Woher die Ukraine stammt, Teil 2

Die Suche nach der Nation: 1654 bis 1921. 
01.09.2024


Spaltung | (Klein-)Russland | Nationalismus | Aufstieg und Fall
(19 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Das kosakische Hetmanat war ab 1648 die erste unabhängige Proto-Ukraine. Im Dreikampf zwischen Polen-Litauen, den Osmanen und Moskau band es sich an die Zaren.
  • Die Anführer der Kosaken bereuten das früh, doch schafften es nicht, die russische Kontrolle abzuschütteln. Stattdessen wurden die Ukrainer zwischen Russland und Polen aufgeteilt.
  • Im russischen Teil blieb die Identität als Ukrainer bestehen, parallel entstand aber ein Selbstverständnis als “Kleinrussland“. Im polnischen Teil nannten sich die ethnischen Ukrainer selbst Ruthenen und widerstanden Polonisierung.
  • Mit der Zeit eroberte Russland weitere Teile der heutigen Ukraine, darunter den Süden mitsamt der Krim. Polen wurde aufgeteilt. Der Westen fiel teilweise an Österreich.
  • Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts beflügelte auf beiden Seiten das Selbstverständnis als ukrainische Nation, sehr zum Unmut Sankt Petersburgs und Wiens.
  • Das Nachspiel des Ersten Weltkriegs und die Revolutionen 1917 führten zur ukrainischen Staatsgründung – im Westen sowie im Osten.
  • Nach Jahrhunderten der Trennung waren die zwei Teile der Ukraine einander zu unähnlich; ihre politischen Prioritäten liefen gegeneinander. Sie wurden im Unabhängigkeitskrieg gegen Sowjetrussland und Polen zerrieben; die Ukraine verschwand.

Prolog

Gut zu wissen: Das hier ist der zweite Teil eines dreiteiligen Explainers zur Geschichte der Ukraine. Den ersten Teil findest du hier bzw. im Explainer-Tab der App. Es handelt sich um unseren zweiten mehrteiligen Geschichtsexplainer nach jenem zu Israel und Palästina (Link auch am Ende).

Der erste Teil unseres großen Explainers zur Geschichte der Ukraine zeigte ihre Anfänge auf. In der Antike trafen wohlhabende griechische Kolonien an der Küste des Schwarzen Meers auf dominante Reitervölker in der weitläufigen Steppe direkt darüber. Deren Einfluss erstreckte sich auch auf die Wälder, Felder und Sümpfe des Nordens, in welchen die Slawen in kleinen Stämmen lebten. Mit dem Ende der Antike begann ab 880 der Aufstieg der wikingisch-slawischen Rus, dem ersten Großreich Osteuropas.

Die Rus mit ihrem Zentrum Kiew war in Fürstentümer aufgeteilt und entwickelte schnell Fliehkräfte. Zwei Fürstentümer kristallisierten sich als wichtig heraus: Wladimir-Suzdal im Osten, aus welchem Moskau und Russland hervorgehen würden, und Galizien-Wolhynien im Westen, welches die Identität der Westukraine bewahren würde. Zuerst beendete allerdings die Invasion der Mongolen bis etwa 1240 das Reich der Rus offiziell.

Die Mongolen blieben nicht lange. Im Verlaufe des 14. Jahrhunderts verleibten sich Litauen und Polen den Großteil der Rus-Länder und der heutigen Ukraine ein. Als späterer Unionsstaat Polen-Litauen (unter polnischer Dominanz) bildeten sie den größten Machtblock in Osteuropa. Die südliche heutige Ukraine wurde derweil vom Osmanischen Reich kontrolliert, genauer vom tatarischen Krim-Khanat. Mit seinen regelmäßigen Sklaverei-Raubzügen machte das halbnomadische Turkvolk jede Besiedlung der Steppe, “Wildes Feld” genannt, unmöglich. Und im Osten expandierte Moskau rasant in alle Richtungen.

Die Ausgangslage

Im Grenzgebiet (auf Slawisch Ukraina) von Polen-Litauen zur tatarischen Steppe begann ab dem 15. Jahrhundert ein vorsichtiger Besiedlungsprozess. Ermöglicht wurde er durch die Kosaken, einen Militärbund aus Vagabunden, Abenteurern und Verstoßenen, welcher das Krim-Khanat auf Distanz hielt. Die Kosaken waren für Polen-Litauen ein nützliches Mittel zur Besiedlung der Ukraine, doch entwickelten alsbald politische Ambitionen. Unter ihrem Hetman, also Anführer, Bohdan Khmelnytsky begannen sie 1648 eine erfolgreiche Rebellion und trennten das Hetmanat aus Polen-Litauen heraus. Teile der heutigen Ukraine waren somit faktisch unabhängig. Im Westen blieb viel von ihr in polnischer Hand (z.B. Lwiw in Galizien), der Süden gehörte weiterhin dem Krim-Khanat (z.B. die Krim, Saporischschja) und der Osten wurde erst allmählich erschlossen und besiedelt (z.B. Charkiw, Donbass). 

Um sich der Bedrohung durch Polen-Litauen zu erwehren, verbündete sich das Hetmanat mit dem aufstrebenden Moskau. Der Vertrag von Perejaslawl 1654 ist bis heute die zentrale historische Verbindung zwischen Ukrainern und Russen. Die beiden Seiten interpretierten ihn schon damals unterschiedlich: Für Khmelnytsky war es ein temporärer Vasallenpakt mit Verantwortlichkeiten auf beiden Seiten. Für den russischen Zaren war es die bedingungslose Unterordnung als Subjekt. Das Hetmanat hatte Polen-Litauen abgeschüttelt, doch sich an Russland gebunden – und es bekam früh Zweifel an seinem Deal.

Die Ukraine geht auseinander_ (1654-1721)

(4 Minuten Lesezeit)

Die drei Aufstände

Das Hetmanat begab sich nicht still unter russische Kontrolle. Mehrfach begehrte es auf. Bereits der Nachfolger des “Staatsgründers” Khmelnytsky, ein Mann namens Iwan Wyhowskyj, erkannte, wie ungünstig der Vertrag von Perejaslawl für die Ukraine war. Also wählte er 1658 ein Manöver, welches seinen Vorgängern undenkbar erschienen wäre: ein Abkommen mit Polen-Litauen, dem früheren Erzfeind. Genauer wollte er mit dem Vertrag von Hadjatsch die Union von Polen-Litauen durch eine gleichberechtigte Rus ergänzen. In der “Republik Dreier Nationen” wäre sogar die orthodoxe Kirche gleichwertig zur katholischen Kirche erhoben worden.

Der Zar in Moskau reagierte auf die Verhandlungen mit einem Einmarsch. Wyhowskyjs Kosaken errangen zwar wichtige Siege auf dem Schlachtfeld, doch der Sejm, quasi das polnische Parlament, ratifizierte den Vertrag von Hadjatsch nur mit großen Einschränkungen. Das kostete Wyhowskyj viel Zustimmung in den eigenen Reihen und zwang ihn letztlich zur Aufgabe. Parallel herrschte ein Krieg zwischen Moskau und Polen, welcher auch das Hetmanat im Jahr 1660 entzweiriss. Auf der rechten (westlichen) Seite des Dnjepr unterwarfen sich die Kosaken dem polnischen König, auf der linken (östlichen) Seite dem Zaren. Im Vertrag von Andrusowo 1667 formalisierten König und Zar das: Die kosakische Ukraine wurde am Dnjepr entzweigeteilt.

Gut zu wissen: Die Trennlinie der ukrainischen Geschichte ist der Dnjepr. Da Flüsse flussabwärts “gelesen” werden, von der Quelle zur Mündung, liegt die linke Dnjepr-Seite östlich und vice versa – auf den ersten Blick nicht intuitiv.

Die Teilung verpasste dem ukrainischen Nationalismus neuen Schwung. Der neue Hetman Petro Doroschenko, von Kosaken auf beiden Dnjepr-Seiten zum Anführer gewählt, verbündete sich 1672 mit dem Osmanischen Reich. Gemeinsam mit seinen Vasallen, etwa Moldawien und den Krimtartaren, brach der Sultan tatsächlich das polnisch-Moskauer Duopol in der Ukraine – hinterließ allerdings auch verbrannte Erde, abgerissene Kirchen und ein Comeback der Sklavenjagden durch die Krim-Tartaren. Doroschenko verlor die Unterstützung der eigenen Leute, das Osmanische Reich wurde allmählich abgedrängt und bis 1676 war die polnisch-Moskauer Grenze wiederhergestellt.

Der letzte große Aufstand fand durch Iwan Masepa statt, neben dem ersten Hetman Bohdan Khmelnytsky bis heute einer der Nationalhelden der Ukraine. Masepa war ab 1687 Hetman und pflegte eigentlich ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Zar Peter I. Als 1700 der Große Nordische Krieg zwischen Moskau und dem aufstrebenden Schweden ausbrach, stand Masepa an der Seite seines Zaren – bis Schweden die Ukraine erreichte und Moskau den Kosaken die Unterstützung verweigerte. Masepa wertete das als Vertragsbruch, womit er wie schon seine Vorgänger bewies, das Verhältnis zwischen Moskau und Ukraine als beidseitiges Verhältnis zu werten und nicht wie der Zar als bedingungslose Unterwerfung. Masepa wechselte die Seite und unterstützte Schwedens erst 18-jährigen König Karl XII. Dessen Höhenflug endete allerdings jäh mit der katastrophalen Schlacht von Poltawa 1709. Die Niederlage gegen Russland beendete nicht nur die schwedischen Ambitionen, sondern auch jene der Kosaken. Karl XII. und Masepa mussten ins Osmanische Reich fliehen; der schwedische Monarch kehrte erst fünf Jahre später in sein Reich zurück, der Kosakenführer starb noch im Exil.

Gut zu wissen: Iwan Mazepa ist eine polarisierende Figur. Im Russischen gilt er als Inbegriff des Verräters (praktisch ein säkularer “Judas”) und des staatszersetzenden Separatismus. Im späteren Zarenreich und in der Sowjetunion wurde “Mazepist” als Denunziation echter und vermeintlicher Regimegegner verwendet. Im Ukrainischen ist er dagegen ein Nationalheld. 

Der Ruin und die Blüte

Alle drei großen Kosaken-Aufstände in den Jahrzehnten nach dem Vertrag von Perejaslaw schlugen fehl, womit diese Ära in der ukrainischen Geschichtsschreibung den Namen “Ruin” trägt. Dabei brachten die Pakte mit Polen-Litauen, dem Osmanenreich und Schweden allesamt anfängliche Erfolge. Doch das kosakische Ziel, eine unabhängige Ukraine beiderseits des Dnjepr hervorzubringen, wurde jedes Mal im Dreikampf zwischen den Großreichen zermalmt (ein Vierkampf, mit Schweden). Dazu kam, dass die Kosaken keineswegs geeint waren. Als orthodoxes Reich – genauer sogar die Führungsmacht der orthodoxen Kirche – war Moskau vielen Kosaken näher als Warschau oder Istanbul. Ersteres war der alte (katholische) Erzfeind; zweiteres ein muslimischer Außenseiter, welcher die verhassten Krim-Tartaren unterstützte. Viele Kosaken unterstützten deswegen nicht Wyhowskyj, Doroschenko oder Masepa in deren Rebellionen, sondern den Zaren.

Zur Legitimation der Zaren trug bei, dass die linke Dnjepr-Seite eine kleine Blütephase erlebte. Während die osmanische Invasion die Kosakengebiete am rechten (westlichen) Dnjepr-Ufer auf Jahrzehnte zerstörte, war die linke Seite, unter Moskauer Kontrolle, verhältnismäßig stabil. Die Wirtschaft und Kultur florierten, Migranten und Flüchtlinge vom anderen Ufer strömten hinzu. Die alte Rus-Hauptstadt Kiew knüpfte endlich wieder an ihre Bedeutung von vor 400 Jahren an, als sie von den Mongolen zerstört worden war. Vielen Kosaken ging es unter Moskauer Führung nicht übel, da sie zu einer Art Landadel aufstiegen.

Gut zu wissen: 1721 wurde Moskau endgültig zum Russischen Kaiserreich. Peter I. der Große war nicht länger nur Zar, sondern ernannte sich nach dem Sieg im Großen Nordischen Krieg zum ersten Kaiser (“Imperator“) des Reichs. Der Titel “Zar” ist etymologisch zwar mit “Kaiser” verwandt, doch entsprach faktisch viel mehr einem König als einem Kaiser. “Zar” ist im deutschen und englischen Sprachgebrauch bis heute für die russischen Kaiser geläufig, doch im Russischen selbst sind die Herrscher nach Peter I. tatsächlich formal als “Imperatoren” mit mehreren Zarentiteln bekannt. In Westeuropa wurde Russland noch ein Weilchen lang, sehr zu dessen Ärger, als “Moskowien” bezeichnet.

Russland und Kleinrussland_ (1721-1795)

(4 Minuten Lesezeit)

Ankunft von Zarin Katharina II. die Große in Theodosia auf der Krim, 1787, vier Jahre nach der Annexion der Krim.
Gemälde von Ivan Aivazovsky, 1883. Quelle: Ivan Aivazovsky, wikimedia

Das Ende Polens, der Anfang des Südens

Politisch verstanden die Zaren, dass ein autonomes Hetmanat nicht in ihrem Interesse war. Nach jedem Aufstand drehten sie die Daumenschrauben enger, etwa, indem sie sich in die Wahl des Hetmans einmischten oder kurzerhand eigene Truppen in den Kosakengebieten stationierten. Sie verstanden es aber auch, bei zu viel Druck etwas nachzulassen, bevor sie die Kosaken weiter enhegten. Unter Kaiserin Katharina der Großen, der absolutistischen Herrscherin von 1762 bis 1796, verlor das Hetmanat sämtliche Sonderrechte und verschwand komplett von der Landkarte. Seine ländliche Bevölkerung geriet in die Leibeigenschaft.

Katharina trieb außerdem die Russifizierung der Ukraine voran, wie sie in einem Schreiben aus 1764 ausdrücklich forderte. “Kleinrussland” müsse schnellstmöglich russifiziert werden, und: “Sobald die Hetmane aus Kleinrussland verschwunden sind, muss alles unternommen werden, um die Erinnerung an die Ära der Hetmane auszulöschen”. Im selben Jahr wurde der Posten abgeschafft; 20 Jahre später dann das Hetmanat als territoriale Einheit final in Russland absorbiert. Der erste ukrainische Proto-Staat, 1649 geschaffen, war nicht mehr.

Russlands Expansion war noch längst nicht zu Ende. Im Russisch-Türkischen Krieg 1768-1774 besiegte es das Osmanische Reich und übernahm die Kontrolle über das nördliche Schwarze Meer. 1783 annektierte es formal die Krim. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass die Steppe nicht durch iranische, mongolische oder Turkvölker kontrolliert wurde. Im Westen hatte derweil Polen-Litauen seinen Zenit überschritten und wurde allmählich zwischen den aufstrebenden Mächten Russland, Preußen und dem Habsburgerreich (später Österreich-Ungarn) aufgerieben. Wortwörtlich: Nach einer Kriegsniederlage wurde die Union 1772 aufgeteilt. Zwei weitere Aufteilungen folgten, bis Polen und Litauen 1795 von der Landkarte verschwunden waren. Russland war die dominierende Macht in Osteuropa, in Kürze sogar in ganz Europa. Und es kontrollierte erstmals einen Großteil der heutigen Ukraine.

Die erste (1772), zweite (1793) und dritte (1795) Aufteilung Polens zwischen Russland, Österreich und Preußen:

Quelle: Halibutt, wikimedia
Quelle: Halibutt, wikimedia
Quelle: Halibutt, wikimedia

Zwei Brüdervölker?

Zu dieser Zeit entstand das, was viele moderne Beobachter als permanente Eigenschaft missverstehen: Die Idee einer natürlichen ukrainisch-russischen Verbindung, gar einer untrennbaren gemeinsamen Identität. Von russischer Seite bestand ein intuitives Interesse daran, Nähe herzustellen. Die Zaren blickten seit dem 16. Jahrhundert mit viel Sorge auf Polen, ihren Erzfeind, welcher offen Anspruch auf Kiew stellte und einst gar Moskau besetzt hielt. Also musste Moskau seine Territorialansprüche unterstreichen und die lokale Elite für sich gewinnen. Noch vor Katharinas Russifizierung beschrieb das erste russische Geschichtsbuch überhaupt, die im Jahr 1674 veröffentlichte Synopsis, Kiew als Ursprung der orthodoxen Kirche und als Mutterstadt der Moskauer Zaren. Diese seien außerdem die natürlichen Nachfahren der Rus-Prinzen. Das Zarentum und das Hetmanat seien damit eine untrennbare Einheit. 

Zwischen Hetmanat-Ukrainern und Russen entstand tatsächlich eine kräftige Synergie und viele Bewohner des Hetmanats hatten kein Problem damit, in Russland aufzugehen (und falls sie es taten, so wissen wir heute wenig davon). Die Ukrainer profitierten von ihrer Assoziation mit einer der wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Supermächte ihrer Zeit. Andersherum setzte Russland die Kosaken im Militär und als Kolonisten ein, etwa bei der Besiedlung der Sloboda Ukraine, jener Region, in welcher ab etwa 1640 Städte wie Charkiw, Sumy, Bakhmut und Sudscha entstanden. Später waren es mehrheitlich Ukrainer, welche die Tartarengebiete im heutigen Donbass und der Südukraine besiedelten. Zudem wurde das Kaiserreich in hohem Maße von den Ukrainern beeinflusst, welche einen auffällig hohen Anteil der kulturellen Elite sowie des Hofstaats ausmachten. Um etwa 1760 gab es doppelt so viele ukrainische wie russische Ärzte im Kaiserreich und ein Drittel aller Studenten am Lehrerkolleg in Sankt Petersburg stammten aus dem Hetmanat. Noch bis zum Ende der Sowjetunion sollten Ukrainer eine überproportionale Rolle innerhalb Russlands spielen.

Gut zu wissen: Nach der Aufteilung Polens waren 22 Prozent der Einwohner Russlands ethnische Ukrainer; davor waren es 13 Prozent.

Ethnografische Karte der Ukraine, 1945. Zeigt sämtliche Gebiete, in welchen ethnische Ukrainer eine Pluralität der Bevölkerung darstellen; angefertigt von zwei ukrainischen Ethnografen. Quelle: Kubiyovych, Kulchytsky, wikimedia

Kleinrussen, Ukrainer und Ruthenen

Die Gemengelage bedeutete nicht, dass sich die Ukrainer des 18. Jahrhunderts als Russen sahen. Mehrere unterschiedliche, oftmals ineinandergreifende Identitäten existierten nebeneinander. Viele Mitglieder der lokalen Elite verstanden ihre Heimat durchaus als “Kleinrussland”, ganz im Sinne des imperialen Hofs in Moskau. Meist bedeutete das jedoch nicht, dass sie ein natürlicher Teil Russlands seien, sondern dass sie mit dem Zaren eben denselben Herrscher wie die Russen hatten – eine Unterscheidung, die heute nicht ganz intuitiv ist, es aber in der absolutistischen Neuzeit war. Zugleich sahen sie, vor allem aber die ländliche Bevölkerung, sich noch immer als Ukrainer, also als jenes Volk, welches das einstige Grenzgebiet – auf Slawisch Ukraine – besiedelt hatte. Das gilt insbesondere für das ehemals unabhängige Hetmanat. In der süd(öst)lichen heutigen Ukraine, welche durch die russische Expansion gegen das Osmanische Reich erobert, erschlossen und kolonialisiert worden war, war das Eigenverständnis als Kleinrussland stärker, doch auch dort war der Großteil der Kolonisten Ukrainer.

Und auf der rechten (westlichen) Seite des Dnjepr? Schließlich hatte die Aufspaltung in Polen-Litauen und Moskau im 16. Jahrhundert die Bevölkerung entlang der Flussufer getrennt. Der westliche Teil wurde erst von Polen kontrolliert, dann vom habsburgischen Österreich. Die politische Trennung ließ auch eine allmähliche kulturelle und sprachliche Trennung einsetzen, nicht zuletzt, da Warschau eine Polonisierung betrieb. Wie auch die Russifizierung auf der anderen Dnjepr-Seite wirkte das vor allem bei der Elite, während die (mehrheitlich ländliche) Lokalbevölkerung ihre alte Identität beibehielt. Am rechten Ufer sah sie sich vornehmlich als Ruthenen, eine Abwandlung des alten Begriffs Rus. Das Land, in welchem die Ruthenen innerhalb Polen-Litauens und Österreich-Ungarns lebten, nannten sie “Ukraine”, sich selbst aber zu diesem Zeitpunkt nicht “Ukrainer”. Auch die Identifikation mit den Ukrainern auf der anderen Dnjepr-Seite, einst Teil desselben Volkes, schwand mit den Jahrhunderten.

Der ukrainische Nationalismus_ (1795-1917)

(4 Minuten Lesezeit)

Demonstration vom 17. Oktober 1905 (Petrograd). Gemälde von Ilja Repin, 1911. Quelle: Ilja Repin, wikimedia

Ein Gespenst auf beiden Seiten des Flusses

Das 19. Jahrhundert sollte die Identitätsfrage aufrütteln. Der romantische Nationalismus schwappte durch Europa und schuf Nationalstaaten, groß und klein. Er erfasste auch die Ruthenen im habsburgischen Österreich-Ungarn. Der Vielvölkerstaat bot seinen Subjekten verhältnismäßig viel Autonomie, auch was Sprache, Kultur und Identität betraf. Ruthenische Denker suchten nach einer Nationalidentität und fanden sie im Konzept eines größeren ukrainischen Nationalstaats, welcher die Ukrainer auf der linken (östlichen) Dnjepr-Seite mitmeinte. Aus Ruthenen wurden Ukrainer.

Auch auf der russischen Seite regte sich ukrainischer Nationalismus. Bereits im Jahr 1798 etablierte Iwan Kotljarewskyj mit der Enejida die ukrainische Schriftsprache sowie Literatur. 1818 wurde eine erste ukrainische Grammatik veröffentlicht. Ukrainische Zeitungen, Volkslieder und Geschichtsbücher machten auf einmal die Runden. Der zentrale Mythos war das kosakische Hetmanat und sein romantisierter Kampf gegen Feinde wie Polen, Russen und Juden.

Gut zu wissen: Die Nationalhymne der noch gar nicht geschaffenen Ukraine entstand 1862 im russischen Teil. Ihr Titel, “Noch ist die Ukraine nicht gestorben”, ist direkt inspiriert von der polnischen Hymne, welche die drei Teilungen Polens im 18. Jahrhundert beklagt.

Die russischen und habsburgischen Autoritäten duldeten die Aktivitäten nicht langeBeide Kaiserreiche befürchteten Separatismus und Instabilität, vor allem jenes im Osten. Russland verbot zwischen 1859 und 1876 fast sämtliche Aktivitäten in ukrainischer Sprache, etwa Bücher, Zeitungen, Theaterstücke und Musikauftritte. Prominente Vertreter wurden verhaftet, in den Zwangsmilitärdienst oder ins sibirische Exil gesandt, darunter auch der besonders lautstarke Aktivist Taras Schewtschenko, welcher heute wohl als Nationaldichter und Goethe-Pendant der Ukraine zu bezeichnen ist.

Der russische Innenminister Petr Valuev fasste die Linie Moskaus gut zusammen: “Es gab nie, gibt keine und darf nie eine kleinrussische Sprache geben”. Russland vermutete außerdem, dass “kleinrussische” und ruthenisch-ukrainische Separatisten miteinander konspirierten. Das scheint nicht zu stimmen, doch ironischerweise brachte das robuste Vorgehen der Autoritäten die östlichen und westlichen Ukrainer – getrennt durch Landesgrenzen – tatsächlich näher zusammen und half bei der Entstehung einer gemeinsamen Sprache sowie einer allmählichen gemeinsamen Volksidentität. 

Die erste Revolution

Im Jahr 1905 vermischte sich der ukrainische Nationalismus mit revolutionärer Stimmung im Russischen Kaiserreich. Die Industrialisierung, in Russland spät begonnen, hatte zu sozialen Verwerfungen geführt. Arbeiter protestierten gegen ihre Arbeitsbedingungen und der Zar ließ die Demonstrationen in Petrograd gewaltsam niederschlagen (Sankt Petersburg war umbenannt worden, um weniger Deutsch zu klingen). Die Proteste eskalierten und erfassten das gesamte Land sowie Teile des Militärs – die Revolution von 1905 war ausgebrochen. Binnen einiger Monate gab der Zar nach, versprach liberale Reformen und die Einrichtung des ersten russischen Parlaments, der Duma.

In der Ukraine begannen die Proteste drei Tage nach dem Massaker in Sankt Petersburg, in einer Fabrik in Kiew. Es folgte der Donbass. Er lag einst in der “wilden” Pontischen Steppe, wurde von den Kosaken ab dem 17. Jahrhundert allmählich besiedelt und im späten 19. Jahrhundert von Russland zu einer Industrieregion entwickelt. Mit seinen zahlreichen Fabriken war die Region um Donezk, damals Yuziwka, ein perfekter Nährboden für Unmut. Doch auch die ländliche Bevölkerung, welche trotz Industrialisierung und Urbanisierung die Mehrheit ausmachte, schloss sich den Protesten an. Sie eskalierten in Ausschreitungen und Zusammenstößen mit Royalisten. Einmal erneut gingen damit Pogrome gegen Juden einher.

Gut zu wissen:  Die Gründe für die Revolution von 1905 mögen sozioökonomischer Natur gewesen sein, doch der Auslöser war die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg 1905. Diese erste Niederlage einer modernen europäischen Nation gegen eine asiatische wurde als große Blamage angesehen. Wladimir Lenin nannte die Revolution später “die Große Kostümprobe“, ohne welche die Revolution 1917 nicht möglich gewesen wäre.

Der Point-of-no-Return

Nach den Konzessionen des Zaren beruhigte sich die Lage etwas. Die ukrainische Sprache durfte wieder verwendet werden und wurde an den Akademien als “Kleinrussisch” als Sprache anerkannt, also nicht mehr als Dialekt des Russischen. Zeitungen, Schriftwerke und Theaterstücke erschienen wieder – zumindest bis der Zar nach einigen Monaten das Interesse an seinen liberalen Reformen verlor und wieder die Daumenschrauben anlegte, in Russland sowie in der Ukraine.

Dennoch hatte die “ukrainophile” Bewegung eine neue Qualität angenommen. Zum einen, weil sie im revolutionären Kontext und dank der neuen Massenmedien die Idee einer ukrainischen Nation plötzlich an so viele Menschen bringen konnte, wie noch nie zuvor. Zum anderen, weil sie tatsächlich separatistische Züge annahm: Die erste ukrainische Partei in Russland akzeptierte ein Programm, welchem das Pamphlet “Unabhängige Ukraine” zugrunde lag. Der Autor Mykola Mikhnowskyj verkündete darin: “Wir sind eine versklavte Nation”, und attackierte im Anschluss die rechtliche Grundlage des Vertrags von Perejaslawl 1654, welcher das Hetmanat einst an Moskau band. Offener Separatismus war zwar noch immer nicht die Mehrheitsposition – den meisten ukrainischen Nationalisten ging es um mehr Autonomie oder liberalere Regeln für die eigene Kultur –, aber seine bloße Existenz war ein Zeichen der Zeit.

Gut zu wissen: In bester osteuropäisch-nationalistischer Natur legte Mikhnowskyj außerdem eine Liste an Feinden des ukrainischen Volkes vor: Polen, Russen, Ungarn und, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal, Juden.

Aufstieg und Fall_ (1917-1922)

(6,5 Minuten Lesezeit)

Polnische Truppen in Kiew, 1920. Quelle: Unbekannt, wikimedia

Die Revolutionen 1917

Das Russische Kaiserreich sollte noch 12 Jahre weiter wanken, bevor es umfielDer Erste Weltkrieg ab 1914 geriet zum ausreichend starken Stoß. Da das Reich kaum eines seiner Probleme aus 1905 gelöst hatte, brach im Februar 1917 erneut eine Revolution aus, welche den erschöpften Zaren diesmal zum Rücktritt bewegte. Eine sozialdemokratisch geführte Übergangsregierung übernahm. Acht Monate nach der Februarrevolution rissen dann die kommunistischen Bolschewiken unter Wladimir Lenin in der Oktoberrevolution die Macht an sich.

Die Ukrainer handelten schnell. Im März riefen politische und kulturelle Anführer in Kiew eine Zentrale Rada zusammen, eine Art revolutionäres Parlament. Es beanspruchte die Verwaltungshoheit über die Ukraine, was überwiegend jene Gebiete östlich des Dnjepr meinte, welche schon zum Hetmanat gehört hatten (also weder die heutige West- noch Südukraine). Die überforderte Übergangsregierung in Petrograd nahm an. Unmittelbar nach dem Putsch der Bolschewiken rief die Zentrale Rada die Ukrainische Volksrepublik als autonome Republik aus, welche außerdem noch mehr Gebiete – darunter Charkiw und Cherson – beanspruchte. Auch wenn die Ukraine nach Willen der Rada in einer föderalen Union mit Russland verbleiben sollte, war es eine offene Kampfansage an die Bolschewiken.

Pakt mit den Teufeln

Die Bolschewiken gingen sofort militärisch gegen die Ukraine vor. Sie profitierten davon, dass sie – wie im Rest des Russischen Kaiserreichs – auf viele Unterstützer setzen konnten. Die industriellen Gebiete des Donbass wechselten schnell die Seite. Zudem fehlte es der Zentralen Rada an Truppen. Im Februar 1918 musste die Rada aus Kiew fliehen. Das bewegte sie zum ultimativen Bruch mit Russland: Die Ukraine erklärte sich vollwertig unabhängig, ohne jegliche Union. Es war das erste Mal seit Iwan Mazepa 1708, dass die Ukraine sich gegen Russland stellte.

Nicht nur das: Als unabhängiger Staat konnte sie ihre Außenpolitik in die eigene Hand nehmen. Also schloss sie Frieden mit Deutschland und Österreich-Ungarn und bat beide Mittelmächte um militärischen Beistand, im Gegenzug für Agrarexporte. Die neuen Verbündeten lieferten: Binnen eines Monats waren die Bolschewiken vertrieben und Kiew wieder in der Hand der Rada. Und nicht nur Kiew, sondern die gesamte Ukraine plus die (gar nicht beanspruchte) Krim. Den Bolschewiken blieb nichts anderes übrig, als die Unabhängigkeit der Ukraine in einem Friedensvertrag anzuerkennen.

Die Ukraine in fast moderner Form war geboren, doch in ihrer Geburt ließ sich eine warnende Parallele zur Vergangenheit finden: Wann immer die Ukrainer sich an einen mächtigen Nachbarn wandten, um sich der existenziellen Gefahr durch einen anderen mächtigen Nachbarn zu erwehren, ging das nur kurzzeitig gut. Deutschland sollte die Tradition fortsetzen. Nach einigen Wochen setzte es die Rada ab und einen Generalissimus ein: Pavlo Skoropadsky, welcher für sich den alten Titel “Hetman” wiederbelebte, aber als Militärdiktator von deutschen und österreichischen Gnaden regierte. Seine Regierung war dermaßen unbeliebt, dass sie sofort abgesetzt wurde, nachdem die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg kapituliert hatten. Die Rada war zurück, doch in Russland machten sich die Bolschewiken bereit, erneut anzugreifen.

Sowjetisches Propagandaposter gegen Polen, 1920: “Das ist, wie das Unterfangen der polnischen Fürsten enden wird. Lang lebe Sowjetpolen!”.
Quelle: Stepan Mukharsky – Российская государственная библиотека, wikimedia

Die Lage im Westen

Auch in den westlichen Ukrainergebieten, Teil von Österreich-Ungarn, sorgte der Erste Weltkrieg für Umwerfungen. Dabei war der Hauptgegner der ukrainischen Nationalisten weniger der österreichische Kaiserstaat als die polnischen Nationalisten. Polen war seit 1795 von der Landkarte gelöscht, doch der Teil, welcher Österreich-Ungarn zufiel, besaß eine gewisse Autonomie und träumte, wie die Ukrainer, von einem eigenen Nationalstaat. In der Vorstellung, entlang welcher Grenzen dieser verlaufen sollte, kollidierten Polen und Ukrainer. Beide beanspruchten etwa Galizien mit dem Regionalzentrum Lwiw. Die Ukrainer beriefen sich auf die historische Rus und das Nachfolgefürstentum Galizien-Wolhynien; die Polen beriefen sich auf die 400 Jahre, in welchen sie das Gebiet kontrolliert und (mit bedingtem Erfolg) polonisiert hatten.

Im Grunde existierte der Konflikt zwischen Polen und Ukrainern seitdem das Königreich Polen die westlichen Rus-Fürstentümer im 14. Jahrhundert unter Besitz nahm. Die Elite ließ sich zwar polonisieren, die Landbevölkerung allerdings kaum; allein die Unterschiede in der Religion (orthodox gegen katholisch) und beim Alphabet (kyrillisch gegen lateinisch) sorgten stets für Anspannung. Als sich beide Völker ab 1795 im Kaiserreich Österreich-Ungarn wiederfanden, brachen Verteilungskonflikte aus, welche sich mit dem erstarkenden Nationalismus intensivierten. Dabei behielten die Polen meist die Oberhand. Ein günstiges Wahlrecht garantierte ihnen etwa in Parlamentswahlen die Verwaltungskontrolle über Galizien, trotz der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit. Ethnische Gewalt zwischen Polen und Ukrainern war die Folge, bis hin zur Ermordung des polnischen Statthalters durch einen ukrainischen Studenten im Jahr 1908.

Mit der Kapitulation des Kaiserreichs 1918 sahen Ukrainer und Polen ihre Chance gekommen. Ein Krieg brach aus, in welchem eine neu ausgerufene Westukrainische Volksrepublik die Kontrolle über mehrere Gebiete und die galizische Hauptstadt Lwiw an sich riss. Kurz darauf riefen die Westukrainer gemeinsam mit den Ostukrainern im ehemals russischen Gebiet einen vereinigten Staat aus.

Die Lage in der Ukraine, November 1918. Links nahe Polen (blau) ist die Westukrainische Volksrepublik (helles grün) zu erkennen.
Quelle: Alex Tora, Атлас історії України, wikimedia

Der Doppel-Unabhängigkeitskrieg

Wenn vom Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1918 die Rede ist, so meint das eigentlich vor allem Westeuropa. In Zentral- und Osteuropa gewann der Krieg danach erst so richtig an Fahrt.

Auf dem Gebiet des ehemaligen Russlands bekriegte sich die kommunistische Rote Armee mit der monarchistischen Weißen Armee. Die “Weißen” wollten das Kaiserreich Russland wiederherstellen und konnten auf Unterstützung westlicher Staaten setzen. Die “Roten” zielten auf die sozialistische Weltrevolution ab und profitierten von effektiver Organisation sowie populärem Rückhalt. Zugleich rückten die Kommunisten gegen die Subjekte Russlands vor, welche im Chaos der Revolutionen 1917 ihre Unabhängigkeit erklärt hatten. So auch gegen die Ukraine, welche mit ihren industriellen Zentren und ihrer Agrarproduktion essenziell war. Auf dem Gebiet Österreich-Ungarns wütete parallel der Polnisch-Ukrainische Krieg.

Für die Ukraine war es eine prekäre Lage. Im Osten rückten die Bolschewiken vor, im Westen die Polen. Der Druck zeigte die Schwachstellen des ukrainischen Nationalprojekts auf: Westen und Osten waren sich nicht so ähnlich, wie sie gehofft hatten und es vonnöten gewesen wäre. Zum einen, weil die Ostukrainer weitaus weniger diszipliniert und militärisch fähig waren, als die Westukrainer, und sich die Koordination der Armeen schwierig gestaltete. Zum anderen, weil sie sich bei der Bündniswahl nicht einig wurden.

Die Westukrainer sahen in der Weißen Armee einen potenziellen Verbündeten gegen Polen, welches sie bereits aus Lwiw vertrieben hatte und weiter vorrückte. Für die Ostukrainer war das keine Option, denn die Weißen hatten das erklärte Ziel, das Kaiserreich wiederherzustellen. Stattdessen waren die Polen – der Erzfeind der Westukraine – ein sinnvoller Verbündeter gegen die Bolschewiken und perspektivisch die Weißen. Also schloss die Ostukraine unter Präsident Symon Petliura einen Pakt mit Warschau und erkannte dessen Kontrolle über Galizien an – ein tiefer Bruch mit der Westukraine.

Die Ukraine sollte den Krieg nicht überstehen. Er ging noch rund zwei Jahre hin und her. Territorium wechselte rasant den Besitzer, große Schlachten wurden geführt und Massenmorde verübt. Polen siegte zwar letztlich im Krieg gegen die Bolschewiken und bestätigte mit einem Friedensvertrag im März 1921 seine Unabhängigkeit, doch die Kommunisten hatten nahezu die gesamte Ostukraine mitsamt Kiew erobert. Die Westukraine fiel größtenteils an Polen. Kleinere Teile gingen an Rumänien und die neu geschaffene Tschechoslowakei. Die Ukraine hörte auf, zu existieren.

Osteuropa nach dem Vertrag von Riga 1921, in welchem Polen und Sowjetrussland ihre Grenze festlegten: Die Ukraine geht mehrheitlich in Russland auf, der Westen geht an Polen. Quelle: Halibut, wikimedia

Gut zu wissen: Ein prominenter Bestandteil der Revolutionskriege in Osteuropa 1918-21 waren – schon wieder – Pogrome an Juden. Allein im Jahr 1919 wurden in Polen und der Ukraine fast 100.000 Juden getötet, was die übrigen Jahre und Russland völlig ausklammert. Die Bolschewiken sahen Juden als bürgerliche Kapitalisten, die Weißen und ukrainischen Nationalisten sahen sie als Kommunisten. Dazu kamen “klassische” Motive wie Antisemitismus, christlicher Antijudaismus und  wahrgenommene Verteilungskämpfe, wie sie bereits die zahlreichen Pogrome der Vergangenheit ausgelöst hatten.

Ein gescheiterter Traum

Warum scheiterte das ukrainische Projekt? Aus vielen Gründen. Einmal, weil Polen und Bolschewiken motivierte, zahlenmäßig überlegene Gegner waren, welche die Ukraine von zwei Seiten unter Druck setzten. West- und Ostukraine schafften es nie, sich vernünftig zu koordinieren und ihre abweichenden diplomatischen Präferenzen zu befrieden. Zudem waren insbesondere die Ostukrainer militärisch und in der Staatsführung unerfahren. Die Armee war eher ein Zusammenschluss lokaler Warlords, passenderweise Hetmane genannt, als eine schlagkräftige Einheit; und die zahlenmäßig große ländliche Bevölkerung war nicht mit Inbrunst einer ukrainischen Unabhängigkeit verschrieben, sondern interessierte sich vor allem für jene Seite, welche ihr die besten Versprechen machte. Das war anfangs die Rada, dann waren es die Bolschewiken.

Die Ostukrainer waren darüber hinaus intern zerrissen, was nicht nur die kurzlebige Militärdiktatur unter Skoropansky zeigte: Nicht wenige Ukrainer sympathisierten als Kommunisten oder Sozialdemokraten mit den Bolschewiken, wieder andere wünschten sich im Stile einer kleinrussischen Identität eine Anknüpfung an Russland. Die Westukraine war ideologisch homogener und militärisch schlagkräftiger, doch zahlenmäßig zu klein, um allein gegen Polen zu bestehen.

Und damit begann für die Ukraine die sowjetische Ära.

Am nächsten Sonntag veröffentlichen wir den finalen Teil 3 dieses Explainers.

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