätze, welche sich meistens um gestiegene Arbeitgeber-Marktmacht und höhere Sozialabgaben drehen, doch teilweise auch an der Qualität des Arguments selbst rütteln. Das Thema wäre einen eigenen Explainer wert.

Es geht sogar noch weiter: Wer in den Firmen selbst, welche die Investitionen tätigten, nachprüfte, fand anfangs womöglich sogar Produktivitäts- und GewinnrückgängeDasselbe galt für die Gesamtwirtschaft, wo Produktivität und Einkommen in der Anfangsphase einer technologischen Welle schrumpfen können. Die Gründe für beides sind relativ ähnlich: Neue Technologien sind kompliziert und kommen ohne Erfahrungswerte; es gilt also viel über den Umgang mit ihnen zu lernen und viele Fehler zu machen – bei transformativen Technologien umso mehr. Sie überfordern oder ersetzen Arbeiter, welche erst mit besagter Verzögerung in neue Aufgaben, Stellen oder Sektoren wechseln. Sie überfordern Investoren, welche Geld in begeisterungsfähige Sackgassen und Betrügereien lenken und danach ein Weilchen lang vorsichtig bleiben.

Wo bleibt das Internet?

Das bringt uns zum InternetAuch hier sehen wir einen ähnlichen Prozess. War es anfangs eine reine Kuriosität, so begann in den 1990ern schnell die Kommerzialisierung. Ein großer Hype brach aus, welcher in die Dotcom-Blase führte, bei welcher viele junge Internetfirmen kollabierten und Aktienkurse einstürzten – Firmen und Investoren hatten sich verschätzt, weil sie die Technologie nicht richtig einschätzen konnten. Ungeachtet des Rückschlags wirbelte das Internet die Gesellschaft weltweit gehörig auf: Immer mehr Elemente des Alltags verschoben sich ins Web, Social Media und Datingapps strukturierten das Sozialleben um, Google und Wikipedia die Informationsfindung, E-Commerce veränderte Innenstädte und Smartphones wurden zur fünften Gliedmaße. Drumherum entstanden völlig neue Branchen, welche mitsamt ihrer Wertschöpfungsketten eine goldene Ära verbuchten. Millionen von Menschen, welche früh als Investoren, Gründer oder Mitarbeiter an dieser Entwicklung teilnahmen, wurden mit Reichtümern belohnt.

Und doch: Gesamtwirtschaftlich war sehr lange überraschend wenig vom Internet zu sehen. Das Produktivitätswachstum in den USA fiel bereits nach 2002 deutlich herab, von einem Hoch von 4,4 Prozent (2002) auf mäßige 1 Prozent (2006). Im Großteil der 2010er erlebten die USA gar ein Produktivitätswachstum unterhalb der 1 Prozent. Bereits ab 2011 begannen Ökonomen sich zu fragen, wo das Internet volkswirtschaftlich geblieben war, obwohl es doch kaum noch aus dem Alltag wegzudenken sei. Einige erklärten es damit, dass das Internet einfach keine sonderlich wichtige Technologie sei, nicht vergleichbar mit jenen der Vergangenheit (“Würdest du eher deine Toilette oder dein Smartphone aufgeben?”, fragte etwa der sich selbst als Nonkonformist verstehende Robert J. Gordon, welcher früher auch an Computern und heute an KI zweifelt). Andere argumentieren, dass das Internet sein Produktivitätswachstum durch Ablenkung am Arbeitsplatz wieder auffresse. Wieder andere kritisierten eher die Metrik als die Technologie: Die Messung des Produktivitätswachstums unterschätze neue Produkte, wie sie das Internet in Massen hervorgebracht hatte, und ihren Effekt auf das Wohlergehen.

Gut zu wissen: Bezogen auf das Argument, dass Produktivitätsstatistiken neue Produkte unterschätzen, liefert die britische Ökonomin Diane Coyle ein charmantes Beispiel: “Ich habe ein wunderbares statistisches Jahrbuch für das Vereinigte Königreich aus dem Jahr 1885, das 120 Seiten lang ist und sich fast ausschließlich mit der Landwirtschaft befasst, [und nur] 12 Seiten über Bergwerke, Eisenbahnen und Baumwollspinnereien [hat]” – obwohl ausgerechnet die letzten Sektoren zu dem Zeitpunkt rasant wuchsen und die Landwirtschaft zunehmend unwichtiger machten. “Wir sehen die Wirtschaft durch die Linse, wie sie in der Vergangenheit war, nicht wie sie heute ist”, so Coyle.

Das kann und wird in Teilen alles zutreffen. Doch die Chancen stehen nicht schlecht, dass es sich einmal erneut um die verzögerten Effekte einer doch transformativen Technologie handelt. Das Internet benötigte nun einmal einfach etwas Zeit, um allerlei Sektoren und Wertschöpfungsketten zu durchziehen, von den Menschen verstanden zu werden und in tatsächliche Produktivitätssprünge übersetzt zu werden. Das deutet sich auch in den Daten an: Zwischen 2017 und 2023 wuchs die US-Arbeitsproduktivität um durchschnittlich 1,66 Prozent. Nicht riesig, doch deutlich mehr als in den 10 Jahren davor. Dazu sei gesagt, dass die USA in den letzten 15 Jahren durch Inflationskrise, Covidkrise und Finanzkrise gingen. Vielleicht wäre die Produktivitätsentwicklung in den USA ohne das Internet deutlich schlechter ausgefallen.

Eine ungewollte Bestätigung der Verzögerungshypothese liefert übrigens auch die Tatsache, dass viele Analysten den Produktivitätsboom zwischen 1994 und 2005 auf das Internet bezogen. Wer sich daran erinnert, wie Websites damals aussahen (und wie wenige Prozesse tatsächlich mit dem Internet zu tun hatten), wird zustimmen, dass das unwahrscheinlich ist: Es dürfte sich um die späten Effekte der IT-Investitionen aus den 1970ern und 80ern gehandelt haben. Vielleicht ergeht es uns in Kürze mit KI genauso: Wir fehlattribuieren einen Produktivitätsanstieg (beispielsweise jenen, welcher in den USA seit 2017 erkennbar ist) zu KI-Anwendungen, obwohl er viel mehr mit der grundlegenderen Internetwirtschaft zu tun hat.

Ein kleines Fazit

In diesem Sinne muss die schleppende und ungleiche Adoption von KI und ihr scheinbar vernachlässigbarer volkswirtschaftlicher Effekt nicht bedeuten, dass es dabei bleibt. Im Gegenteil: Vielleicht ist es das Zeichen einer klassischen transformativen Technologie, dass ihre gesellschaftlichen Auswirkungen weitaus früher spürbar sind, als ihre wirtschaftlichen; dass sie anfangs zwar einer kleinen Gruppe zu Reichtum verhilft, doch noch nicht so recht der ganzen Volkswirtschaft; und, dass sie mit der Zeit und fast ein wenig unbemerkt doch eine völlig neue Ära anstößt.

Die whathappened-Redaktion mag den Spruch, wonach man gerne überschätzt, wie viel man an einem Tag vollbringen kann, doch unterschätzt, wie viel in einem Jahr passiert. Er lässt sich passend umstellen: Menschen überschätzen, wie viel eine neue Technologie in sehr kurzer Zeit bewirkt – und sie unterschätzen, wie viel sie über einen längeren Zeitraum bewirkt. Natürlich gibt es keine Garantie, dass Generative AI oder gar KI im Allgemeinen eine transformative Technologie im Stile des Internets, der Computer oder der Industrialisierung darstellen. Doch es gibt reichlich Gründe, optimistisch zu sein. Für Beobachter bedeutet das, Geduld sowie ein wenig Resistenz gegen vorschnelle Zyklen aus Hype und Enttäuschung zu haben.

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