Wie steht es um Haiti?

Ein Jahr der Krise liegt hinter dem Land. Die Zukunft sieht nicht viel besser aus.
16.03.2025


Eskalation | Polizeimission | Abwärtsspirale | Zukunft
(16 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Ein Jahr nach der Eskalation eines schweren Bandenkriegs bleibt die Lage in Haiti prekär.
  • Der damalige Premierminister wurde von den Banden zum Rücktritt gezwungen, indem sie ihn nicht ins Land zurückließen; der Übergangsrat, der seitdem regiert, ist zerstritten und hat nur eingeschränkte Autorität.
  • Die Banden kontrollieren weiterhin 85 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince, doch die Gewalt strahlt auch ins Umland aus und bedroht wichtige Agrargebiete.
  • Die humanitäre Situation verschlechtert sich damit zunehmend, auch, da Länder wie die Dominikanische Republik und die USA restriktiver mit geflüchteten Haitianern umgehen.
  • Eine kenianische Polizeimission scheint zwar kleine Erfolge zu bringen, doch hat zu wenig Personal und Finanzierung, um eine große Rolle zu spielen.
  • Die Umwandlung in eine UN-Friedensmission wird von Russland und China blockiert. Gelingt diese nicht, bleibt den haitianischen Institutionen eines Tages womöglich nur, mit den Banden zu verhandeln –und ihnen somit Teilkontrolle zuzugestehen.

Ein Jahr der Eskalation_

(5 Minuten Lesezeit)

Genau vor einem Jahr nahmen wir uns erstmals die Lage in Haiti vor, mit einem Explainer zur Geschichte des Landes und zum Hintergrund der dort noch immer andauernden Krise. Seitdem hat sich die Situation dort entschieden verschärft. 

Haiti im Zerfall (2024, Link auch am Ende)

Das Chaos geht weiter

Buchstäblich am Montag nach der Publikation unseres letzten Explainers zu Haiti, Anfang März 2024, trat Übergangs-Premierminister Ariel Henry zurück. Er konnte diesen Akt nicht einmal mehr in Haiti selbst vornehmen: Nach einem Staatsbesuch in Kenia, bei dem er die geplante internationale Polizeimission unter Führung Kenias weiter verhandelte, konnte sein Flugzeug nicht nach Port-au-Prince zurückkehren. Die Banden, welche die Hauptstadt in einen de-facto Bürgerkrieg gestoßen hatten, besetzten deren Flughafen.

Wir erinnern uns: Nach Jahrzehnten voller Instabilität, Naturkatastrophen, ausländischer Einmischung und politischem Versagen fiel Haiti, oder zumindest seine Hauptstadt Port-au-Prince, nach der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moise 2021 beinahe komplett in die Anarchie. Die marode Staatsgewalt konnte einer Vielzahl rivalisierender Banden nichts mehr entgegensetzen und zog sich aus weiten Teilen der Hauptstadt zurück. Die Banden waren zum Teil opportunistisch-kriminell, zum Teil aber auch eindeutig politisch motiviert und relativ offensichtlich von einflussreichen Fraktionen der haitianischen Polit- und Wirtschaftselite unterstützt. Damit kristallisierten sich regierungstreue und regierungsfeindliche Lager der Banden heraus, welche einander, die Sicherheitskräfte und Zivilisten attackierten.

Anfang 2024 kontrollierten die Banden rund 80% der Stadt. Bürgerwehren formierten sich als dritte Kraft, die die verbliebenen, oft wohlhabenden Viertel vor den Banden verteidigten – und dabei oft nicht minder brutal gegen Bandenmitglieder vorgingen, als die Banden gegen die Zivilisten. Die Bandengewalt war bereits damals nichts per se Neues, sie hatte nur eine neue Dimension erreicht. Doch bereits seit Mitte 2023 wurde unter Leitung der UN eine internationale Polizeimission in Haiti geplant. Kenia erklärte sich bereit, sie zu führen, während die USA die Finanzierung zusagten. Zunächst geschah aber nichts.

Ein Jahr nach Henrys Abtritt hat sich der Bandenkrieg weitestgehend auf hohem Niveau stabilisiert. Die Hauptstadt wird nun zu rund 85 Prozent von Banden kontrolliert, was nur eine kleine Verschiebung der Frontlinien bedeutet. Gleichzeitig gab es 2024 laut UNICEF über 5.600 Mordfälle im Land, 23 Prozent mehr als im Vorjahr; die sexuelle Gewalt gegen Kinder habe sich verzehnfacht; und die Rekrutierung von Kindersoldaten sei um 70 Prozent gestiegen – und alle Zahlen schließen natürlich die Dunkelziffern nicht ein. Wie konnte die Gewalt so eskalieren?

Der Bandenanführer und selbsternannte Revolutionär Jimmy “Barbecue” Chérizier. Quelle: Wikimedia.

Wer braucht Wahlen, wenn er Banden hat?

Es gibt in Haiti schon seit langem kein anerkanntes Gewaltmonopol des Staates mehr. Spätestens seit der Ermordung Moises 2021 steht es schlecht um die Legitimität der haitianischen Regierung. Premierminister Claude Joseph wurde nach dem Mord aus dem Amt gedrängt und steht mittlerweile im Verdacht, am Attentat auf Moise beteiligt gewesen zu sein. Übergangs-Premierminister Henry wurde schließlich durch den Druck ausländischer Vertreter ins Amt gehievt, setzte sich mehrfach über bestehende Legislaturperioden hinweg, aber versprach auch mehrfach Neuwahlen und die Rückkehr demokratischer Institutionen.

Da es seit 2016 keine Wahlen mehr in Haiti gegeben hat, steht das Parlament seit 2023 leer. Auch andere Institutionen wie das Verfassungsgericht funktionieren kaum noch. Intrigen innerhalb der politischen Eliten vermischten sich weiter mit dem Bandenkrieg, da unterschiedliche Banden mit unterschiedlichen Interessengruppen im Land in Verbindung gebracht werden. Der Unmut in der Bevölkerung wuchs stetig. Auf entschlossene Verteidiger konnte Henry also nicht hoffen.

Währenddessen formierten sich die Banden neu: Jimmy “Barbecue” Chérizier, der Kopf des mächtigen Bandenbündnisses G-9, hatte bereits im September 2023 ein Bündnis mit seinem bisherigen Erzrivalen, der Allianz G-Pèp, bekanntgegeben. Die neue Bandenkoalition Viv Ansamn, “Zusammen leben”, benötigte einige Monate, um zueinander zu finden, doch verschrieb sich dann dem Umsturz der Regierung.

In koordinierten Angriffen von bisher ungekannter Professionalität und Verwegenheitgriff Viv Ansamn Polizeistationen, Krankenhäuser, Gerichtsgebäude und kritische Infrastruktur an. Die Bandengewalt wurde nun vollständig zum revolutionären Aufstand. Bei einem Überfall auf zwei Hochsicherheitsgefängnisse in Port-au-Prince wurden über 4.000 Insassen befreit. Die USA und EU evakuierten ihr diplomatisches Personal; Schulen und andere Regierungsstellen schlossen. Anfang März 2024 mussten sowohl der Flughafen als auch der Hafen der Hauptstadt durch Angriffe bis auf weiteres geschlossen werden, was Henrys Rückkehr verhinderte und seinen Abtritt forcierte. Beide öffneten nach rund zwei Monaten zwar wieder, werden jedoch bis heute immer wieder von Banden angegriffen und zum Schließen gezwungen. 

Gleichzeitig ging die Gewalt zwischen den Banden selbst im letzten Jahr enorm zurück. Laut der Analyseplattform ACLED um ganze 78 Prozent. Es ist kein Zufall, dass die vereinigte Front während Henrys Besuch in Kenia in Aktion trat. Der Premier war dort, um die lange stockende internationale Polizeimission voranzubringen. Das war anscheinend genug Motivation für die rivalisierenden Banden, um ihre Machtkämpfe hinter sich zu lassen. Wie wir bereits letztes Jahr schrieben, vermuteten Beobachter, dass die Banden einer gut ausgerüsteten und organisierten Polizei wenig entgegenzusetzen hätten. Allerdings ließen die versprochenen kenianischen Polizisten noch eine ganze Weile auf sich warten.

Mitte März 2024 war es also selbst Ariel Henry zu viel. Nachdem sein Flugzeug über Jamaika nach Puerto Rico umgeleitet werden musste, gab er seinen Rücktritt bekannt. Kenia setzte die geplante Polizeimission sofort aus. Auf einem Notfallgipfel der Karibischen Gemeinschaft in Jamaika begann die Formierung eines Übergangsrates, der einen neuen Premierminister und Präsidenten auswählen sollte – schon wieder. Der Formationsprozess geriet beinahe unmittelbar zum Drama, als drei der neun potenziellen Mitglieder der Korruption verdächtigt wurden. Ende April stand der Rat endlich, Ende Mai wurde Garry Conille, der ehemalige Stabschef des UN-Sondergesandten für Haiti unter dem früheren US-Präsidenten Bill Clinton, zum Premierminister gewählt. Auch er hielt nicht lange durch, mehr dazu später.

In der Zwischenzeit blieb die Lage in Port-au-Prince angespannt. Regierungsstellen, Schulen, Universitäten und Krankenhäuser blieben weiter größtenteils geschlossen, daran hat sich bis heute auch nicht viel geändert. Gleichzeitig versuchen die Banden weiter, in bisher unkontrollierte Gebiete der Hauptstadt vorzustoßen. Vor allem der wohlhabende Vorort Pètion-ville gerät regelmäßig zum Schlachtfeld, zuletzt im vergangenen November. Hier wohnen viele Vertreter der der Viv Ansamn verhassten Elite des Landes, darunter Richter und Anwälte.

Gut zu wissen: Die Exekutivdirektorin von UNICEF, Catherine Russell, verglich die Situation in der Hauptstadt mit dem postapokalyptischen Film Mad Max. 

Die Weltgemeinschaft schaut zu_

(3,5 Minuten Lesezeit)

Zahl der Angriffe von Banden untereinander (blau) und Zahl der Opfer aus diesen Angriffen (orange): Einige Monate nach Gründung von Viv Ansamn sinkt die Zahl der Angriffe von Banden untereinander deutlich. Quelle: ACLED

Die internationale Polizeimission

Das, was von der haitianischen Regierung übrig ist, wird vor allem durch Unterstützung aus dem Ausland am Leben erhalten. Ein Zurückdrängen der Banden scheint ohne internationale Hilfe unmöglich. Conille machte sich demnach auch sofort daran, die mit Kenia verhandelte “Multinational Security Support Mission” wieder aufleben zu lassen. Diese wird zwar durch die UN koordiniert, ist aber keine Operation der UN selbst. Das bedeutet, dass Personal und Finanzierung der Mission durch individuelle Staaten freiwillig geleistet werden und nicht aus den Truppenkontingenten und Mitteln der UN kommen. Das erweist sich jetzt als großes Problem.

Am 26. Juni 2024 trafen endlich, zehn Monate nach der formellen Bewilligung der Mission, die ersten 400 kenianischen Polizisten in Port-au-Prince ein. Im Januar 2025 kamen noch einmal 217 dazu. Insgesamt sind von den 2.500 versprochenen internationalen Polizeikräften nun rund 800 im Land. Auch die Finanzierung schwächelt: Schätzungsweise sind rund 600 Millionen USD pro Jahr für die Mission nötig, die USA haben bisher aber nur 68 Millionen beigetragen. Dabei wird es wohl auch bleiben, denn direkt nach dem Amtsantritt von Donald Trump legten die USA die weitere Finanzierung auf Eis. 

Wenn die Aktion in eine offizielle UN-Friedensmission umgewandelt würde, käme die Finanzierung aus den Mitteln der Organisation selbst. UN-Mitglieder wären zur Teilnahme verpflichtet. Der Sicherheitsrat verlängerte zwar im Oktober das Mandat der Polizeimission, ließ aber auf Initiative der russischen und chinesischen Vertreter einen Absatz streichen, der sie zur Verantwortung der UN gemacht hätte. Einen zweiten Vorstoß am 20. November nach einer erneuten Eskalation der Gewalt am Flughafen Port-au-Prince blockierten Russland und China wieder.

Den beiden Ländern geht es dabei vor allem darum, Geld zu sparen und den Einfluss der USA einzudämmen. Kenia dagegen unterstützt die Umwandlung der bereits laufenden Mission, denn sie ist teuer und in Kenia selbst umstritten, es laufen dagegen sogar verschiedene Verfassungsklagen. Auch die haitianische Regierung drückt ihre Unterstützung für das Vorhaben aus – dabei ist die UN bei vielen Haitianern alles andere als beliebt.

Gut zu wissen: Friedensmissionen werden von den Vereinten Nationen ausgesandt, um während einer Kampfpause fragile Friedensverträge, Waffenstillstände und Frontlinien zu stabilisieren. Sie dürfen nur mit Zustimmung des Gastgeberlandes operieren, sind also keine militärischen Besatzungen; sie dürfen keine Partei ergreifen, also bestehende Machtverhältnisse nicht antasten; und sie dürfen in der Regel Gewalt nur zur Ausübung ihres Mandats, also zur Beibehaltung des Status Quo, ausüben. Besetzt werden sie aus festgelegten Kontingenten der UN-Mitgliedsstaaten; auch die Finanzierung wird entlang weiter Teile der Staatengemeinschaft aufgeteilt.

Friedensmissionen bestehen aus komplexen Partnerschaften zwischen lokalen und internationalen Organisationen, mit einem großen Anteil ziviler Kräfte neben den bewaffneten Blauhelmen. Die momentane Situation in Haiti scheint also unpassend für eine solche Mission, da die lokalen Sicherheitskräfte nur bedingt zur Kooperation imstande sind.

Die UN und ihr miserabler Ruf

In Haiti gab es UN-Missionen von 1993 bis 1996 sowie 2004 und 2017. In beiden Fällen ging es darum, inmitten politischer Umbrüche oder Rebellionen für Sicherheit zu sorgen. Die Effektivität der Missionen umstritten, insbesondere auf der Insel selbst. Zudem kam es zu Kontroversen, darunter viel beachteten Fällen von sexueller Gewalt durch UN-Soldaten. Und die Blauhelme waren direkt für den Tod von bis zu 10.000 Haitianern verantwortlich, nicht durch Gewalt, sondern durch die Cholera.

Haiti war vor 2010 ein Jahrhundert lang frei von der bakteriellen Infektionskrankheit, die zwar leicht zu behandeln ist, unbehandelt aber oft tödlich verläuft. Im Herbst 2010 tauchte der Erreger vollkommen unerwartet wieder auf, nur wenige Monate nach einem verheerenden Erdbeben, welches Hunderttausende Leben gekostet und weite Teile der Insel verwüstet hatte. 

Schon vor dem Erdbeben war die Wasserversorgung für viele Haitianer schwierig; nach dem Beben hatte über ein Drittel der Bevölkerung keine Trinkwasserversorgung und zwei Drittel hatten keinen oder unzureichenden Zugang zu sanitären Einrichtungen. Die Cholera konnte sich so rasend schnell ausbreiten. Insgesamt erkrankten über 700.000 Menschen, rund 10.000 starben. Die Ursache? Das Abwasser einer UN-Basis am Artibonitefluss. Dort waren Soldaten aus Nepal stationiert, einem Endemiegebiet der Cholera, die wissentlich ohne Chemoprophylaxe nach Haiti geschickt worden waren. Die UN selbst nannte diese Erklärung “wahrscheinlich” und entschuldigte sich 2016, lehnte aber jegliche rechtliche Verantwortung ab. Erst im Februar 2022 wurde Haiti nach drei Jahren ohne neue Fälle wieder cholerafrei erklärt.

Truppen der UN-Mission MINUSTAH, die in Haiti von 2004 bis 2017 stationiert war. Quelle: MINUSTAH, Wikimedia.

Haiti in der Abwärtsspirale_

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Die Gewalt hält an

Obwohl die UN-Mission nun seit fast neun Monaten im Land ist, bleibt die Lage prekär. Seit September eskaliert die Gewalt gar wieder, vor allem in Port-au-Prince. Sie greift aber auch zunehmend auf den Rest des Landes über. Schon jetzt wurde der Ausnahmezustand auf das ganze Land ausgeweitet, seit dem 18. Oktober gilt ein allgemeines Waffenembargo für Haiti. Im November flüchteten über 40.000 Menschen aus Port-au-Prince. 

Mittlerweile ziehen sich die Frontlinien durch den ganzen Port-au-Prince Bay, jene Bucht, welche sich um die Hauptstadt und ihr Umland schmiegt. Die großen Banden kontrollieren Orte bis zu 60 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Dazu kommt, dass auch kleinere Banden schon seit 2021 das landesweite Netz an Hauptverkehrsstraßen in Teilen kontrollieren und Wegzölle erheben, praktisch als moderne Wegelagerer.

Anfang Oktober kam es zum bisher schlimmsten Übergriff außerhalb der Hauptstadt, als Angehörige der ländlichen Gran-Grif-Bande ein Massaker im Ort Pont-Sondé verübten. Das Dorf hatte eine Bürgerwehr aufgestellt und sich dem Wegzoll der Bande widersetzt – mindestens 115 Menschen starben, über 6.000 wurden vertrieben. Das ist kein reines Einzelschicksal: Die Gewalt breitet sich damit nun auch in die Agrarregionen des Landes aus und schafft Risiken für die Nahrungsmittelversorgung.

Auch in der Hauptstadt selbst bleibt die Lage dynamisch. Im Dezember griffen Banden das Nationalkrankenhaus, Haitis größte medizinische Anlage, bei dessen Wiedereröffnung an. Erst vergangene Woche zerstörten sie das Gebäude des ältesten Radiosenders des Landes. Das war offenbar mehr Rachetat (bzw. Lust an der Zerstörung), denn strategisch motiviert: Der Radiosender befindet sich nicht mehr in dem Gebäude, da er vor einem Jahr vor der Bandengewalt fliehen musste.

Gewalt erzeugt Gegengewalt

Gleichzeitig erzielen die Operationen der haitianischen und kenianischen Polizei kleine Erfolge. Sie haben zuletzt kritische Infrastruktur in der Hauptstadt zurückerobern und sogar halten können. Darunter sind der Nationalpalast, das Universitätskrankenhaus, der Hafen und die Polizeiakademie. Der Hafen sorgt dafür, dass der Containerverkehr wieder anlaufen kann und Nahrungsmittel ins Land gelangen; die Polizeiakademie ermöglicht die dringend notwendige Ausbildung einheimischer Sicherheitskräfte. 

Die kenianische Polizei ist schwer bewaffnet, unter anderem mit automatischen Waffen, Drohnen und sogar Schützenpanzern. Sie wird vor allem aus der sogenannten “Rapid Deployment Unit” (RDU) gestellt, einer Eliteeinheit, die während der Proteste in Nairobi, Kenia, im Sommer auch gegen das eigene Volk eingesetzt wurde. Angeblich gingen Angehörige der Einheit in Zivil mit äußerster Härte vor, mindestens 50 Kenianer starben durch das Eingreifen der Polizei.

In Haiti geht Kenias RDU rigoros vor, tötet immer wieder dutzende Bandenkämpfer in Straßenschlachten in der Hauptstadt. Außerdem macht die Polizei nun auch gezielt Jagd auf den Bandenanführer und selbsterklärten Revolutionär Jimmy “Barbecue” Chérizier. Er entkam mehrfach Hinterhalten der Polizei. Anfang dieses Monats ließ diese nach einem erneuten Gefecht sogar seinen Tod verlautbaren, was sich aber schnell als unwahr herausstellte.

Gewalt erzeugt Flüchtlinge

Mit der anhaltenden Gewalt werden die Probleme der haitianischen Bevölkerung progressiv schlimmer und äußern sich vor allem in einer wachsenden Zahl an Geflüchteten. Über eine Million Haitianer sind mittlerweile geflüchtet, davon knapp die Hälfte Kinder. Die überwältigende Mehrheit der Geflüchteten kommt aus der Hauptstadt und drängt in kleinere Städte oder die ländlichen Gegenden, was die lokale Infrastruktur unter Druck setzt, Verteilungskonflikte schafft und Spannungen hervorruft. 

Auch für die Geflüchteten selbst ist die Lage denkbar prekär. Sie haben oftmals keine Erwerbsmöglichkeiten und sind durch ihre Lage und die Gefahr auf den Straßen der Bandengewalt schutzlos ausgeliefert. Entführungen sind an der Tagesordnung. Im letzten Jahr stiegen Berichte über sexuelle Gewalt enorm, gerade gegenüber Minderjährigen, welche laut UNICEF schätzungsweise 30 bis 50 Prozent der Mitglieder der Banden ausmachen. Sie werden als Informanten, Köche, Sexsklaven oder Soldaten missbraucht. Der Anreiz oder die Notwendigkeit, sich Banden anzuschließen, ist gerade bei geflüchteten Haitianern erhöht.

Gleichzeitig verschlechtert sich auch die internationale Situation haitianischer Geflüchteter. Die Dominikanische Republik, die als einziges direktes Nachbarland der Hauptempfänger für Haitianer ist, verschärft ihre Abschiebepolitik. Seit Anfang Oktober plant sie, 10.000 Haitianer pro Woche abzuschieben, was mindestens die ersten Wochen gelang. Allein im Jahr 2023 hatte es bereits insgesamt rund 200.000 Abschiebungen gegeben, was rechnerisch 3.850 Abschiebungen pro Woche entspräche – es geht also um einen deutlichen Anstieg. Die offizielle Zahl der Haitianer im Land wird mit unter 500.000 beziffert, doch andere Schätzungen rangieren zwischen 600.000 bis einer Million. Sie arbeiten in der Dominikanischen Republik häufig schwarz und in einfachen Berufen, womit sie zur Wirtschaft beitragen, zugleich aber kaum überraschend für Kriminalität und Sicherheitsprobleme verantwortlich gemacht werden.

Gut zu wissen: Das Verhältnis zwischen der spanischsprachigen Dominikanischen Republik und dem französisch-kreolischen Haiti war in den letzten Jahrzehnten stets schlecht. Die für lateinamerikanische Verhältnisse recht wohlhabende “Dom Rep” blickte mit Skepsis und Sorge auf den instabilen Nachbarn und auch auf die kaum kontrollierbare Flüchtlingsdynamik, auch, wenn sie zum. Das schlechte Verhältnis ist allerdings auch historisch gewachsen: Haiti, einst der reichere Teil der Kolonialinsel Hispaniola, startete nach seiner Unabhängigkeit mehrere Invasionen gegen die Dominikanische Republik und besetzte sie 22 Jahre lang. Zugleich sind die beiden Länder enge Handelspartner, beeinflussen sich gegenseitig kulturell und Haitianer nehmen eine große Rolle am dominikanischen Arbeitsmarkt ein. Unser Explainer “Haiti im Zerfall” erklärt die unruhige Geschichte Haitis (Link auch am Ende).

Und auch der zweite große Fluchtweg für Haitianer verknappt sich: Viele machten sich auf den Weg in die USA, meist von anderen Ländern in Zentral- und Südamerika aus. Das Zensusbüro der USA zählte im Februar 2024, also vor dreizehn Monaten, 852.000 Haitianer. Das allein wären 125.000 oder 17 Prozent mehr als noch im Sommer 2022. Die Haiti Times schrieb im vergangenen Monat gar von 1,5 Millionen Haitianern in den USA. Jener Teil von ihnen, welche keine amerikanische Staatsbürgerschaft oder Niederlassungserlaubnis besitzen, sind nun vulnerabel gegenüber der Linie der neuen US-Regierung. Diese kündigte bereits an, im August den “Temporary Protected Status” (TPS) – temporäres Asyl – für 500.000 Haitianer im Land zu entziehen, welche den Status seit teilweise 2010 besessen hatten. Damit verlieren sie ihre Arbeitsberechtigung und werden womöglich zur Deportation freigegeben.

Gewalt erzeugt Hungersnot

Seit Oktober schlittert Haiti nun ganz offiziell in eine Hungersnot. Rund die Hälfte der Haitianer leidet mittlerweile unter akuter Ernährungsunsicherheit. Laut dem World Food Programme (WFP) der UN ist die Tendenz weiter steigend. Zum Vergleich erlebten im Jahr 2014 schätzungsweise nur 2 Prozent der Haitianer ernste Ernährungsunsicherheit.

Hilfsgüter können aufgrund der Bandenangriffe auf die zentrale Infrastruktur, vor allem auf den Containerhafen in Port-au-Prince, nur sporadisch und unzulänglich ins Land kommen. Die Verteilung innerhalb des Landes scheitert wiederum am von Banden kontrollierten Fernstraßensystem. Auch Bauern können ihre Produkte aufgrund der unsicheren Transportwege nicht an Käufer bringen. Sie verpassen Einnahmen, können keine Werkzeuge mehr kaufen und müssen immer häufiger ihre Felder verfallen lassen. Zudem werden Bauern von Bandengewalt im Umfeld der Hauptstadt vertrieben.

Die prekäre Lage macht Druck auf die Gesamtwirtschaft. Die Inflation liegt momentan bei 26 Prozent. Schon jetzt schlucken Lebensmittel 70 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsbudgets in Haiti. Sehr vielen Haitianern geht es aber noch viel schlechter. Die bei weitem dominanten Ursachen für die dramatische Situation sind die Unsicherheit der Wertschöpfungs- und Lieferketten in Haiti und die großflächigen Massenvertreibungen. Ohne die Beseitigung dieser Faktoren besteht keine Chance auf eine Besserung. Die UN nennt die Lage in Haiti nun ungeschönt die “schlimmste Hungerkrise in der westlichen Hemisphäre”, wo mit Kuba und Venezuela durchaus andere Wettbewerber existieren.

Gut zu wissen: Laut dem World Food Programme ist eine Hungersnot klar definiert. Mindestens 20 Prozent der Bevölkerung müssen unter extremem Lebensmittelmangel leiden; mindestens 30 Prozent der Kinder im fraglichen Gebiet müssen chronisch oder akut mangelernährt sein; und die Sterblichkeit verursacht durch Hunger und Mangelernährung muss sich von den zu erwartenden 1 von 10.000 auf 2 von 10.000 verdoppeln.

Die Zukunft bleibt düster_

(3,5 Minuten Lesezeit)

Proteste sind eine Konstante in Haiti, hier in Hinche im Jahr 2019. Quelle: Voice of America, Wikimedia.

Institutionelle Krise oder Totalzusammenbruch?

So wie in Haitis humanitärer Lage ist auch auf dem politischen Parkett keine akute Verbesserung in Sicht. Übergangspremierminister Garry Conille wurde bereits im November aus dem Amt befördert, kein halbes Jahr nach Antritt. Er war mit dem Übergangsrat, dem einzigen ihn legitimierenden Organ im Staat, in Konflikt geraten: Ein Korruptionsskandal belastete drei der Ratsmitglieder schwer, da sie vom Direktor einer Staatsbank bis zu 750.000 Dollar Bestechungsgelder verlangt hätten, um dessen Job zu sichern. Conille forderte die Entlassung der Ratsmitglieder, wurde aber postwendend von ihnen selbst entlassen.

Conille selbst beschreibt seine Entlassung als illegal, schließlich könne nur das Parlament den Premierminister absetzen, das steht aber seit seiner finalen Auflösung im Sommer 2023 noch immer leer. Trotzdem konnte Conille dem faktischen Diktat des Übergangsrates nichts entgegensetzen. Sein designierter Nachfolger, der bisher unpolitische Geschäftsmann Alix Didier Fils-Aime, verspricht mehr Transparenz und die Rückkehr demokratischer Wahlen. Seit September gibt es auch wieder einen “Provisional Electoral Council”, also eine Übergangswahlkommission – sie soll bis spätestens Februar 2026 die ersten Wahlen Haitis seit zehn Jahren organisieren. Wie die Wahlen mit der heutigen Machtverteilung und Sicherheitslage im Land überhaupt ablaufen sollen, kann nur spekuliert werden.

Auch internationale Organisationen kapitulieren zeitweise: Médecins Sans Frontières (MSF), der wichtigste Betreiber von Krankenhäusern und medizinischen Diensten nach der Regierung selbst, suspendierte im November kurzzeitig seine Aktivitäten in Port-au-Prince aus Sicherheitsbedenken. Haitianische Polizisten hatten gemeinsam mit einer selbsternannten Bürgerwehr einen MSF-Krankenwagen angegriffen, bedrohten das Personal mit Vergewaltigung und Mord, und erschossen dann laut den Berichten der Sanitäter zwei der schwerverletzten Patienten. Sie waren Jugendliche, die bei Gefechten zwischen Polizei und Banden schwer verletzt wurden. Laut Christophe Garnier, MSFs Head of Mission in Haiti, ist aber nicht die Polizei als Organisation das Problem, sondern individuelle Polizisten, die ihre Position missbrauchten. 

Ein Fazit

Die Lage in Haiti hat sich im letzten Jahr verschlechtert. Die einzige feststellbare Verbesserung ist, dass der Übergangsrat halbwegs funktioniert, die Polizeimission zumindest im Land ist und in Port-au-Prince mehr Vorhersehbarkeit existiert. Drumherum zerfallen Staatsorgane weiter, das Vertrauen in die maroden politischen Institutionen ist auf einem Allzeittief, die Gewalt zwischen Banden und Regierung hält an und eskaliert stellenweise und die Arbeit von Bürgerwehren und Polizei gleicht gelegentlich jener von Tötungskommandos. Die Zahl der Geflüchteten steigt, während die Wirtschaft immer fragiler wird, eine Hungersnot näher rückt und das Ausland immer strenger gegen geflüchtete Haitianer vorgeht. Kann die Lage sich überhaupt noch zum Besseren wenden?

Um eine drohende humanitäre Katastrophe abzuwenden, muss die Gewalt ein Ende finden – so weit, so einfach. Der bisherige Kurs wird das wohl kaum bewerkstelligen können – die bestehende Polizeimission ist unterbesetzt und -finanziert, und daran wird sich wohl auch so schnell nichts ändern. Der Weg zur offiziellen Friedenstruppe bleibt durch die Vetomächte Russland und China versperrt. Gleichzeitig koordinieren sich die Banden stets besser und reduzieren die Kämpfe untereinander. Eine überwältigende militärische Niederlage der Banden ist derzeit unwahrscheinlich.

Selbst wenn es der Regierung gelänge, die Kontrolle über die Hauptstadt zurück zu erringen, wären die Probleme in Haiti nicht gelöst. Die andauernde Gewalt ist zu großen Teilen eine Reaktion auf jahrzehntelang andauernde Misswirtschaft, Korruption und die Dominanz der als eigennützig und nutzlos verschrienen Eliten des Landes (bereits die Ermordung von Präsident Moise 2021 dürfte auf innerelitäre Machtkämpfe zurückgehen). Eine nachhaltige Lösung kann damit nicht allein durch die Bekämpfung der Gewalt erzielt werden. Die Forderungen vieler Menschen sind nominell einfach: Krankenhäuser, Straßen, Schulen, Wasserversorgung, Elektrizität, Internet, Lebensmittel und Arbeit. Das fehlte ihnen in geringerem Maße auch schon, als es noch keine Bandenkriege gab.

Nur zweierlei Lösungen lassen sich erkennen: Entweder gelingt es doch noch, eine durchfinanzierte UN-Friedensmission für Haiti aufzustellen. Sie wäre umstritten und riskant, doch gepaart mit einem effektiven Waffenembargo, welches den Zufluss von Waffen ins Land stoppt, böte sie die derzeit beste Chance, die Sicherheitslage im Land zu wenden. Oder die haitianische Übergangsregierung verhandelt ernsthaft mit den Banden, was diesen als Parallelmacht zum Staat eine signifikante, vielleicht gar dominante Rolle in einer Postkriegsordnung verpassen würde. Das wäre ein verzweifelter Schritt, doch Haiti findet sich nicht zum ersten Mal in seiner Geschichte an einem verzweifelten Punkt.

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