Mehr Risiken, weniger klare Aussichten.
04.05.2025
Kriegswirtschaft | Finanzierungstricks | Schmerzen
(16 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Russlands Wirtschaft wuchs in den letzten Jahren kräftig – angetrieben durch massive Militärausgaben –, doch die Zahlen täuschen über strukturelle Probleme hinweg.
- Der zivile Sektor leidet unter Kapital- und Arbeitskräftemangel, während der militärische Sektor überhitzt – eine riskante Zweiteilung der Wirtschaft.
- Die Inflation bleibt hartnäckig hoch, die Zentralbank reagiert mit Rekordzinsen. Zuletzt scheint das die Wirtschaft deutlich abgekühlt zu haben, im zivilen Sektor bis hin zur Schrumpfung.
- Der Staatshaushalt gerät parallel unter Druck: Sinkende Ölpreise, steigende Ausgaben und ein schmelzender Staatsfonds verschärfen die Finanzierungslage.
- Zur Finanzierung zwingt der Kreml seine Banken zu riskanten Billigkrediten an Rüstungsfirmen. Das ist eine Gefahr für die Finanzstabilität, welche sich vor allem bei einem Kriegsende manifestieren könnte.
- Die Kriegswirtschaft ist eine langfristige Bürde für das Land, lässt sich kurzfristig aber kaum abbauen, ohne eine Rezession und womöglich besagte Finanzkrise zu riskieren.
- Die Aussichten für Russlands Wirtschaft sind somit negativ. Viel Unsicherheit entsteht durch den Ölpreis und die uneindeutigen Pläne der Trump-Regierung.
Die Kriegswirtschaft_
(5,5 Minuten Lesezeit)
Ein Rückblick
Die whathappened-Redaktion veröffentlichte im Februar 2024 einen Explainer über den Zustand der russischen Wirtschaft. Er war ein Lehrstück darin, wie schnell sich makroökonomische Kennzahlen falsch lesen lassen. Vieles, was in Russlands Wirtschaft glänzte, war kein Gold.
Beeindruckend hohe Wachstumszahlen waren Ausdruck einer überhitzenden Wirtschaft, die von massiven staatlichen Investitionen in den Rüstungssektor und das Militär angepeitscht wurde. Damit hingen auch rekordniedrige Arbeitslosenzahlen zusammen, welche durch den Krieg und eine Fluchtbewegung junger Russen verstärkt wurden. Eine sehr hohe Inflationsrate (Folge der überhitzenden Wirtschaft und westlicher Exportsanktionen) biss Haushalte und Firmen – und ließ sich nicht einmal von äußerst hohen Leitzinsen unterkriegen.
Das rasante Wachstum bedeutete, dass die Haushalte immerhin von Reallohnwachstum profitierten (Gehälter also schneller als die Inflation stiegen). Gut für sie, schlecht für die Firmen, welche höhere Lohnkosten erlebten – ausgerechnet, während die Inflation auch ihre Materialkosten antrieb und die Leitzinsen ihre Finanzierungskosten. Der erstarkte militärische Sektor konnte das wegstecken; der zivile Sektor, welcher nicht oder nur indirekt von den staatlichen Investitionen profitierte, dagegen weniger.
Das signalisiert dann auch einen strukturellen Wandel in der russischen Wirtschaft: Kapital, Arbeitskraft und politischer Wille konzentrieren sich auf den militärischen Sektor, welcher mit der zivilen Wirtschaft in einen Verteilungskampf trat. Das bringt langfristige Risiken mit sich, denn der militärische Sektor wird weniger zur Wirtschaftsentwicklung beitragen.
Russland finanzierte das in erster Linie anhand seiner hohen Staatsumsätze aus Rohstoffexporten. Das macht das Land jedoch abhängig von der Außenwirtschaft: Die Rohstoffpreise bedingen die Ausgabenfähigkeit; und der Rubel-Preis beeinflusst Exporte und Inflation. Russlands nicht allzu geheime Geheimwaffe, der prall gefüllte Staatsfonds NWF, war dabei schon Anfang 2024 halb so groß wie zu Kriegsausbruch.
Die russische Wirtschaft stand vor einem Jahr also vor zahlreichen Risiken. Seitdem hat sich wenig verbessert und vieles verschlechtert. Und ein potenziell sehr schwerwiegendes Problem ist überhaupt erst im Februar bekannt geworden.
Explainer: Russlands Wirtschaft geht es nicht gut (Februar 2024, Link auch am Ende)
Die Kriegswirtschaft
Russlands Wirtschaft ist eine Kriegswirtschaft. Die Militärausgaben sollen dieses Jahr bei umgerechnet knapp 126 Milliarden USD liegen, fast viermal so viel wie 2022 (und ein Dreifaches der regelmäßigen deutschen Ausgaben – noch deutlich mehr, würden wir für Kaufkraft kontrollieren). Es wäre etwas weniger als ein Drittel der gesamten Staatsausgaben und bis zu 8 Prozent des BIP. Dabei sind das nur die offiziellen Zahlen, mit bedingter Glaubwürdigkeit. Nebenhaushalte, anders verbuchte Ausgaben, nebulöse Beiträge von Rohstoffpartnerschaften in Afrika oder durch Oligarchen, und vor allem eine “Schattenfinanzierung” durch erzwungene Bankkredite an Rüstungsfirmen – dazu später mehr – verdecken die wahren Militärausgaben des Landes.
Die Kriegswirtschaft bedeutet eine Zweiteilung des Landes, in einen militärischen und einen nicht-militärischen, also zivilen, Sektor. Der militärische Sektor kann sich vor staatlichen Aufträgen kaum retten. Damit entsaugt er dem zivilen Sektor Kapital und Arbeitskräfte. Letzteren winken bei den Rüstungsfirmen sowie Zulieferern höhere Löhne, Prämien, freie Wohnungen oder Schutz vor einer Einberufung in die Armee.
Gut zu wissen: In diesem Explainer, wie im vorigen, werden wir die russische Kriegswirtschaft als großes ökonomisches Risiko für das Land beschreiben. Warum werden die russischen Militärausgaben so interpretiert, die deutschen Militärausgaben dagegen mitunter als strukturelle Wachstumschance? In erster Linie, weil die deutsche Wirtschaft aktuell unter ihrem Potenzial produziert und ihre Kapazitäten nicht ausnutzt (von ihren schwachen Wachstumsraten signalisiert), während Russland diese deutlich überschreitet. Die russischen Ausgaben wirken somit inflationär und bewirken einen Verteilungskampf zwischen militärischem und nicht-militärischem Sektor. Die deutschen Ausgaben würden das Wachstum mit vermutlich relativ überschaubaren inflationären und distributiven Effekten ankurbeln. Panzer sind in beiden Fällen keine sonderlich produktiven Vermögenswerte, doch im deutschen Fall ist die Produktion selbst bereits wirtschaftlich nützlich. Im russischen Fall ist sie inzwischen riskant. Wieso genau, erklären wir in diesem Explainer sowie im Vorgänger.
Auf längere Sicht hoffen Beobachter, dass die deutschen Rüstungsausgaben positive Effekte bei Forschung und Entwicklung sowie beim Kapitalaufbau haben, auch jenseits des Rüstungssektors. Diesen Effekt könnten theoretisch auch die russischen Ausgaben erlangen und tun sie in bestimmten Bereichen auch sicherlich. Es ist allerdings naheliegend, dass die primären Bedarfe Russlands im Ukrainekrieg – die massenhafte Produktion günstiger, schnell einsetzbarer, standardisierter Militärware – eher geringfügige wirtschaftliche Renditen abwerfen.
Der Staatshaushalt sieht schlechter aus
Russlands Haushalt ist in hohem Maße abhängig von den Rohstoffpreisen. Ein Drittel bis zur Hälfte des Budgets stammt traditionell aus den Umsätzen von Öl und Gas, wobei ersteres die deutlich größere Rolle einnimmt. Das Jahr 2024 war diesbezüglich eigentlich recht erfolgreich: Die Ölsorte Urals lag im Schnitt bei einem Preis von 70 USD pro Barrel, was eines der höheren Niveaus des letzten Jahrzehnts darstellt und deutlich besser als die knapp 50 USD im ersten Halbjahr 2023 ausfiel. Die russischen Staatsumsätze aus Öl stiegen auf 89,4 Milliarden USD, 31 Prozent mehr als im Vorjahr und das höchste Niveau seit zumindest 2018.
In den letzten Monaten hat der Urals-Preis jedoch den Abwärtsgang eingeschaltet. Er ist seit seinem diesjährigen Hoch, am 13. Januar, um 28 Prozent eingebrochen, von 77 auf 55 USD (Stand 4. Mai). Hauptgrund ist die Trumpsche Wirtschafts- und Handelspolitik, welche die Erwartungen für das Weltwirtschaftswachstum gesenkt hat. Das ist ein Problem für Moskau, denn die Regierung muss ihre Einnahmen und Ausgaben anhand eines prognostizierten Ölpreises kalkulieren – ein in Deutschland völlig unbekannter Vorgang, in Petrostaaten jedoch von zentraler Bedeutung.
Im vergangenen Jahr setzte das Finanzministerium 67,6 USD als Bezugspreis an. Dieses Jahr kalkuliert die Regierung nur noch mit einem Ölpreis von 56 USD pro Barrel – nachdem sie zu Jahresbeginn 69,7 USD prognostiziert hatte. Die Einnahmen werden demnach um 4,5 Prozent auf ca. 405 Milliarden USD sinken; die Ausgaben steigen gleichzeitig um 2 Prozent auf 445 Milliarden USD. Also musste der Kreml sein prognostiziertes Haushaltsdefizit verdreifachen, von 0,5 auf 1,7 Prozent des BIP.
Anteilig am BIP ist das Defizit genauso hoch wie 2024 und damit auf den ersten Blick keine Tragödie (es fällt auch im internationalen Vergleich eher niedrig aus). Zugleich ist das BIP jedoch “künstlich” angepeitscht, wie wir in diesem Explainer und noch tiefgehender im Vorgänger erklärten. In absoluten Zahlen und nominell müsste Russland das zweithöchste Defizit seiner Geschichte (nach dem Covid-Jahr 2020) finanzieren. Und vor allem: Es wäre das vierte kräftige Defizit in Folge. Das baut auf den Kreml immer mehr Druck auf, seine hohen Ausgaben finanziert zu bekommen. Seine Möglichkeiten sind im Grunde zweierlei: Den Staatsfonds einsetzen oder den Privatsektor zur Hilfe zwingen. Der erste Weg hat Limits, der zweite Weg steckt voller Risiken. Russland geht beide.
Gut zu wissen: Der Rubel hat seit Jahresbeginn um 20 Prozent gegenüber dem US-Dollar zugelegt. Das lindert die Inflation etwas, da Russen günstiger importieren können (wohlgemerkt nicht aus westlichen Ländern, wo viele Exportverbote existieren), doch senkt die Exportumsätze weiter, da jeder eingenommene Yuan oder Dollar weniger Rubel bedeutet.
Wie der Kreml seinen Krieg finanziert_
(4 Minuten Lesezeit)

Der Staatsfonds NWF schmilzt
Der russische Staatsfonds NWF ist das Kernstück der “Festung Russland”, also der ab spätestens 2014 verfolgten Idee, sich “sanktionsfest” aufzustellen. Eine so zutiefst exportabhängige und damit gegenüber dem Ausland exponierte Wirtschaft wie Russland kann nie in nennenswertem Maße autark sein, doch sie kann genug Geld zur Seite legen, um einen Sturm im Außenhandel überdauern zu können. Und manchmal ist der Sturm selbstverursacht, weil man die heftigsten Sanktionen der Weltgeschichte provoziert.
Russland beging 2022 den kaum verständlichen Fehler, knapp 300 Milliarden USD seines Staatsfonds im westlichen Ausland liegen zu haben, wo sie nun eingefroren sind. Vom liquiden (also verfügbaren) Teil des NWF sind derzeit mit knapp 39 Milliarden USD nur noch 38 Prozent des Niveaus zu Kriegsausbruch verfügbar. Vor einem Jahr waren es noch knapp über 50 Prozent.
Das erwartete Haushaltsdefizit bedeutet, dass der NWF dieses Jahr nicht etwa mit Öl- und Gasumsätzen aufgefüllt, sondern weiter geleert wird. Für den Kreml ist das kein akuter Notfall: Im aktuellen Tempo könnte er den NWF noch einige Jahre einsetzen. Leert er sich komplett, muss er kreativ werden und beispielsweise Firmenanteile des Fonds veräußern oder Gold- und Währungsreserven an ihn übertragen. Andernfalls verliert die Regierung ein Mittel, um ihre Defizite zu finanzieren. Und die Meldung, dass der NWF leer sei, dürfte zu Verwerfungen beim Rubelpreis führen und Wirtschaftsakteure verunsichern.
Der Kreml zwingt seine Banken
Der zweite Weg für den Kreml, seine Defizite zu finanzieren, ist kreativer und gefährlicher.Im Grunde geht es um Schulden. Das Problem dabei ist, dass Russland effektiv von den internationalen Finanzmärkten abgeschnitten ist. Also muss die Regierung auf den heimischen Markt setzen. Dass sie das tut, war bekannt: Sie verschaffte sich höhere Umsätze, indem sie im August 2023 eine Steuererhöhung auf große Firmen erließ und Mitte 2024 die größte Erhöhung seit Jahrzehnten auf Haushalte und Firmen beschloss, welche seit 2025 wirksam ist. Sie leiht sich lokal Geld. Und sie lässt sich von großen Staatsfirmen wie der Sberbank und VTB höhere Dividenden auszahlen (beides ist im oben erwähnten Defizit allerdings bereits inbegriffen). Jüngst hat sich jedoch herausgestellt, dass der Kreml außerdem auf eine exotischere Maßnahme setzt: Er zwingt die Banken des Landes anhand eines Gesetzes vom 25. Februar 2022, günstige Kredite an Firmen im Militärsektor zu vergeben.
Indem die Regierung die Banken zur Kreditvergabe zwingt, kann sie Militärausgaben aus ihrem Haushalt auslagern – gewissermaßen ein Pendant zu deutschen Sondervermögen. Seit Mitte 2022 ist die russische Unternehmensverschuldung um schwierig erklärliche 71 Prozent bzw. 446 Milliarden USD (19,4 Prozent des BIP) gestiegen, so Craig Kennedy, ein Historiker und Finanzexperte von der Harvard University. 70 Prozent dieses Anstiegs seien in den militärisch relevanten Sektor geflossen, rechnet er vor. 210 bis 250 Milliarden USD ließen sich auf die Zwangskredite zurückführen.
Die Kredite stellen ein Risiko für die Banken und damit für die Finanzstabilität des Landes dar. Da die Geldhäuser die Kredite nicht nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten vergeben, sondern nach vom Kreml diktierten Konditionen, ist das Ausfallrisiko erhöht und die Rendite vermutlich minimal. In vielen Fällen dürfte eine Rückzahlung sogar praktisch ausgeschlossen sein. Für die Banken stellen die Kredite ein großes Risiko in der Bilanz dar; und sie bedeuten weniger Kapital, das sie in tatsächlich renditestarke Investitionen (z.B. im zivilen Sektor) lenken können. Für die Zentralbank bedeuten die “Zwangskredite”, dass ihre Leitzinserhöhungen nie ganz so wirken, wie sie es sollen: Ein (immer größer werdender) Teil der russischen Wirtschaft ist praktisch immun gegen höhere Leitzinsen, da der Kreml den Banken einfach diktiert, ihm niedrigere anzubieten. Das hat die Zentralbank selbst bereits beklagt.
Möchte die Zentralbank die Inflation senken, doch ein großer Teil der Wirtschaft ist insensitiv für Leitzinsen, so muss sie für die restliche, “sensitive” Wirtschaft eben ein noch höheres Zinsniveau festlegen. Ein Leidträger sind die Banken; ein anderer die gesamte zivile Wirtschaft, deren Finanzierungskosten drastisch steigen. Die Sberbank und VTB, Russlands zwei größte Banken, berichteten im ersten Quartal einen kräftigen Anstieg von gefährdeten Krediten. Bei der Sberbank wuchs die Zahl der Verbraucherkredite und Hypotheken mit Zahlungsproblemen um 90 Prozent. Da die hohen Zinsen die Finanzstabilität und die Gesundheit des zivilen Sektors gefährden, werden die Zwangskredite für die gesamte russische Wirtschaft zum mittelfristigen Risiko. Einige Beobachter nennen es etwas dramatischer formuliert eine “tickende Zeitbombe”..
Die Finanzstabilität ist die Art von Problem, das sich gut verdrängen lässt, doch besonders drastisch rächen kann. Anders als hohe Inflationsraten, welche mit viel Nervosität von der Bevölkerung beäugt werden, sind faule Bankkredite an der Oberfläche unsichtbar. Und während Inflation nach und nach an der Stabilität der Wirtschaft und dem Vertrauen in ihre Institutionen zehrt (mit Ausnahme einer extremen Hyperinflation), kann eine Finanzkrise plötzlich ausbrechen und in kürzester Zeit drastische Folgen haben. Eine Kaskade an gescheiterten Krediten könnte zum Bankrott von einer, dann mehreren Banken führen, der sich selbstverstärkend in eine tiefe Wirtschaftskrise eskaliert.
Russland vor Schmerzen: Inflation und Wachstum_
(3 Minuten Lesezeit)

Die Inflation lässt nicht nach
Das Preisniveau in Russland ist in den letzten drei Jahren deutlich gestiegen. Der Verbraucherpreisindex liegt 32 Prozent höher als zum Vorkriegsniveau – und das sind wohlgemerkt offizielle Zahlen mit bedingter Glaubwürdigkeit. Allein seit unserem letzten Explainer im Februar 2024 ist das Preisniveau offiziell um fast 11 Prozent gestiegen. Das hängt mit dem raschen Wachstum zusammen, welches zu mehr Nachfrage und steigenden Löhnen führt; mit den westlichen Exportsanktionen, welche bei aller Sanktionsumgehung die Importpreise steigern; und mit dem Rubel, welcher seit 2022 überwiegend schwach war und somit Importe weiter verteuerte.
Die hohe Inflation verunsichert Haushalte, auch wenn sich diese in den vergangenen Monaten über ein kräftiges Reallohnwachstum dank des hohen Wirtschaftswachstums freuen konnten – ihr Einkommen wuchs also schneller als die Preise. Das ist wiederum ungeschickt für die Firmen, die nicht nur teurere Vorgüter, sondern auch höhere Arbeitskosten aushalten müssen. Jene im militärischen Sektor können das gut wegstecken; jene im zivilen Sektor tun sich schwerer.
Das Kernproblem hinter der Inflation ist der Kapazitätsmangel in der russischen Wirtschaft, welchen wir schon im ersten Explainer erklärten. Für die hohe, staatlich angekurbelte Nachfrage fehlt es einfach an Produktionskapazität, weswegen die Preise als Ausgleichsmechanismus steigen. Einberufungen und Fluchtbewegungen entziehen zusätzlich Arbeitskräfte. Das erklärt, warum die Arbeitslosenquote mit 2,3 Prozent so niedrig wie noch nie in der Geschichte des Landes ist. Und das erklärt wiederum die Lohnanstiege, welche zugleich zur Inflation beitragen.

Die Brechstange der Zentralbank
Die Zentralbank versteht, dass die hohe Inflation einen Destabilisierungsfaktor darstellt. Also steuert sie mit hohen Leitzinsen dagegen. Seit Mitte 2023 sind die Zinsen von 7,5 auf 21 Prozent hochgeschnellt, das bislang höchste Niveau überhaupt. Obwohl es zuletzt sehr sanfte Zeichen gab, dass die Inflation etwas abnehmen könnte, bleibt sie bei über 10 Prozent im Jahresvergleich und weit über dem 4-Prozent-Ziel der Zentralbank. An den hohen Leitzinsen dürfte sich in absehbarer Zeit also nichts ändern – zumindest theoretisch.
In der Praxis machen Unternehmensverbände immer mehr Druck und auch der Kreml wird ungeduldiger. Putin forderte die Zentralbank schon im März zu einer “balancierten” Entscheidung auf und verlangte, die Wirtschaft nicht “einzufrieren”. Der angriffslustige TV-Moderator Wladimir Solowjow, das zentrale Gesicht der Kreml-Propaganda nach innen, verlangte gar Lügendetektor-Tests an Zentralbankdirektoren, um zu prüfen, ob sie ihr Land eigentlich lieben. Das spiegelt den wachsenden politischen Druck, unter dem die Zentralbank steht – und den Druck, den die hohen Leitzinsen auf die Wirtschaft ausüben.
Gut zu wissen: Leitzinsen bedingen die Zinsen, mit welchen Banken untereinander und an Firmen sowie Haushalte verleihen. Damit beeinflussen sie maßgeblich das Investitions- und Konsumaufkommen und somit die allgemeine Wirtschaftsaktivität. Über Nachfrage, Geldmenge und Gehaltswachstum korreliert Wirtschaftswachstum mit Inflation (der Zusammenhang hält nicht immer, auf lange Sicht jedoch hinreichend). Das heißt: Hohe Leitzinsen kühlen in aller Regel die Wirtschaft herab und senken die Inflation; niedrige Leitzinsen treiben die Konjunktur an und wirken inflationär. Unser Explainer “Die Inflation ist vorüber” aus Oktober 2024 erklärt mehr.

Auch bei der Frage der Leitzinsen spielt die Zweiteilung der russischen Wirtschaft eine hohe Rolle. Wie schon erwähnt kann der militärische Sektor die hohen Zinsen wahlweise gut verkraften oder spürt sie gar nicht, da er von künstlich vergünstigten Krediten profitiert. Der zivile Sektor spürt sie hingegen vollends; er muss sich zu Marktkonditionen verschulden, welchen derzeit ein rekordhoher Leitzins zugrunde liegt. Die Investitionen der nicht-militärischen Firmen schrumpfen und ihre Finanzierungskosten steigen; Firmen geraten in Schuldennöte und senken ihre Produktion und ihre Gehälter. Das Wirtschaftswachstum drosselt sich.
Das Wachstum schrumpft
Das ist keine reine Theorie. Russlands BIP-Wachstum betrug trotz massiver Rüstungsinvestitionen im ersten Quartal 2025 nur 1,7 Prozent. Das ist ein deutlicher Einbruch gegenüber den 4,5 Prozent aus Q4 2024, also dem direkten Vorquartal. Die Industrieproduktion wuchs fünfmal weniger (1,1 statt 5,7 Prozent); der Großhandel schrumpfte gar um 2,1 Prozent, zum ersten Mal seit Ende 2023. Die Quartalszahlen überdecken dabei sogar noch einen heftigen Fall von Januar auf Februar. Das BIP-Wachstum stürzte von 3 auf 0,8 Prozent; die Industrieproduktion von 2,2 auf 0,2 Prozent. Die Einzelhandelsumsätze wuchsen nur um 2,2 Prozent, was nach den 5,4 Prozent im Januar auf eine kräftige Eintrübung der Verbraucherstimmung hindeutet.
Und die Zweiteilung? Zeigt sich wenig überraschend auch in den neuesten Zahlen. Die Produktion im nicht-militärischen Sektor fiel im ersten Quartal um 0,8 Prozent pro Monat. Das ist übrigens eine Einschätzung des Kreml-nahen Thinktanks CMASF, die realen Zahlen könnten also noch schwächer ausgesehen haben.
Ein Ausblick_
(3,5 Minuten Lesezeit)
Nicht mehr überhitzt (dafür bald in einer Rezession?)
Russlands Wirtschaft befindet sich an einer komplizierten Stelle. Die akuten Beschwerden sind keine Geheimnisse, schließlich bezogen sich fast alle Zahlen in diesem Explainer auf offizielle Stellen. Das Finanzministerium und (vor allem) die Zentralbank beklagen hohe Inflation, sinkende Investitionen, steigende Staatsdefizite, gefährlich hohe Unternehmensverschuldung und mehr. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sprach mit Hinblick auf die Ölpreise von einer “extrem volatilen, angespannten und emotional aufgeladenen” Situation für das Land.
Die russische Wirtschaft dürfte schon bald nicht mehr überhitzt sein, denn das Wachstum verlangsamt sich. Für das laufende Jahr rechnet die Regierung mit 2,5 Prozent Plus, nach rund 4 Prozent in den zwei Vorjahren. Unabhängige Beobachter prognostizieren eher 1,7 Prozent; manche Schätzungen gehen bis 1 Prozent herunter. Das ist für ein Entwicklungsland (das russische BIP pro Kopf ähnelt China) beileibe kein hoher Wert.
Sinkende Wachstumszahlen waren notwendig, denn eine überhitzende Wirtschaft befindet sich per Definition oberhalb ihres nachhaltig möglichen Produktionsniveaus. Wichtiger ist die Frage, wie diese Abkühlung vonstattengeht und mit wie vielen Schmerzen sie einhergeht. Die Gefahr, dass Russland in eine Rezession kippt, wirkt tendenziell höher als vor einem Jahr: Die Zentralbank hat keinen sauberen Pfad, die Leitzinsen zu senken; (nicht-militärische) Firmen zeigen Schwächesignale; Verbraucher verlieren trotz Reallohnanstiegen an Zuversicht; und der Ölpreis drückt den Haushalt ins Defizit. Gerät die Regierung in Finanzierungsschwierigkeiten und der Staatsfonds NWF sieht zu dünn aus, könnte sie anfangen, im nicht-militärischen Sektor Ausgaben zu streichen – etwa bei den Sozialausgaben. Das würde das Wachstum weiter senken und könnte politische Implikationen haben.
Was kommt nach der Kriegswirtschaft?
Wohl noch gefährlicher als diese akuten Fragestellungen ist, wie Russland mit seiner Metamorphose und seinen Tricksereien umgehen möchte. Das Land existiert von nun an als Kriegswirtschaft und es kann diese nicht einfach abwickeln, ohne eine tiefe Depression zu riskieren. Der militärische Sektor wird Russland langfristig wenig Rendite abwerfen. Plump gesagt: Panzer und Raketen tragen weder zum Lebensstandard der Russen noch zur produktiven Kapazitäten des Landes bei. Der weitaus wichtigere zivile Sektor ist dagegen ausgezehrt und ist damit auch künftig exponierter gegenüber Schocks, also Krisen verschiedenster Manier.
Verkleinert Russland den militärischen Sektor nicht, hätte das also problematische Langfristeffekte. Verkleinert es ihn, hätte das brandgefährliche Kurzfristeffekte. Schließt der Kreml etwa Frieden und reduziert die Aufträge an den militärischen Sektor spürbar, so trifft das einen großen Teil der Wirtschaft und macht eine Rezession wahrscheinlich. Zudem rächt sich das Kreditmanöver des Kremls, also die “Schattenfinanzierung” der Militärausgaben durch Zwangskredite: Rüstungsfirmen (von denen viele dank staatlicher Gelder nie sonderlich effizient operieren mussten) geraten plötzlich in Schwierigkeiten. Die Kredite, welche der Staat den russischen Banken diktiert hatte, scheitern massenweise; Banken gehen pleite und eine Finanzkrise bricht aus.
Der Trump-Effekt
Was ist der beste Ausweg für Russland? Die Erlösung könnte in Form von Donald Trump kommen. Vollzieht dieser die angedeutete, noch aber schwierig lesbare Normalisierung mit Moskau, wäre es das Beste, was dem Land widerfahren könnte – vor allem, wenn die Europäer nach und nach mitziehen sollten. Eine vollständige Sanktionslockerung würde die Importpreise senken, die Exportumsätze erhöhen; eingefrorene russische Vermögenswerte im Ausland verfügbar machen; und den Zugang zum internationalen Finanzmarkt wiederherstellen. Der Kreml könnte sich international verschulden (und das dank einer geringen Schuldenquote womöglich sogar relativ günstig), statt weiterhin die Bilanzen seiner Banken vergiften zu müssen; dort, wo Kredite unweigerlich verfaulen, besäße er wieder die finanzielle Schlagkraft, um sie den Banken aus den Bilanzen wegzukaufen. Der Exodus westlicher Firmen ab 2022 könnte sich umkehren und Kapital ins Land fließen lassen, das den zivilen Sektor vis-à-vis dem militärischen stärkt und so die Normalisierung der Kriegswirtschaft etwas erleichtert. Selbst, wenn sich dieses Positivszenario nur in Teilen (gemäß einer teilweisen Sanktionslockerung) realisiert: Russland wäre auf einem deutlich solideren Pfad.
Ein Fazit
Für ihr Fazit könnte die whathappened-Redaktion einen Satz aus ihrem Explainer aus Februar 2024 bemühen: Russland steht nicht vor dem wirtschaftlichen Untergang, zumindest nicht akut. Doch die Probleme, für welche wir vor 14 Monaten unter die Oberfläche schauen mussten, lassen sich inzwischen direkt an dieser erkennen. Dazu kommen neue (bzw. neuerdings bekannte) Probleme wie die riskante “Schattenfinanzierung” des Krieges durch Zwangskredite, die die Finanzstabilität gefährden und ihr Gefahrenpotenzial ausgerechnet im Falle eines Kriegsendes “zünden” könnten.
Sowohl die akuten Herausforderungen (Inflation, Wachstum, Haushalt, …) als auch der langfristige Umgang mit einer vulnerablen, unproduktiven Kriegswirtschaft sind hochkomplex. Egal, ob Russland den Krieg fortsetzt oder ihn beendet, es ist Risiken ausgesetzt. Die Wahrscheinlichkeit ist darum hoch, dass die Lageeinschätzung der russischen Wirtschaft in einem weiteren Jahr noch schlechter ausfällt und die Verteilungskämpfe zugenommen haben. Teilweise liegt das aber gar nicht in der Hand der russischen Behörden und Wirtschaftsakteure: Der Ölpreis, die neue Regierung in den USA und die Reaktion der Europäer werden in hohem Maße ihr Geschick bestimmen. Damit bleibt vor allem Unsicherheit – sowohl für Beobachter im Ausland als auch für Russland selbst.
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